Quelle des Lebens oder lästige Pflicht?

Über kaum ein Thema des Judentums wird heute so viel gesprochen wie über den Besuch der Mikwe, des rituellen Tauchbades. Wieso das so ist, erklärt die Pädagogin und Religionsausbildnerin Michal Grünberger.
Von Danielle Spera (Interview) und Peter Rigaud (Fotos)

NU: Die Mikwe – früher verschämt behandelt, heute viel diskutiert. Woran liegt es, dass man plötzlich ein Thema entdeckt hat, über das man früher nicht zu sprechen gewagt hat?

Grünberger: Ich glaube, dass sich heute das Bewußtsein und die Einstellung vieler Frauen zur Mikwe geändert haben. Es ist viel mehr, als nur in ein Wasser zu gehen und unterzutauchen, es ist eine ganze Lebenseinstellung, eine Ideologie, die dahintersteckt. Die Mikwe ist vielen Menschen ein Begriff, allerdings fangen die wenigsten etwas damit an. Meiner Meinung nach sprechen viele über das Thema Mikwe ohne eine Ahnung davon zu haben, was es wirklich bedeutet.

Es schwanken die Meinungen, wie bei keinem anderen Thema, von Ablehnung bis zu grenzenloser Begeisterung. Das Thema lässt niemanden kalt.

Ich glaube, dass es damit zu tun hat, dass es etwas sehr Tiefliegendes berührt, nämlich das Zusammenleben von Mann und Frau. Natürlich ist das ein heißes Thema, vor allem in der heutigen Zeit, die eigentlich sehr viel Toleranz bietet, in der alles erlaubt ist. Gerade in so einer Welt ist es sehr gesund, wenn man einen Rahmen hat, einen Lebensrahmen. Und das bietet uns die Mikwe.

Für manche Frauen ist die Mikwe eine lästige, strapaziöse, unbequeme Verpflichtung, viele andere sprechen von einem sehr befruchtenden, spirituellen Erlebnis.

Ich glaube, dass es natürlich keine sehr rationale Sache ist. Manche Frauen beginnen schon mit einer ablehnenden Haltung, die sie dann auch nicht leicht überwinden. Man sollte sehr offen auf die Frage der Mikwe zugehen und sich auf sie einlassen. Wenn man das nicht kann, dann wird man die Möglichkeit zu erkennen, welche Emotionen sie weckt, nie erfahren und auch nie erleben. Allerdings gibt es vermutlich auch Frauen, die einmal ein schlechtes Erlebnis gehabt haben und das auch nicht überwinden können oder wollen.

Wenn man die Erlebnisse von Frauen in Mikwaot hört, da gibt es schon eine enorme Bandbreite …

Es hat viel mit der Psyche zu tun. Jeder, der meint, dass es eine rein physische Angelegenheit ist, irrt. Denn es ist etwas sehr Spirituelles, das mit physischer Reinheit gar nichts zu tun hat. Und wenn eine Frau sich mit dem Vorsatz in die Mikwe begibt, dass sie sich in einen anderen Status begibt, eine Wandlung vor sich hat, dann kann man das nur schön erleben.

Im Reformjudentum und im liberalen Judentum wird der Begriff der „rituellen Unreinheit“ vielfach abgelehnt. Deshalb ist bei Reformund liberalen Jüdinnen der Besuch der Mikwe unüblich. Man betrachtet sie als rückständig und frauenverachtend.

Meiner Meinung nach gilt es zuerst zu definieren, was die Worte „rein“ und „unrein“ eigentlich bedeuten. In der Torah ist von Tameh und Tahor die Rede, einer spirituellen Reinheit und Unreinheit. Mit diesen Begriffen sind sehr umfangreiche und komplexe Gesetze der jüdischen Religion verbunden, die sowohl Männer als auch Frauen und sogar Gegenstände und Speisen betreffen. Zur Zeit des Tempels, also bis vor ca. 2000 Jahren, war davon fast jede Alltagshandlung betroffen, da die spirituelle Reinheit eine Voraussetzung für das Betreten des Tempels war. Heute, da der Tempel nicht existiert, können viele dieser Gesetze nicht gelebt werden. In anderen Bereichen des Lebens, wie eben dem jüdischen Familienleben, hat die Idee der sittlichen Reinheit nicht an Aktualität verloren. Man muss dabei auch hervorheben, dass das Wasser in der Mikwe nicht dazu dient, sich physisch zu reinigen. Eine Frau geht dort nicht hin, um sich zu waschen – das Reinigen geschieht davor. Erst danach kann die Frau spirituelle Reinigung im Wasser der Mikwe erlangen. Und die Frau hat das Privileg, sich in einen Status der rituellen Reinheit versetzen zu können, es ist also meiner Meinung nach alles andere als frauenfeindlich.

