„Sie wollen gehasst werden“

Die in Paris lebende Historikerin Diana Pinto hält nichts vom Alarmisten, die einen neuen Antisemitismus oder einen zweiten Holocaust an die Wand malen. NU erklärte sie, warum sich Juden heute anders definieren müssen als als bedrohtes Volk.
Von Danielle Spera (Interview) und Christian Müller (Fotos)

NU: Die Erfolge der Rechtsnationalistin Marine Le Pen bei den französischen Wahlen und der Einzug der griechischen Neonazis ins Parlament haben Europa schockiert. Sehen Sie eine Gefahr für eine offene und pluralistische Gesellschaft?

Pinto: Die beiden sind unvergleichbar. Wir haben zwar rechtsextreme Parteien, die stark gewonnen haben, doch die griechischen Neonazis haben eine andere Agenda als sagen wir Marine Le Pen. Beide sind natürlich verachtenswert. In Frankreich gibt es eine neue Generation an potenziellen Wählern rechtsextremer Parteien. Für sie sind die Araber, die muslimischen Franzosen ein Thema. Die jugendlichen Arbeitslosen sehen die muslimische Bevölkerung als Feindbild. Antisemitismus ist für sie kein Thema. Die Schoah ist für sie ferne Geschichte und außerdem sind sie keine Nazis. Man muss klar unterscheiden, um welches Land es sich handelt. Jedes Land hat seine eigene Vergangenheit. In Griechenland gab es die Militärdiktatur, Kommunismus. Seit Jahren steckt Griechenland in einer tiefen Wirtschaftskrise, dadurch kommen Vergleiche zu den 1930er- Jahren auf, natürlich nur in einem psychologischen Sinn.

Welche Auswirkungen hat der Aufstieg der Front National in Frankreich?

An der Spitze der Front National hat es eine Änderung gegeben. Da verfolgt Marine Le Pen nicht mehr die Linie des Vaters. Man muss allerdings auch sehr aufpassen, wenn man sagt, dass Marine Le Pen eine andere Einstellung zu Israel habe als ihr Vater. Bevor Jean-Marie Le Pen die politische Bühne betrat, hatte er eine Schallplattenfirma, die Folksongs produzierte. Er hat auch eine Reihe mit israelischen Liedern produziert. Menschen wie er waren immer von Israel angezogen. Sie sahen in Israel ein starkes Land, das sich von den Arabern nichts gefallen lässt. Das hat ihnen imponiert. Vor allem nach 1967. Das hat ihn aber nicht daran gehindert, gleichzeitg zu behaupten, die Juden hätten zu viel Einfluß oder der Holocaust sei eine Fußnote der Geschichte. Israel ist bewundert worden, aber unter dem Motto: So lange die Juden nicht zu uns kommen, passt das schon. Le Pen war ein meisterlicher Provokateur.

Sie haben gerade angesprochen, dass Le Pen Israel bewunderte, auch vom norwegischen Attentäter Breivik kamen positive Worte über Israel.

Ja, ich frage mich: Brauchen wir solche Freunde? Sie sehen in Israel den einzigen Rammbock gegen den radikalen Islam. Ein Staat, in dem „weiße“ Menschen leben, sie erkennen ja die Falaschas (äthiopische Juden, Anm.) nicht an. Sie bewundern Israel als eine starke Militärmacht, die sich zu verteidigen weiß. Ich habe das Gefühl, dass Israel und viele Juden einen wichtigen Punkt nicht erkennen. Sie konzentrieren sich zu sehr auf das Thema Antisemitismus. Da werden oft die Begriffe mißbräuchlich verwendet. Natürlich gibt es Komponenten von Antisemitismus unter den muslimischen Jugendlichen. Aber zu sagen, dass Europa antisemitisch sei, das heißt nette Ausreden zu finden, um sich nicht mit den eigentlichen Problemen beschäftigen zu müssen.

Geht das so weit, dass man vermeidet – wie Sie es einmal beschrieben haben – „jüdische“ Themen, oder Israel in nichtjüdischer Gesellschaft zu besprechen?

