Not macht erfinderisch

 

Israel wird weltweit für die enorme Anzahl an Unternehmensgründungen im Hightech-Bereich bewundert. Anlässlich seines Aufenthalts in Wien haben wir mit Eugene Kandel gesprochen, einem früheren Berater von Premier Netanjahu, der heute eine Organisation zur Unterstützung der israelischen Start-up-Szene leitet. Das Gespräch führte Peter Menasse.
FOTOS: MILAGROS MARTÍNEZ-FLENER

 

NU: Sie sind CEO von „Start-up Nation Central“. Was ist Ihre Aufgabe?

Kandel: Diese Organisation wurde vor dreieinhalb Jahren von Paul Singer gegründet. Er ist Gründer und Eigentümer von Elliott Management, einem großen Hedgefonds-Unternehmen in New York. Er hatte das Buch Start-up Nation – was wir vom innovativsten Land der Welt lernen können von Dan Senor und Saul Singer gelesen und war fasziniert von der These, dass Innovation einerseits die israelische Wirtschaft befeuert, aber ebenso das Ansehen des Landes in der Welt verbessert. Er beschloss zu helfen und gründete unsere Organisation, die er auch finanziert.

Wir unterstützen in verschiedener Form das israelische „Start-up Ecosystem“, das eine Art Inkubator für Unternehmensgründungen ist. Dabei sind wir in dreifacher Weise tätig. Wir erfassen alle Informationen zum Ecosystem und verwenden die Daten, um das System mit der Welt zu verknüpfen. Das geschieht, indem wir die Daten auf der Website finder.startupnationcentral.org veröffentlichen. Dort kann man jedes Unternehmen finden, jeden Investor und jede beteiligte Organisation. Zweitens holen wir Menschen aus der Politik, aus Unternehmen und NGOs nach Israel, um sie in Kontakt mit unserem Ecosystem zu bringen. Schließlich arbeiten wir mit der israelischen Politik und Verwaltung zusammen, um gemeinsam eine weitere dynamische Entwicklung des Start-up-Systems sicher zu stellen.

Wie kommt es, dass Israel so viele Neugründungen vor allem im Hightech-Bereich verzeichnen kann?

Das ist das Ergebnis eines langen Prozesses, der seit fast hundert Jahren andauert. Alles hat mit Bedürfnissen begonnen. Wenn wir in der Geschichte unseres Landes zurückblicken in die Zeit, als wir es wieder besiedelt haben, sehen wir, dass es an vielem mangelte. Es gab zu wenig Wasser, kaum Energieressourcen und Ackerland und auch keine Gastfreundschaft rundherum. Aber wir mussten dort überleben, und es kamen mehr und mehr Menschen dazu. Es war uns klar, dass wir nicht überleben würden können, ohne deutlich mehr zu tun als die anderen. Sonst würde es auch bei uns weiterhin so ausschauen wie in den Ländern, die uns umgeben. Wir mussten also neue Wege gehen, und zwar in einer Kombination von Forschung und technologischer Entwicklung. Technion, die technische Universität Israels, wurde 1924 gegründet, die Hebräische Universität 1925, die Organisation für landwirtschaftliche Forschung 1921 – sie alle damit rund 25 Jahre vor der Gründung des Staates Israel.

Wir kamen auch mit einer großen Vision und das bedeutete, dass wir die Dinge anders anpacken wollten, als es sonst üblicherweise geschah. So entstanden die Kibbuzim, es wurden innovative Methoden der Wasseraufbereitung gefunden, neue Formen in der Arbeitsorganisation oder im Militärwesen eingeführt. Das alles war durch den Funken der Innovation befeuert und es geschah staatlich organisiert, also zentralisiert. So entwickelten sich technologisch fortschrittliche Streitkräfte, hervorragende Universitäten und vieles mehr. Das ging so bis in die 1970er-, 1980er-Jahre. Dann wurde es als zentrale Aufgabe für die Regierung zu viel. Israel hatte sich zu einem recht großen Land entwickelt, wir waren dann schon rund vier Millionen Menschen und es passierte, was viele andere Nationen kennen. Wenn du groß wirst, ist es sehr schwierig, innovativ zu bleiben, während du, wenn du klein bist, ums Überleben kämpfen musst. Die Regierung lockerte also die Zügel, ließ einen privaten Innovationssektor zu und unterstützte ihn auch mit Förderungen.