Frauen gehen erst nach Einbruch der Dunkelheit in die Mikwe.

Frauen-Mikwaot sind während des Tages geschlossen. Der Hintergrund ist, dass der Besuch der Mikwe etwas Intimes ist, dass niemanden etwas angeht, außer einer Frau und ihrem Mann, es wird nicht in die Öffentlichkeit hinaus posaunt.

Andererseits gibt es aus den USA kommend eine starke feministische Bewegung, die die Mikwe für sich entdeckt haben. Für sie ist sie ein spiritueller Ort, ein Ort der Erleuchtung, der nichts mit dem Sexualoder Familienleben zu tun hat.

Den eigentlichen Grund für den Besuch der Mikwe, nämlich das Einhalten der jüdischen Vorschriften zum Familienleben, darf man nicht einfach negieren. Er steht jedoch nicht im Widerspruch zum spirituellen Erlebnis. Auch das braucht eine Frau heutzutage. Sich Zeit für sich zu nehmen, sich um sich selbst zu kümmern, unabhängig von allen äußeren Einflüssen. Ich – und ich alleine. Und das tut gut. In den USA und Israel gibt es Mikwaot mit richtigen Spa-Bereichen, mit Massagen, Maniküre und Pediküre, dennoch verlieren die Frauen dadurch nicht das spirituelle Erlebnis.

Die Mikwe darf man nur völlig rein betreten.

Bevor man in das Wasser hineinsteigt, muss man dafür sorgen, dass nichts an seinem Körper daran hindert, das umhüllende Wasser zu spüren. Man entfernt Make-up, Schmuck und Nagellack und nimmt ein ausgiebiges Bad. Erst dann darf man den Raum der Mikwe betreten und in das Wasser tauchen.

Heute gibt es viele Frauen, die sagen, ich gehe in die Mikwe, weil ich ein einschneidendes Erlebnis hatte, eine Fehlgeburt etwa oder eine überwundene Krankheit, als eine Art Wiedergeburt.

Die Regeln, um in die Mikwe zu gehen, sind sehr klar. Eine Begründung, um in die Mikwe zu gehen, muss man nicht suchen, sie ergibt sich aus den Geboten der Torah. Wenn eine Frau zusätzliche andere Beweggründe hat und sich damit wohlfühlt, kann sie niemand davon abhalten. Wenn Sie von Wiedergeburt sprechen, dann ist das sehr richtig, denn eigentlich kann man die Mikwe auch so erleben wie den Ursprung des Lebens. Wie ein Säugling im Wasser schwebt, so erneuern wir uns jeden Monat im Wasser. Das Wasser ist der Ursprung des Lebens, nicht umsonst ist bei der Erschaffung der Welt das Wasser dominierend. Das Wasser ist unsere Verbindung zu Gott und genau deshalb müssen wir in der Mikwe ganz untertauchen, komplett vom Wasser umhüllt sein. Die Wiedergeburt, die hier passiert, ist absolut. Wir werden jeden Monat wieder vollkommen.

Nach einem Übertritt zum Judentum geht man auch in die Mikwe.

Da erlebt man die Mikwe eigentlich als Besiegelung der Konversion. Hier kommt wieder die Wiedergeburt ins Spiel, man taucht unter als Nichtjude und taucht auf als Jude. Das ist das Endgültige. Das muss ein besonderes Erlebnis sein – dieser Statuswechsel.

Sie sind Ratgeberin für junge Frauen, die vor der Heirat stehen. Wie bereiten Sie Frauen darauf vor?

Eine traditionell lebende Frau muss ab der Hochzeit in die Mikwe gehen und es ist daher sehr wichtig, die Vorschriften zu lernen. Mir ist es aber auch ein Anliegen, den spirituellen Aspekt und die positive Einstellung zu vermitteln. Ich habe schon viele Frauen bei ihrem ersten Besuch in die Mikwe begleitet und es war ganz offensichtlich, dass sie dort diese Spiritualität bekommen haben. Sie sind mit einem Strahlen heraus gekommen. Die meisten Frauen haben das als sehr schönes Erlebnis empfunden. In den schönen Mikwaot von heute muss man das auch fühlen – ein schöner Ort für mich selbst. Natürlich gibt es Frauen, die das anders empfinden, was sehr schade ist. Sie erkennen nicht das Schöne und gehen nur aus Gewohnheit in die Mikwe. Von Zwang oder Demütigung hat mir persönlich aber noch nie jemand berichtet.

