Pakt zwischen Israels Feinden

Die Hintergründe der innerpalästinensischen Aussöhnung
VON JOHANNES GERLOFF, JERUSALEM

„Die Ära der innerpalästinensischen Streitigkeiten ist Vergangenheit!“ Diese feierliche Erklärung von Hamas- Premierminister Ismail Hanije sollte das offizielle Ende von sieben Jahren erbitterter Feindschaft zwischen Fatah und Hamas sein. Welche Früchte das „historische“ Abkommen bringen wird, das Vertreter beider Fraktionen am 23. April 2014 im Schati-Flüchtlingslager von Gaza unterzeichnet haben, werden die kommenden Monate zeigen. Die Motive, die dazu geführt haben, dass sich zutiefst zerstrittene Männer die Hände reichten, werden die weiteren Entwicklungen entscheidend bestimmen.

Eigentlich ist das jüngste Aussöhnungsabkommen zwischen der eher säkular ausgerichteten Fatah und der radikal-islamischen Hamas lediglich eine Absichtserklärung, das umzusetzen, was in vergangenen Jahren bereits beschlossen worden war. Neu gegenüber den Abkommen von Mekka (2007), Kairo (2011) oder Doha (2012) – um nur die herausragenden von einem guten halben Dutzend Vereinbarungen zu nennen – ist an „Schati 2014“ lediglich der Zeitrahmen.

Tiefe ideologische Gräben trennen die palästinensischen Verhandlungspartner. Nach persönlichen Begegnungen kann man sich nur schwer des Eindrucks erwehren, die Palästinenser kommen eher zu einer Einigung mit Israel, als Fatah und Hamas untereinander.

Die Gründung von Fatah und Hamas
Die Fatah wurde Ende der 1950er- Jahre von Jasser Arafat und seinen Weggefährten gegründet und mauserte sich nach dem Sechstagekrieg von 1967 zur stärksten und bis heute bestimmenden Fraktion innerhalb der Palästinensischen Befreiungsbewegung PLO. Schon früh schloss sich der heutige Präsident Mahmud Abbas der Bewegung an, die von nationalistischen Idealen und einer sozialistischen Ideologie getragen war und religiöse Diskriminierung explizit ablehnt.

Die Hamas dagegen war in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre als „Islamische Widerstandsbewegung“ von religiösen Eiferern um den querschnittsgelähmten Scheich Ahmed Jassin gegründet worden, die durchweg von der ägyptischen Muslimbruderschaft geprägt waren. Sie sieht sich den islamischen Prinzipien des wahhabitischen Islam und dessen weltweitem Machtanspruch verpflichtet – was mit den ideologischen Grundlagen der Fatah, wenn überhaupt, nur schwer vereinbar erscheint.

Bei den palästinensischen Parlamentswahlen im Januar 2006 errang die Hamas eine Zweidrittelmehrheit. Doch dieser Wahlsieg wurde von den entscheidenden Spielern auf der Politbühne Nahost nicht anerkannt. So entstand das Paradox, dass sich im Sommer 2007 im Gazastreifen eine Bewegung an die Macht putschte, die eigentlich demokratisch gewählt worden war und bis heute einen breiten Rückhalt in der Bevölkerung genießt. In der Folgezeit bekämpften sich Fatah und Hamas auf blutige und äußerst brutale Weise, was tiefe Wunden innerhalb der palästinensischen Gesellschaft verursacht hat.

Jetzt wollen Fatah und Hamas innerhalb von fünf Wochen eine Einheitsregierung bilden. Den Vorsitz soll Präsident Mahmud Abbas einnehmen, an dessen Seite die Premierminister Rami Hamdallah (Fatah/Ramallah) und Ismail Hanije (Hamas/Gaza) stehen. Nach Bildung dieser Übergangsregierung sollen innerhalb eines halben Jahres Neuwahlen in der Palästinensischen Autonomie stattfinden, und zwar für den Präsidenten, den Legislativrat (das palästinensische Parlament) und die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) gleichzeitig. Um das zu ermöglichen, müssen radikal-islamische Organisationen wie Hamas oder der Palästinensische Islamische Dschihad der PLO beitreten.

Mahmud Abbas hat die Chance genutzt, in den Verhandlungen, die Israelis und Palästinensern gleichermaßen von ihren „amerikanischen Freunden“ aufgezwungen worden waren, einen Akzent zu setzen. Der Handschlag mit der Hamas hat dem Westen gezeigt, dass die Palästinenser noch andere Optionen haben, als jahrelang unter Druck ergebnislos weiter verhandeln zu müssen. Die in jüngster Zeit wiederholten Drohungen, die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) aufzulösen, müssen auf einer ähnlichen Ebene verstanden werden, ebenso die Anträge bei den Vereinten Nationen zur Aufnahme in eine Reihe von internationalen Verträgen und Institutionen.

