Rabbiner Jacob Biderman

„Jiddischkeit ist viel umfassender. Es ist eine Geschichte der Liebe, Sehnsucht, Hingabe zur Thora, zum Lernen.“
Von Martin Engelberg (Text) und Peter Rigaud (Fotos)

NU: Was bedeutet Judentum und Jiddischkeit für dich?

Biderman: Judentum ist nicht nur beschränkt auf Religion. Religion ist ein ausgeborgter Begriff von anderen Kulturen, dem Christentum. Jiddischkeit ist viel umfassender. Religion wäre zu reduzierend, zu beschränkend. Jiddischkeit ist eine Geschichte der Liebe, hat auch alle Komponenten der Liebe. Großes Glück, Sehnsucht, Hingabe, Leidenschaft und Liebe zur Thora, zu Haschem (G’tt), zum Lernen, zu den Glaubensbrüdern zum jüdischen Volk – zu seiner Geschichte und Tradition, zur Menschheit überhaupt. In diesem Geist geht es dann nicht nur um eine Synagoge, es geht auch um soziale Unterstützung, darum, eine gute Gesellschaft zu schaffen.

Wie ist dein Zugang zu den Menschen, welche die Shoah überlebt haben und Probleme mit ihrem Glauben bekommen haben?
Ich habe selber im Jahr 1977 erlebt, wie der Rebbe zu diesem Thema Stellung genommen hat. Er hat mit enormem Schmerz gesprochen und ist auch mehrere Male in Weinen ausgebrochen. Es war sehr emotionell. Der Rebbe hat erwähnt, dass er jemanden gebeten hat, Tefillin zu legen, und der sagte ihm, wie könne er Tefillin legen, da er seinen Vater gesehen hatte, wie er mit Tallit und Tefillin in die Gaskammer ging und G’tt hat seine Gebete nicht erhört. Der Rebbe sagte, dass diese Frage – Wo war G’tt? – nicht nur eine legitime Frage ist, sondern eine Frage, die wir laut fragen sollten. Weil der Talmud erzählt, dass zur Zeit der Verfolgungen unter den Römern, als das Fleisch von Rabbi Akiba am Markt verkauft wurde, soll Mosche Rabbenu (Moses) im Himmel geschrien haben: ‚Ist das die Belohnung für das Lernen der Thora?’ Da sagte der Rebbe tränenerstickt, wenn Mosche Rabbenu diese Fragen stellen durfte, dann dürfen, ja dann sollen wir auch diese Frage stellen. Aber diese Frage ist allerdings eine, auf welche wir keine Antwort bekommen können oder erwarten dürfen. Denn wie kann ein menschlicher Verstand den unendlichen Plan G’ttes verstehen. Der Rebbe sprach dann zu dieser Person und sagte, dass niemand das Wesen, die Seele seines Vaters umbringen könne. Er solle wissen, dass die Seele seines Vaters lebe, ihn beobachte vom Himmel, ob sein Sohn auch auf seinem Weg gehe, und sich frage: Ich bin sogar in die Gaskammer mit Tefillin gegangen, wird mein Sohn morgen Tefillin legen?

Wie vermittelst du Menschen den Glauben?
Glauben ist sowieso eine individuelle Sache. Das hebräische Wort Emunah wird zwar heute als Glaube verstanden, aber im ursprünglichen Sinn – in der Beziehung zwischen Mensch und G’tt – ist Emunah eine Art von Wahrnehmung, Verinnerlichung, ein Sich-Öffnen. Ich glaube, wenn Menschen Jiddischkeit erfahren, auch im Handeln, einen Schabbes, ein Teilnehmen an einem Feiertag, einen Sederabend – so versöhnen sie sich mit G’tt. Dann braucht man gar nicht diskutieren oder philosophieren über den Glauben, über etwas, was ohnehin über unseren Verstand geht und wo ohnehin, auf dieser Ebene, niemand Recht haben kann. Aber man kann solchen Menschen wieder eine Tür öffnen und ich glaube, dass sich dann die Seele wieder öffnet. Es gibt von Jehuda Halevi den Ausspruch, dass nicht nur der Mensch G’tt sucht, sondern auch G’tt den Menschen – und wenn wir uns nur ein bisschen zu G’tt öffnen, dann kommt sofort ein Entgegenkommen.

