Reformjudentum als Randerscheinung

„Verglichen mit den USA führt „Or Chadasch“ in Wien eine Randexistenz. Schuld daran ist sicher nicht die Gemeinde.“
Von Martin Engelberg

Obwohl die Reformgemeinde „Or Chadasch“ in Wien bereits seit 17 Jahren besteht, ist sie im jüdischen Leben Wiens unbedeutend geblieben und hat relativ wenige Mitglieder. Dies, obwohl sie seit einigen Jahren sogar durchaus eine gewisse Unterstützung durch die Kultusgemeinde erhält und eigentlich das gleiche Potenzial an Mitgliedern der jüdischen Gemeinde anspricht wie der Stadttempel und das sind immerhin 1.000 bis 1.500 Personen.

Verglichen mit den USA, wo sich ja bereits die Mehrheit der Juden zu Reformgemeinden zugehörig fühlt, führt „Or Chadasch“ in Wien eine Randexistenz. Schuld daran ist sicher nicht die Führung dieser Gemeinde — diese ist vielmehr sehr engagiert tätig. Die Tatsache, dass Oberrabbiner Eisenberg im Stadttempel, im Rahmen des dort geltenden orthodoxen Ritus — wie er im letzten NU sagte — „an den Rand des Möglichen geht“ und „ein Maximum an Erleichterung“ anbietet, nimmt der Reformgemeinde sicherlich schon einiges an Potenzial weg.

Den allergrößten Einfluss darauf, wodurch sich die Menschen von einer Bethausgemeinde angezogen fühlen, haben jedoch die dort vorherrschenden, ganz bestimmten Rituale, eine spezifische Atmosphäre, die Art der Gesänge, die im Gebet verwendete Sprache usw. und diese emotionale Verbundenheit ergibt sich durch die gelebte Tradition der Eltern und Großeltern und das Aufwachsen in einer bestimmten Gemeinde. Nachdem der absolut überwiegende Teil der aschkenazischen Juden in Wien in der ersten und zweiten Generation von Juden aus Ungarn, Polen, Rumänien, der Ukraine usw. — also dem Kerngebiet des orthodoxen und des überwiegend chassidisch-orthodoxen Judentums — stammt, liegt die bedeutend größere Affinität zum orthodoxen Ritus auf der Hand. Dies im Gegensatz zu den USA, wo Juden bereits seit mehreren Generationen in sich konstant weiter reformierenden Gemeinden leben, aufwachsen, sich sozialisieren.

Dazu kommt, dass die allermeisten aschkenazischen Juden in Wien Überlebende der Shoa bzw. deren unmittelbare Nachkommen sind und dementsprechend in ihrem Glauben erschüttert wurden. Dies hat bei einem Teil dieser Menschen dazu geführt, sich von der Religion gänzlich abzuwenden, und sie fühlen sich auch von einer Reformgemeinde, die ja auf den Glauben besonders pocht, ja pochen muss, noch weniger angesprochen.

Andere Überlebende der Shoa, die dem jüdischen Gemeinschaftsleben mehr verbunden blieben, begegnen der Erschütterung des Glaubens durch besonders starkes Festhalten am orthodoxen Ritus.

Wenn dann die Einhaltung der Schabbat-Gesetze aufgegeben wird, sehr viel auch in Deutsch oder Englisch gebetet wird, ganz andere Gesänge verwendet werden, es egal ist, in welche Richtung man betet, usw., dann bewirkt die Reform verständlicherweise Verunsicherung und Ablehnung. Da kann dann auch die dem emanzipatorischen Anspruch gerecht werden wollende — manchmal sogar etwas verkrampft wirkende — Gleichstellung von Frauen und Männern in den Reformgemeinden wenig zu ihrer Attraktivität beitragen.

Dabei erschiene ja die Haltung des Reformjudentums ehrlicher: Warum sollen wir Rituale aufrechterhalten, die wir eigentlich mit den sonstigen Werten einer modernen Gesellschaft nicht in Einklang bringen können und obendrein weitgehend gar nicht einhalten. Bei näherem Hinsehen merken wir aber sehr bald, dass alle neuen Regeln letztlich nur willkürlich sind, auch wieder nur als mehr oder weniger sinnvoll erachtet und ebenso unterschiedlich eingehalten werden.

Daher liegt — zumindest in Kontinentaleuropa — das Reformjudentum den emotionalen Bedürfnissen der großen Mehrheit der hier lebenden Juden nicht näher und wird daher auch weiterhin nur eine Randerscheinung bleiben.

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