Früher waren Mikwaot ja alles andere als einladend. Das kann für die Frauen kein Vergnügen gewesen sein.

Die Geschichte spricht für sich selbst. Frauen haben unter den unglaublichsten Umständen das Gebot, in die Mikwe zu gehen, erfüllt. Wenn sie das unter diesen Umständen eingehalten haben, sagt das sehr viel aus. In der Sowjetunion sind Frauen in geheime Mikwaot gegangen. Oft sind Frauen hunderte Kilometer gefahren, um in die Mikwe zu gehen. Sie haben das Gebot eingehalten – da gab es kein Wenn und Aber. Es war eine klare Angelegenheit. Heute erscheint es uns im Vergleich zu diesen Zeiten wie auf dem Silbertablett serviert. Wir müssen daher besonders schätzen und ehren, wie unsere Mütter das gemacht haben. Oft unter unglaublichen Umständen, in Lebensgefahr. Sie haben nicht auf die Mikwe verzichtet. Das zeigt, wie stark und wichtig die Mikwe ist, sie ist eine der wichtigen Wurzeln eines jüdischen Hauses. Wenn eine Gemeinde neu aufgebaut wird, hat die Mikwe den ersten Stellenwert, noch vor einer Synagoge. Beten kann man auch bei jemandem zu Hause. Eine Mikwe muss gebaut werden. Es gibt beim Bau einer Mikwe viele wichtige Voraussetzungen, die erfüllt werden müssen, viele Auflagen. Die Gesetze sind genau festgelegt, da gibt es keine Interpretationen, keinen Spielraum. Es gibt exakte Vorschriften, die erfüllt werden müssen. Eine Mikwe ist vom Bau her sehr komplex und es gibt Rabbiner, die sich auf dieses Gebiet spezialisiert haben.

Wie ist das mit Geschirr, das muss ja theoretisch auch in die Mikwe.

Wenn man sich neues Geschirr kauft, muss man es in die Mikwe tauchen. Unser Tisch ist wie ein Altar. Wenn man koscher isst, ist das Essen heilig. Man sollte es auch durch das geheiligte Geschirr zu sich nehmen, da geht es um die Heiligung des Materiellen. Das Judentum ist nicht nur eine spirituelle Religion, wo alles im Herzen passiert. Es sollte auch in die Praxis umgesetzt werden. Eine Geschirrmikwe ist klein, man muss alles einzeln eintauchen.

Wie schaut es mit dem Meer aus, gilt das Meer als Mikwe?

Eine Frau kann auch in einem natürlichen See oder Meer untertauchen. In solchen Situationen sollte sie aber zuvor einen Rabbiner kontaktieren.

Wieso ist die Mikwe für Männer eigentlich nicht verpflichtend?

Die Verpflichtung gab es, sie galt zur Zeit des Tempels. Er war für die Reinigung der Männer vorgesehen. Diese Verpflichtung ist aber nicht erhalten geblieben, der Tempel existiert ja auch nicht mehr. Frauen haben das Privileg, diese Reinheit zu erlangen, ein Mann hat das nicht im gleichen Ausmaß.

Was verbindet man Ihrer Meinung nach mit dem Begriff Mikwe?

Ich glaube, die Leute haben ein Bild vor Augen, das falsch ist. Man stellt sich ein mittelalterliches Loch an einer Quelle vor und denkt sich vielleicht, die armen Frauen, die müssen jetzt da hinuntergehen. Das ist aber überhaupt nicht so. Die heutigen Mikwaot sind wunderschöne, ästhetische, hygienische Räume und bieten richtigen Luxus. Eigentlich mehr oder weniger eine Wellness- Oase für die Frau und das ist sicher den wenigsten bewusst. Für die meisten Frauen bedeutet der Besuch der Mikwe, dass sie Zeit für sich selbst hat, eine Zeit der Erholung, eine Zeit der Entspannung. Sich selbst verwöhnen, was sie im Prinzip, im Alltag mit oder ohne Kinder, mit Arbeit und Karriere nicht erleben würde. Sie würde sich die Zeit vielleicht nicht nehmen. So ist es wie eine monatliche Belohnung für die Frau.

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