Welches ist deiner Meinung nach das beste Rezept, um der Assimilation zu begegnen?
In erster Linie Wissen zu vermitteln, das muss man schon sagen. Man kann die Basis, das Wissen, nicht als sekundär betrachten. Wenn man weiß, versteht was, Jiddischkeit überhaupt ist, dann sind viele Vorurteile abgebaut und es spricht sehr an. Wir sind letztendlich das, was wir wissen, das, was wir verstehen, was wir lernen.

Es gibt die Kritik an den Lubawitschern, dass sie wie eine Sekte seien, die sukzessive alle Gemeinden in Europa übernehmen würde. Zu Recht?
Lubawitsch vertritt, wie viele andere Segmente des Judentums, Jiddischkeit so, wie sie ist, im Sinne der Halacha und im Sinne der Tradition. Wenn man Jiddischkeit als Sekte betrachten will, dann ist Lubawitsch Teil dieser Sekte. Es gab sogar Leute, dieMaimonides zu seiner Zeit als außerhalb des Judentums stehend bezeichneten. Was heißt, Gemeinden übernehmen? Lubawitsch hat in erster Linie eine geistige, vielleicht eine gesellschaftliche, soziale Aufgabe, aber Lubawitsch hat nie mit politischen Methoden operiert. Auch hier in Wien haben wir keine eigene Partei im Kultusrat. Der Lubawitscher Rebbe hat immer gesagt, man solle allgemein in der Gemeinde beitragen und nicht einen eigenen Bereich schaffen – und die Frage ist, was gibt es zu übernehmen?

Wie ist jetzt die Situation in Wien?
Ich denke, dass es in letzter Zeit besser wird. Es gab eine Zeit, wo man wirklich spürte, dass nicht nur die Mitglieder der Gemeinde, sondern auch die Führung sehr positiv und unterstützend gegenüber unserer Arbeit waren. Dann gab es eine Welle, wo einzelne Personen, die sehr einflussreich waren, in uns eine Konkurrenz sahen – und jetzt sind wir wieder dort, wo es ausgeglichen ist.

Im November sind Wahlen in der Kultusgemeinde. Tangiert dich das?
Gar nicht.

Was ist dein Resümee von 27 Jahren Leben in Wien?
Wien ist vom Potenzial her eine wunderbare Stadt. Wir können stolz darauf sein, wie hoch der Prozentsatz von Kindern ist, die jüdische Bildung erhalten. Ich glaube, dass wir nach Melbourne und Antwerpen auf dem dritten oder vierten Platz in der Welt sind. Und darauf kann man stolz sein. Wien hat eine wunderbare Infrastruktur, die nicht nur 8.000 sondern 80.000 Juden bedienen könnte.

Würdest du eine Einwanderung von Juden befürworten?
Juden, die sich in kleinen Ortschaften befinden, wo es überhaupt keine Chance gibt, Jiddischkeit zu bekommen, und ihre Nachkommen Gefahr laufen, assimiliert zu werden, ihre Identität zu verlieren, diese sollten angesprochen werden. Wir können ihnen hier viel anbieten, ein Elternheim, alle möglichen Schulen, einen Sportklub, Jugendbewegungen; kulturelle Angebote – da gebe ich dir Recht – gibt es eher weniger, aber insgesamt hat Wien sehr viel anzubieten.

Gibt es einen Nachfolger für den Lubawitscher Rebben?
Nein, eigentlich nicht. Das ist so ähnlich wie nach dem Ableben vom Ba’al Shem Tow (Begründer des Chassidismus). Man kann sagen, dass es hunderte Nachfolger gab, die seinen Geist, seine Lehre, seine Schule verbreitet haben, aber es gab keine Bewegung, die das fortsetzte. Er hat eine Lehre in die Welt gesetzt, und jeder ist sein Nachfolger, wir alle können seine Nachfolger sein. Eigentlich kann man das auch über Mosche Rabbenu sagen, und wir alle sind seine Schüler und gewissermaßen seine Nachfolger. Der Lubawitscher Rebbe war ein großer Geist, den wir nach der Shoah sehr dringend gebraucht haben, und wir alle sind gewissermaßen seine Schüler. Es muss nicht in einer Person verkörpert sein. Es ist üblich, dass sich bei chassidischen Strömungen eine Dynastie bildet, aber es muss nicht sein. Was zählt, sind die Lehre, die Werte, das Leben, das wir weiter leben.

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