Natürlich gibt es Juden, die es vermeiden, in nichtjüdischer Gesellschaft über Israel zu sprechen. Vermutlich hören sie da Dinge, die sie lieber nicht hören wollen. Ich kann da nur aus einer westeuropäischen Perspektive sprechen. Aber es gibt ja auch keine mitteleuropäische Perspektive. Schauen Sie nur Polen an. Wenn es ein Land gegeben hat, das wirklilch antisemitsch war, dann war das Polen. Dort hat man sich aber mit dieser Vergangeheit auseinandergesetzt. Heute ist Polen auf einem ungleich anderen Weg. Ich sage immer, nicht der Antisemitismus hat den Holocaust in die Wege geleitet. Sonst wären vermutlich die Polen die Haupttäter gewesen. Nein, es war eine verrückte Rassentheorie, die vom damals mächtigsten Land Europas, von Deutschland, ausgegangen ist. Wir müssen verstehen, wo unsere Feinde sind, und wir haben Feinde.

Mir ist es passiert, dass ich in einer Konversation in Wien gesagt bekam, dass die Juden am Irak-Krieg schuld seien.

Nirgendwo in Westeuropa habe ich in Konversationen gehört, dass Juden hinter dem Irak-Krieg gestanden hätten. Österreich ist vermutlich anders. Es ist ein Spezialfall, da es sich nie richtig von seiner Vergangenheit oder vom Antisemitismus gereinigt hat. Aber ich kann nur sagen, dass es ein europäisches Land gibt, das noch schlimmer ist – Ungarn. Österreich hat sich sicher zu wenig mit seiner Vergangenheit auseinandergesetzt. Jedes Mal wenn ich hier bin, spüre ich Strömungen, die von unerledigten Problemen herrühren. Als ich im Jänner hier war und die Ereignisse um den Wiener Burschenschafter-Ball mitverfolgte. In dieser Beziehung fühle ich mich in Deutschland wohler. In Österreich hat es sicher auch mit der Größe des Landes zu tun. Kleine Länder sind fragil.

Hier spüren Sie vielleicht die Strömungen, aber in Frankreich, wenn wir nur an die Morde von Toulouse denken, oder in Deutschland an die Neonazi-Morde, da herrscht Gewalt.

Ja, hier haben wir Konversation, dort Kugeln. Es gibt immer die Gefahr, dass ein Einzelgänger durchdreht. Juden sind als Symbol sichtbar. Es gibt 14 Millionen Juden auf der Welt. Das ist weniger als die statistische Fehlerquote in der chinesischen Volkszählung. Dennoch konzentriert sich immer alles auf die Juden. Ich möchte die Gefahr nicht unterschätzen. Aber es gibt keinen Staat in Europa, der Antisemitismus als Ideologie hätte oder dessen Einrichtungen diese Strömungen unterstützen würden. Nicht einmal in Ungarn, dort spielen sie mit der populistischen Karte. Aber Orbán ist viel zu intelligent. Es existieren freundliche Beziehungen zu Israel. Jobbik ist da schon etwas anderes. Wenn es mehr Moslems in Ungarn gäbe, würde man sich darauf konzentrieren. Ungarn ist ein Land, das die Ergebnisse von Trianon nie verdaut hat (Anm. der Red: Der Friedensvertrag von Trianon besiegelte nach dem 1. Weltkrieg, dass zwei Drittel des Territoriums des historischen Königreichs Nachbarund Nachfolgestaaten zufielen). Ich finde, das sind kranke Gesellschaften, die ihre Vergangenheit nicht bewältigt haben. Dagegen müssen wir kämpfen.

Sie hören – auch bei den Entwicklungen in Ungarn – keine Alarmglocken?

Wir als Juden werden weiter existieren. Ich bin aber auch überzeugt davon, selbst wenn Israel Frieden mit allen arabischen Staaten schließen würde, gäbe es kein Ende der Anwürfe und Ressentiments. Die Juden sind eine kleine, erfolgreiche und überwältigend präsente Minderheit mit diesem riesigen symbolischen Horror hinter sich, der jetzt musealisiert und monumentalisiert wird. Natürlich macht es eifersüchtig zu sehen, dass Juden immer und überall präsent sind. Das haben die Leute satt. Leider müssen wir damit leben. Ich bin daher gar nicht optimistisch. Ich glaube, all jene, die sagen, Ihr müsst nur einen palästinensischen Staat neben Israel zulassen, dann werdet ihr in Ruhe leben, irren sich gewaltig. Mein Engagement für eine zwei-Staaten-Lösung ist ungebrochen, auch wenn ich glaube, dass es dafür schon zu spät ist. Unsere Geschichte ist zu lang, als dass wir eine so einfache Lösung erleben werden. Ich sehe kein Happy End, aber im Vergleich zu 1930 leben wir im Paradies, auch wenn wir mit einem geisteskranken Täter wie in Toulouse oder mit fundamentalistischen Terroristen konfrontiert sind.