Eigentliche Triebkraft für die Annäherung an die Hamas dürften für das alte Fatah-Mitglied aber innenpolitische Überlegungen gewesen sein. Er selbst war zuletzt vor mehr als acht Jahren durch Wahlen im Amt bestätigt worden. Dringend braucht Abbas eine neue Legitimierung als Führer der Fatah, Chef der PLO, Vorsitzender der PA und „Präsident des Staates Palästina“, der bislang eigentlich nur auf Briefköpfen in Ramallah real existiert. Den 79-Jährigen mag auch die Angst treiben, einmal als derjenige dazustehen, der das Erbe Arafats verspielt und das palästinensische Volk gespalten hat. Vielleicht will er aber auch nur die traditionelle Stellung der Hamas im Friedensprozess mit Israel herausfordern und neu positionieren?

Jedenfalls ist das Abkommen vom Schati-Flüchtlingslager Symptom einer inneren Schwäche, nicht nur in der Fatah, PLO und PA von Mahmud Abbas, sondern auch in der islamischen Widerstandsbewegung Hamas, die sich seit 2007 im Gazastreifen einer realen Regierungsverantwortung zu stellen und damit zu bewähren hat. Genau wie die Fatah leidet die Hamas unter einer ständig fortschreitenden Erosion ihrer Legitimität und Popularität.

Außenpolitisch hat sich die Hamas in den zurückliegenden drei Jahren geradezu systematisch isoliert. Im syrischen Bürgerkrieg fand sie sich „auf der falschen Seite“ und verlor dadurch die Unterstützung ihrer traditionellen Geldgeber in Damaskus und Teheran. Mit Präsident Mursi fiel die Unterstützung aus Ägypten. Auch aus der Perspektive von Saudi-Arabien und Jordanien wird die Hamas nicht nur als irgendeine Terrororganisation gesehen, sondern ist als palästinensischer Zweig der Muslimbruderschaft Staatsfeind Nummer eins und damit eine existenzielle Bedrohung dieser Regimes. Außer dem Scheichtum Qatar im Persischen Golf überweist lediglich noch das Nato-Mitglied Türkei regelmäßig Geld an die Hamas. Ansonsten ist die Bevölkerung im Gazastreifen vollständig und ausschließlich vom jüdischen Israel abhängig.

Die Motive für die angestrebte Einigung
Der Handschlag mit der Fatah soll definitiv die feindlich gesinnten Generäle in Kairo besänftigen, um die Blockade erträglicher zu machen, Bewegungsfreiheit und Raum zum Atmen für die Hamas zu schaffen, im Gazastreifen, aber auch im Westjordanland. Er soll die leeren Kassen füllen, wirtschaftlichen und politischen Druck, vor allem auch aus der eigenen Bevölkerung, abbauen. Die angespannte Finanzlage dürfte auch für die Fatah ein Beweggrund zur Annäherung an die Hamas gewesen sein. So strömten EU-Gelder bislang quasi bedingungslos und unkontrolliert ins palästinensische Autonomiegebiet. Am 3. April hatte das EU-Parlament jedoch per Gesetz Bedingungen für die weitere finanzielle Unterstützung der PA gestellt.

Eine Integration in die PLO bedeutet definitiv mehr Einfluss für die Hamas. Dass dies neben den Engpässen ein entscheidender Antrieb für die Bewegung ist, erklärte der in Saudi- Arabien wohnhafte Muslimbruder und Hamasmitglied der ersten Stunde, Mahmoud Mohammad Issa Tuama, nach seiner Festnahme im April gegenüber Ermittlern des israelischen Inlandsgeheimdienstes Schabak. Aufgrund des Rückhalts, den die Hamas aller Notlage zum Trotz noch immer in weiten Teilen der Bevölkerung genießt, könnte sie das Ruder der PLO gar mit demokratischen Mitteln an sich reißen – in eben der Organisation, die gemeinhin als einzig legitime Vertretung des palästinensischen Volkes gilt. Zudem gewönnen die palästinensischen Islamisten durch eine Eingliederung in die PLO die internationale Legitimität, die ihnen bislang fehlt.

Zu den Motiven für die angestrebte Einigung von Hamas und Fatah könnte auch die beiderseitige Einsicht gehören, dass man den jeweils anderen nicht ausschalten kann. Vor allem der Fatah im Westjordanland dürfte mittlerweile klar sein, dass sich eine religiös motivierte Bewegung wie die Hamas durch Verfolgung, Haftstrafen, Folter und Mord nicht bezwingen lässt, sondern eher noch an Stärke gewinnt. Zudem diene, so hört man von Palästinensern immer wieder, „der innerpalästinensische Streit doch nur Israel“.

