Rabbi Joshua in Oberbayern

Die Passionsspiele von Oberammergau sind vom Hort des Antisemitismus zu einem Symbol jüdisch-deutscher Versöhnung geworden.
Von Eric Frey (Text) und Brigitte Maria Mayer (Foto)

Spätestens dann, wenn Jesus beim Letzten Abendmahl die Kerzen in einer Menora gezündet und im perfekten Hebräisch die Segenssprüche auf den Feiertag, Brot und Wein gesprochen, müsste es jedem Zuschauer klar sein: Die Passionsspiele von Oberammergau 2010 haben mit ihrer antijüdischen Tradition radikal gebrochen. Viel zu lange war die kleine Gemeinde in Oberbayern Symbolort für den anhaltenden, unverbesserlichen Antisemitismus der Deutschen. Seit Jahrhunderten wurden alle zehn Jahre Jesus Christus’ letzte Tage von Dorfbewohner so dargestellt, wie es die Christen immer schon gewohnt waren: Mit dem teuflischen Verräter Judas, einer hinterlistigen Tempel Priesterschaft und einem jüdischen Pöbel, der mit seinem Gejohle Jesus zum Tod am Kreuz verdammt. 1633 hatten die Oberammergauer das Gelübde zu diesem Spiel abgegeben, um ihr Dorf vor der Pest zu bewahren, und nach dem Verbot vieler anderer ähnlicher Passionsspiele in der Zeit der Aufklärung wurde Oberammergau zum kulturell-religiösem Unikat, zu dem Besucher aus aller Welt pilgerten. Hitler lobte die Spiele als „Fels inmitten des jüdischen Geschmeißes und Gewimmels“. Das Nachkriegsdeutschland knüpfte am alten Text und der traditionellen Inszenierung einfach an, und als ab 1950 die internationale Kritik am antijüdischen Spektakel immer lauter wurde, verschlossen die Oberammergauer einfach ihre Ohren. Minimale Textänderungen änderten nichts am Grundtenor des „Juden töten Jesus“-Spiels. Erst im Vorfeld der Passionsspiele 1990 kommt es zur Wende: Der 25-jährige Bildhauer Christian Stückl wird neuer Spielleiter, holt sich jüngere Darsteller und eliminiert in Absprache mit jüdischen Organisationen wie der Anti-Defamation League die krassesten antijüdischen Textpassagen. Im Jahr 2000 setzt Stückl seine Reformen fort, indem er den Text tiefgreifend verändert und die Charaktere modernisiert. Im dritten Anlauf ist der inzwischen prominente Regisseur noch weiter gegangen und hat aus der christlichen Passionsgeschichte ein fast schon jüdisches Drama gemacht: Jesus als Reformrabbiner, der ein zeitgemäßes, humanistisches Judentum predigt und deshalb das Misstrauen der römischen Machthaber als auch der jüdischen Hohepriester erregt. Aber sowohl die Priesterschaft als auch die Bevölkerung von Jerusalem ist zutiefst gespalten, in keinem Moment sind es „die Juden“, die Jesus in den Tod wünschen. Und Judas wird, wie in vielen modernen Interpretationen, als idealistischer Revoluzzer darstellt, der von Jesus enttäuscht ist, weil dieser keinen Aufstand gegen die Römer probt und nach seinem Verrat an seinen Schuldgefühlen zerbricht. Erst im zweiten Teil der Passionsspiele, als Jesus verhaftet, verurteilt, gequält und gekreuzigt wird, schimmert die christliche Botschaft der Erlösung durch den Tod ein wenig durch. Aber bis zum letzten Augenblick hat man als Zuschauer in dem riesigen Passionstheater das Gefühl, einer Tragödie aus der jüdischen Geschichte hier beizuwohnen. Diese zutiefst philosemitische Interpretation des Kernstücks des christlichen Glaubens genießt die volle Unterstützung des deutschen Feuilletons und auch der katholischen Kirche. Der Erzbischof von München wacht selbst darüber, dass kein antijüdischer Ton aus Oberammergau kommt. Das bayerische Dorf ist dadurch zum Symbol für ein neues Deutschland geworden, eines, das alles tut, um seine schreckliche Vergangenheit hinter