Sie behaupten, dass die Angst vor Antisemitismus in Europa übertrieben sei. In einem Interview meinten Sie aber, dass Sie vermutlich Angst hätten, wenn Ihr Sohn mit einer Kippa durch bestimmte Gegenden von Paris ginge. Ist das nicht ein Widerspruch?

In der Peripherie von Paris kommt es manchmal zu antisemitischen Ausschreitungen. Allerdings ist dort viel geschehen. Es gibt einen moslemisch- jüdischen Dialog. Filme beschäftigen sich mit der gemeinsamen Vergangenheit. In den öffentlichen Schulen kommen Juden und Muslime zusammen. Frankreich ist in einer heikleren Position als z.B. Großbritannien oder Deutschland, denn seine muslimischen Zuwanderer sind Araber, in Deutschland sind die Türken, in Großbritannien kommen sie aus dem asiatischen Raum. Die neuen Zuwanderer haben eine leidenschaftliche Verbindung mit ihrer Heimat. Durch die Führung der Muslime und der Juden gab es ein Aufeinanderzugehen. Nach den Morden von Toulouse hat die muslimische Führung die Tat aufs Schärfste verurteilt. Heute gibt es auch eine strenge Gesetzgebung bei antisemitischen Übergriffen. Gleichzeitig verharren die ultraorthodoxen Juden in einer Verteidigungshaltung. Sie leben in ihrer eigenen Welt. Sie betrachten ihre Umgebung durch den Blick aus dem Warschauer Ghetto. Ich finde das respektlos gegenüber den wirklichen Opfern des Horrors. Jeder der behauptet, wir durchleben wieder solche Zeiten, lässt Respekt vermissen.

Diese Gruppe wird aber größer.

Ja, und es gibt ihnen eine starke Identität. Sie wollen nicht geliebt werden, sie wollen gehasst werden und sie genießen es, unter dem Eindruck zu leben, dass sie in Bedrohung leben. Aber da gibt es Grenzen. Niemals hat es in Europa ein derart perfekt funktionierendes jüdisches Leben gegeben wie heute, gleichzeitig hört man ständig Pessimismus. Wenn jemand aus dem 18. Jahrhundert heute in eine jüdische Gemeinde käme, würde er glauben, er sei im Paradies gelandet. Ja, wir sind mit ausgerasteten Extremisten konfrontiert, die einen Vater und seine Kinder vor einer Schule erschießen. Aber das müssen wir als das nehmen, was es ist und nicht von Vorboten des neuen Horrors sprechen. Ich kann nicht akzeptieren, dass Antisemitismus und die Schoah banalisiert werden. Das würde die Opfer verhöhnen.

Man hört jetzt immer wieder das Argument, dass die aktuelle wirtschaftliche und Währungskrise in Europa schon bald mit der Situation in den 1930er-Jahren vergleichbar sein wird – auch mit dem Auftauchen neuer radikaler politischer Bewegungen.

Wir erleben keine Wiederholung der 1930er-Jahre. Das ist meine Überzeugung als Historikerin. Wir sind wie verwöhnte Kinder. Die Griechen haben zwanzig Prozent ihrer Einkommen verloren. Aber denken Sie an die 1930er-Jahren, da hatten die Menschen gar kein Einkommen. Es ist die erste große Krise, die wir seit dem Zweiten Weltkrieg meistern müssen, daher sind die Menschen darauf nicht vorbereitet. Wenn wir den jüdischen Aspekt ansehen: Es wird dadurch die jüdische Welt nicht dezimiert. Juden leben auf der ganzen Welt. Europa ist nicht mehr das Zentrum des jüdischen Lebens. Ich würde keinen Vergleich wagen, zwischen dem staatlich gesteuerten Antisemitismus der Massenbewegungen und den heutigen Spurenelementen des Antisemitismus, die vielleicht aus Neid entstanden sind. Meine leider nicht rosige Einschätzung ist, dass unsere Gesellschaft a-semitisch wird. Die Menschen sind nicht antisemtisch oder philosemitisch. Sie sagen: Ja, da gibt es Juden, die wollen ihre eigenen Sachen machen, ok, sollen sie. Aber warum sollen wir dann ständig über sie reden? Müssen wir sie ständig verstehen, müssen wir sie ständig beschützen? Ich bin doch eher an Buddhismus interessiert und will nach Tibet gehen. Also lasst mich doch endlich mit der Schoah oder Israel zufrieden. Ich lasse sie leben und sie sollen mich leben lassen. Es ist für viele Juden erschreckend: Die Idee, die Juden könnten unsichtbar werden. Daher ergreift man jede Gelegenheit, um darauf hinzuweisen: Man will uns auf den Straßen von Toulouse töten, die Neonazis in Deutschland sind hinter uns her, Jobbik will uns an den Kragen. Es ist, als ob wir das für unsere Identität bräuchten. Ich finde das sehr gefährlich.