Die überwältigende Mehrheit der Fatah glaubt nicht mehr an ein „faires Abkommen“ mit Israel, was für die anderen, großteils radikaleren Fraktionen der PLO sowieso gilt. Deshalb hält man eine Stärkung der Einheit der Palästinenser für notwendig, nicht zuletzt als Vorbereitung auf die nächste Konfrontation mit Israel – ganz unabhängig davon, ob diese als Volksaufstand, mit diplomatischen, politischen oder militärischen Mitteln ausgetragen werden wird. Entscheidende Triebkraft ist definitiv, dass die breite Masse des palästinensischen Volkes seit langem eine Überwindung der inneren Zerrissenheit fordert.

Radikale Muslime
Präsident Abbas stößt mit seiner Annäherung an die Hamas seine traditionellen Verbündeten in der arabischen Welt ganz offensichtlich vor den Kopf. Das Abkommen vom Schati- Flüchtlingslager untergräbt deren massive Anstrengungen, die immer mächtiger auftretenden salafitischen und dschihadistischen Elemente in den Griff zu bekommen. Weltweit gesehen steht Al-Qaida heute besser denn je da. Unüberhörbar verkündet der „Arabische Frühling“: Die Zukunft gehört den Radikalen – die schon jetzt Zehntausende aktiver Mitglieder in den Palästinensergebieten haben.

Eigentlich bedroht ist der Machtanspruch der Hamas im Gazastreifen bereits seit Jahren nicht etwa von der Fatah oder von Israel, sondern von Muslimen, die noch radikaler sind als die Islamische Widerstandsbewegung oder der Palästinensische Islamische Dschihad. Vielleicht wollen Fatah und Hamas durch die Aussöhnung einer Herausforderung begegnen, der sie nur gemeinsam Herr zu werden meinen? Immerhin haben die Herrschenden im Gazastreifen wie in der Westbank eine neue Intifada vielleicht noch mehr zu fürchten als Israel, weil sich ein neuer Palästinenseraufstand nur zu schnell zum „Palästinensischen Frühling“ wandeln und damit gegen sie selbst wenden könnte.

Zweifellos gibt es viele Unbekannte in der Rechnung der beiden großen Bewegungen der palästinensischen Gesellschaft, vielleicht zu viele, als dass sie aufgehen könnte. Fraglich ist beispielsweise, ob sich die Hamas zugunsten eines vereinigten palästinensischen Sicherheitsapparats entwaffnen lassen wird. Möglicherweise strebt sie gar ganz bewusst eine „Libanonisierung“ der Palästinensergebiete an – die Idee und der Begriff sind spätestens seit dem Rückzug Israels aus dem Südlibanon im Mai 2000 im Westjordanland präsent. Im nördlichen Nachbarland von Israel ist eine radikale Miliz die alles entscheidende Macht im Staate. Aus palästinensischer Sicht interessant ist das Modell Libanon nicht nur, weil es die zionistische Besatzungsmacht erfolgreich vertrieben hat und kaum ein Israeli mehr die Lust in Worte fasst, in den Libanon zu ziehen. Für die Hamas ist auch attraktiv, dass dort eine Bewegung, die in den Augen des Westens eigentlich „Terrororganisation“ ist, zu einer Regierung gehört, mit der Europa und Amerika sprechen.

Ganz sicher muss die Sicherheitskooperation zwischen Palästinensern und Israel, die sich als entscheidender Faktor der Ruhe und des wirtschaftlichen Aufschwungs der vergangenen Jahre im Westjordanland bewährt hat, völlig neu gestaltet werden.

Die personelle Zusammensetzung der Übergangsregierung wie auch der vereinten PLO-Führung ist noch lange nicht klar. Die neuen, gemeinsamen Strukturen der nationalen Institutionen sind völlig unbestimmt. Bei diesen Fragen entscheiden nicht nur religiöse oder politische Loyalitäten; allem Reden von einer „Technokraten- Regierung“ zum Trotz auch nicht Qualifikationen, sondern in ganz entscheidender Weise Stammes- und Clanzugehörigkeiten. Ähnliches gilt für die Fragen, wer bestimmen wird, wie Hilfsgelder verteilt werden – sollten diese überhaupt noch eintreffen.

Bis zu echter innerer Versöhnung liegt vor dem palästinensischen Volk noch ein langer Weg. Nichts ist bislang endgültig. „Abu Mazen“, wie Mahmud Abbas gemeinhin im Volk genannt wird, „hat jederzeit den Knopf am Schleudersitz“, meint ein Kommentator zutreffend.

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