sich zu lassen und der Welt ein anderes Bild von sich zu präsentieren – das einer zutiefst demokratischen, humanen und toleranten Gesellschaft, die mit aller Kraft die Aussöhnung mit dem Judentum sucht. Ähnlich wie die Nationalelf bei den letzten beiden Fußball-Weltmeisterschaften alle negativen Klischees über deutsche Verbissenheit Lügen gestraft hat, sind Oberammergau heute das Gegenteil von dem, für das viele sie immer noch halten. Doch das Stück auf der Bühne, das von Mitte Mai bis Anfang Oktober 102 Mal aufgeführt wird, ist nur eine Facette dieser Geschichte. Da ist auch etwa das Publikum, zumeist einfache Bürger aus Deutschland und vielen anderen Ländern, die nach Oberammergau strömen, um ihren Jesus zu sehen und von den Bemühungen der Spielleitung wenig oder gar nichts mitbekommen und nicht einmal erkennen, das Hebräisch gesprochen wird. Folgender Dialog zwischen zwei Besuchern war in der Pause zu hören: „Sie sind schon zum zweiten Mal da. Was hat sich denn verändert?“ „Na ja, vor zehn Jahren wurde im Stück nicht lateinisch gesprochen.“ „Lateinisch? Ich dachte, das sei jüdisch.“ Unmut war an diesem Abend keiner zu spüren, aber die meisten Zuschauer hätten wohl genauso applaudiert, wenn die Juden immer noch als Jesusmörder dargestellt worden wären. Was aber schwerer wiegt, ist die Stimmung im Ort. Dieser ist tief gespalten zwischen den Modernisierern hinter Stückl und den Traditionalisten, die zum alten Text zurückkehren wollen. Der Wirt des Dedlerhauses, eines historischen Gasthofs inmitten des Dorfs, gehört zur zweiten Fraktion. Als ich in der Früh nach der Aufführung mit ihm ins Gespräch komme, bricht es sofort aus ihm heraus. Das alte Spiel sei viel besser gewesen, was nun aufgeführt werde, entspreche nicht mehr dem ursprünglichen Gelübde. Alles sei so gewesen, wie es wortwörtlich in der Bibel steht. Nun aber würden die Juden darüber bestimmen, was die Oberammergauer sagen dürften, dabei sollten die sich doch lieber um ihre eigenen Probleme kümmern und gegenüber den Palästinensern menschlich sein. Die guten Kritiken in der Presse seien gekauft, die Rollen an den Meistbietenden versteigert, und Christian Stückl ginge es nur um seinen Ruhm in München und Salzburg, wo er gleichzeitig den „Jedermann“ inszeniert. Der Wirt ist kein Einzelfall. Rund die Hälfte der 5000 Einwohner von Oberammergau denken so, und die Tatsache, dass heuer viele amerikanische Besucher ausgeblieben sind, könnte Stückls Kritikern Auftrieb geben. Die Vergangenheit ist in Deutschland nie ganz vergangen. Und so erschreckend solche Ausfälle auch sind, in manchem kann man den Zorn des Wirtes – und anderer Oberammergauer – nachvollziehen: Die religiöse Botschaft der Passion ist durch die Rückkehr zu ihren historischen jüdischen Wurzeln verloren gegangen. Dieser Jesus mag sich vielleicht für den (jüdischen) Messias halten, aber sicher nicht für den Sohn Gottes im christlichen Sinn. Trotz der aus den Evangelien übernommenen Dialoge bleibt er selbst bei der eindrucksvollen nächtlichen Kreuzigungsszene ein tragischer jüdischer Rabbi und wird einfach nicht zum Teil der christlichen Dreifaltigkeit. Diese Neuinterpretation durch moderne deutsche Theatermacher, die mit Katechismus nichts mehr am Hut haben, schafft nicht nur für gläubige Christen Probleme. So professionell Stückls Inszenierung auch ist: Warum man sich das Leiden und den Tod eines jüdischen Predigers vor 2000 Jahren sechs Stunden lang anschauen muss, erschließt sich dem Zuschauer der Passionsspiele von Oberammergau nicht.

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