Das heißt, sich neu zu definieren.

Eines der wichtigsten Dinge, um jüdisches Leben in Europa zu erneuern, ist, dass andere Gründe jüdisch zu sein überwiegen – positive Gründe, kulturelle, ethische, philosophische, religiöse. Das würde gleich einen großen Unterschied machen. Ich will nichts herunterspielen, aber ich habe manchmal das Gefühl, wir leben heute in einer verkehrten Welt. Vor der Schoah mussten sich Juden, wenn sie aus dem Haus gingen, vor Diskriminierung und Verfolgung fürchten. Wenn sie wieder zu Hause waren, konnten sie sich ruhig und sicher fühlen. Heute leben wir ein normales Leben, wenn wir aus dem Haus gehen, aber wenn wir zurück in unsere Gemeinden kommen, werden wir gequält. Da können wir dann unsere jüdische Angst ausleben. Gehen wieder dann aber wieder hinaus, sind wir wie alle anderen auch. Das heißt, wir sind da in zwei verschiedenen Welten.

Wenn Sie Unsichtbarkeit ansprechen, das geht aber nicht weit genug, denn die Medien schreiben weiterhin ständig über Israel, als ob es keinen anderen Krisenherd gebe.

Ich sprach von der Zivilgesellschaft. Was die Medien anlangt, kann ich nur sagen, dass in Frankreich, wo ich lebe, das Thema ständig von jüdischen Journalisten selbst kommentiert wird. Die Medien in Frankreich haben es schon satt, ständig über einen Konflikt zu berichten, für den es ohnedies keine Lösung zu geben scheint. Ich habe den Eindruck, dass es den Journalisten um ganz andere Themen geht. Ich bin erstaunt, wie viele jüdische Verteidigungsseiten es im Internet gibt, die sogenannten Jewish Defense Sites. Da wird jeder Satz interpretiert, ob nicht vielleicht doch etwas Antisemitisches drinnenstecken könnte. Da muss man schon sehr aufpassen, dass man nicht übertreibt. Wenn wir über Israel-Kritik sprechen, dann ist das, was die europäischen Zeitungen schreiben Peanuts im Vergleich zu dem, was in der israelischen Zeitung „Haaretz“ steht. Aber da ist es ja von nichtjüdischen Journalisten geschrieben und daher spricht man gleich von einem Auftakt zu Auschwitz. Aus dieser Falle müssen wir heraus. Bitte laßt uns doch die Dimensionen im Auge behalten, sonst rufen wir ständig, „Wolf, Wolf, Wolf“, obwohl keiner da ist. Aber vielleicht kommt eines Tages dann tatsächlich ein Wolf und alle sind ob unserer ständigen Rufe schon ermattet und kommen nicht mehr zu Hilfe. Und das ist schlecht für die Juden. Wir packen das Problem völlig falsch an.

Österreich ist da sicher anders. Da berichten die Medien weiterhin ständig über Israel und viele jedenfalls nicht ausgewogen.

Ich kann die österreichische Situation nicht beurteilen, dazu kenne ich sie zu wenig. Aber ich beobachte Großbriannien seit Langem. Dort erlebe ich tatsächlichen Antizionismus und den Wunsch, dass Israel besser nicht existierte. Großbritannien, das keine Holocaust-Schuld auf sich geladen hat, behandelt Israel aus einer post-kolonialen, postimperialen Position. Ich glaube, es gibt kein Land in der westlichen Welt, das derartige Positionen gegenüber Israel einnimmt wie Großbritannien. In diesem Kontext ist festzuhalten, dass es kein Europa gibt. Jedes Land hat eine eigene Geschichte und Gegenwart. Doch auch für die österreichische Perspektive gilt, Kritik nicht sofort als Antisemitismus zu werten, da gerät man leicht in eine Falle, in eine Spirale, aus der man schwer herausfindet.

Wie beurteilen Sie die jüngsten Ereignisse in Israel, die Vorfälle radikaler Religiöser, die sich Übergriffe leisten?

Wir hören jetzt immer von diesen Skandalen. Aber tatsächlich hat sich Israel gewandelt. In einer sekulären Gesellschaft gibt es jetzt stärkere religiöse Komponenten, aber auch die Orthodoxie nimmt am modernen Leben teil. Die kleine, sehr radikale Gruppe wird auch von der Orthodoxie in Israel scharf kritisiert. Das sollte man in einem demokratischen Kontext gut lösen können, wie in jeder Demokratie extremistische Tendenzen bekämpft werden sollen – mit der komplexen Situation, dass Israel keinen offiziellen säkularen Raum hat. Von diesem Standpunkt aus gesehen ist Israel nur teilweise eine Demokratie. Ein Platz, an dem man ohne religiöse Identität eigentlich nicht sein kann. Denken Sie nur an die Zivilehe, die es in Israel nicht gibt. Ich glaube nicht, dass es eine große Auseinandersetzung zwischen Religiösen und Säkularen geben wird. Die Radikalen werden zurückstecken müssen. Ich mache mir keine Sorgen, es gibt dort eine starke Zivilgesellschaft, voller Probleme, aber stark und lebendig. Alles in allem ist die Gesellschaft religiöser geworden.

Sie haben eine Menge über die jüdische Identität in Europa nach dem Zusammenbruch des Kommunismus publiziert. Ihre These ist, dass Europa zur dritten Säule der jüdischen Identität auf der Welt, am Kreuzungspunkt einer neu verstandenen Vergangenheit und einer pluralistischen und demokratischen Zukunft werden könnte. Wie sehen Sie das heute?

Es gibt Juden in Europa, aber es gibt keine europäisch-jüdische Identität, denn es gibt momentan auch kein Europa als solches. Jedes Land taucht in seine eigene Geschichte der nationalen Identität ein, egal, von wo man gekommen ist. Juden aus dem Maghreb überdenken die Kraft und Kontinuität der alten französischen Israeliten, sowjetische Juden entdecken die Geschichte und den Reichtum des deutschen Judentums vor der Schoah, libysche Juden lernen über das italienische Renaissance-Judentum. Wir haben also eine Trennung von der orthodox-zionistischen Position, der zufolge die Juden in Europa wie Lämmer in die Gaskammern von Auschwitz marschiert sind, weil sie zu assimiliert waren. Die Neubewertung der jüdischen Geschichte ist ein wichtiger Schritt, um zu verstehen, dass diese Leute ihre Jüdischkeit nicht verloren haben, sie haben für die Rechte in der jeweiligen Gesellschaft gekämpft, in der Hoffnung, es sich würde aus dem Nationalen eine europäische Position herauskristallisieren. Aber warum sollen die Juden europäischer sein als die Europäer. Ich mache da keinen Schritt zurück, aber ich sehe das Realitätsprinzip, das besagt, dass man sich mehr in der nationalen Vergangenheit verankert fühlt. Ich weiß nicht, wie das in Österreich gesehen wird, aber es gab eine Verbindung zwischen den Juden und dem Habsburgerreich. Heute gibt es eine Neubewertung der großen Rabbiner, der Intellektuellen, des Gemeindelebens, die dem klassischen zionistischen Bild des Diaspora-Juden, der nichts versteht und wie gelähmt in die Tragödie taumelt, widerspricht. Das ist auch wichtig für Israel, zu erkennen, dass nicht alles schwarzweiß ist. Ich denke, es gibt in den europäischen jüdischen Strukturen ein ziemliches Versagen. Die nationalen jüdischen Organisationen haben das nicht ernst genug genommen. Es ist ganz anders als in den USA. Es genügt nicht, ein russischer Millionär zu sein, um Präsident einer großen europäisch-jüdischen Vertretung zu sein. Russland ist nicht Europa. Hat man da jeden Respekt vor einer europäischen Idee verloren? Ich finde diese Entwicklung gefährlich. Sie zeigt, dass die jüdischen Gemeinden die europäische Nachkriegsperiode nicht ernst genug nehmen.

Sie haben gehofft, dass sich nach dem Zerfall des Kommunismus in Europa eine jüdische Identität entwickelt?

Das hätte geschehen können. Ich war optimistisch, aber eigentlich in einem Sinn, dass man einen neuen jüdischen Lebenszyklus entwickeln könnte. Um Israel und seinen paranoiden Blick auf die Welt zu beruhigen. Leider hat sich keine starke europäisch-jüdische Präsenz entwickelt. Vielleicht wollten das die USA und Israel auch verhindern. Wenn in Israel Konferenzen stattfinden, dann wird den Stimmen aus Europa ein Bruchteil an Redezeit überlassen. Das ist sicher ein Symbol. Gleichzeitig erleben wir eine Renaissance von jüdischem Leben. Vom Studium der Tora bis zu jüdischer Küche. Ich bin in den USA aufgewachsen. Als ich nach Italien zurückkam, hatte ich einen Schock, da war nichts an Jüdischem, keine Geschäfte, nichts. Außer einem Büro, wo man sich für die Auswanderung nach Israel anmelden konnte. Heute ist das anders, die jüdische Geschichte in Europa wird anerkannt. Synagogen, Friedhöfe werden renoviert, es gibt jüdische Musikfestivals, überall jüdische Museen. Das sollte man als Fortschritt sehen. Ein wichtiger Fortschritt für Europa und seine jüdischen Gemeinden. Doch am meisten zählt, dass sich jüdisches Leben fortsetzt.

Sie schreiben über multiple Identitäten und Loyalitäten, nicht nur für Juden. Mehrfache Loyalitäten sind jedoch nur möglich, wenn Menschen sich wie loyale Bürger verhalten, die demokratischen Regeln und rechtlichen Rahmenbedingungen der jeweiligen Länder anerkennen – das ist leider manchmal nicht der Fall.

Es ist eine Frage der Zeit. Vielleicht leben wir jetzt in einer Zeit der Extreme. Die jungen Leute werden sicher auch erwachsen werden. Gesellschaften würden besser funktionieren, wenn Menschen nicht hundertprozentig etwas Bestimmtes sein wollen. Man ist ja so viel in einer Person: Mutter, Ehefrau, Kind, steht im Berufsleben, ist religiös. Mit diesen verschiedenen Identitäten kann man auch Spannungen verringern. Wenn man arbeitslos ist, diskriminiert und als wertlos betrachtet, das heizt den Wunsch, einmalig zu sein, an. Da trifft die Wirtschaftskrise die jungen Leute und es ist kein Zufall, dass sich junge Leute den extremen Parteien zuwenden. Sie glauben, dass die etablierten Parteien ihnen keine Chancen mehr bieten. Gleichzeitig ist Frankreich stark von seinen Zuwanderern beeinflußt, die Kultur, die Lebensform ist von der Einwanderung geprägt. Nach dem Wahlsieg von Hollande sah man junge Leute, die die algerische Fahne geschwenkt haben. Manche sahen darin ein antisemitisches Statement, ich sage, das ist Teil ihrer Identität. Da gab es syrische Fahnen, aber das sind die Assad-Gegner. Da ist eine Mischung der Identitäten, dafür ist eine freie Gesellschaft nötig, die Ankommende willkommen heißt. Wenn das Gebäude in der Vergangenheit ruht, kann man schwer eine nach vorn gerichtete Gesellschaft etablieren. Da mache ich mir für Zentral- und Osteuropa Sorgen. Nicht für alle Länder, Polen etwa ist eine Ausnahme. Da kommt auch die Demografie ins Spiel. Ich glaube, dass Länder, die früher riesige Reiche waren und heute amputiert sind, lange unter ihrer Vergangenheit leiden. Österreich oder Ungarn. Mit Sicherheit war das das eigentliche Drama des Ersten Weltkrieges. Die Schoah war nur eine Folgeentwicklung. Im Ersten Weltkrieg waren Menschenleben nichts wert. Da wurde mit Gas angegriffen und da konnte man dann Bewegungen etablieren, wo Menschenleben nichts wert waren. Diese Länder müssen mit den heutigen Problemen umgehen, haben aber noch ihre ungelösten Probleme und Geister aus der Vergangenheit. Damit muss man sich auseinandersetzen. Das ist schmerzhaft, aber es muss sein. Nicht von den Juden oder einer anderen Gruppe, es müssen die Österreicher tun.

Diana Pinto (geb. 1949) ist eine in Paris lebende Historikerin und Schriftstellerin. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehört die Entwicklung der jüdischen Gemeinden in Ost- und Westeuropa nach dem Wendejahr 1989. Sie ist mit dem französischen Politikwissenschaftler, Autor und Publizisten Dominique Moïsi verheiratet.

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