Dazu kommt, dass sich die Innovationskraft des jüdischen Volkes über Jahrhunderte geformt hat, schon deswegen, weil alle, die nicht nach vorne gingen, die sich nicht anpassen konnten, in einer feindlichen Umgebung nicht überleben konnten. Juden heute sind das Resultat eines langen Überlebenskampfes. Dann kamen in den 1990er-Jahren eine Million Juden aus Russland nach Israel, und diese Menschen hatten viel technologisches und technisches Wissen in ihrem Gepäck.

Wenn man all diese Ingredienzen zusammenführt, entsteht eine kritische Masse. Die Anzahl der israelischen Hightech-Unternehmen ist über die Jahre exponentiell angestiegen. Heute haben wir mehr als 5000 Technologieunternehmen, ganz kleine ebenso wie große. Jedes Jahr kommen rund hundert dazu, während nur 30 bis 40 wieder untergehen, was heißt, dass der Sektor kontinuierlich wächst.

Es waren zusammengefasst der Druck durch die Not, die Aufbruchsstimmung, die jüdische Kultur und ein paar glückliche Fügungen. Auch das Internet hat für uns einen großen Vorteil gebracht. Unser Land ist geografisch sehr weit von allen Märkten entfernt. Mit der neuen Technologie können wir uns mit anderen vernetzen, von ihnen lernen und uns am Markt präsentieren.

Ist es nicht auch ein Vorteil, dass Israel viel in militärische Forschung investiert? Gibt es da einen Transfer in den zivilen Sektor?

Es entstehen natürlich zuerst einmal hohe Kosten. Aber so, wie das Militär bei uns organisiert ist, wird das auch zu einem großen Vorteil. Denn wir nehmen die jungen Leute, also die 18-Jährigen, genau unter die Lupe, um ihre Vorzüge und Möglichkeiten herauszufinden. Wir können sie dann dorthin zuweisen, wo ihre Talente besonders zur Entfaltung kommen können. Wir machen bei unserem Heer so gesehen eine Art von Auswahl, wie man sie von den internationalen Spitzenuniversitäten kennt. Jeder bekommt dann den Job, für den er am besten geeignet ist. Wenn junge Leute in einen Technologiebereich kommen, erhalten sie nicht nur eine hochqualitative Ausbildung, sondern man überlässt ihnen bald auch große Verantwortung. Als 19-Jährige bekommen sie dann schon wirklich schwierige Aufgaben, und sie haben mit Spitzentechnologie zu tun, die avancierter ist als alles, was es außerhalb des Militärs gibt.

Wenn diese Jungen mit 21, 22 Jahren aus dem Militär ausscheiden, sind sie außerordentlich gut ausgebildet, sie sind in einem Bereich unterwegs, für den sie besonders geeignet sind und sie haben ein gutes Maß an Selbstbewusstsein. Das kann mitunter recht nervig sein, wenn man mit ihnen zu tun hat, aber es passt perfekt für Hightech-Aktivitäten. Viele der neuen Start-ups wurden und werden von solchen Youngsters gegründet. Auch wenn sie nicht direkt mit Technologie zu tun hatten, sondern Flieger waren, in Kampfeinheiten gedient haben, sind sie gut auf Managementaufgaben vorbereitet und haben gelernt, große Projekte zu verwirklichen.

„Heute haben wir mehr als 5000 Technologieunternehmen, ganz kleine ebenso wie große. Jedes Jahr kommen rund hundert dazu, während nur 30 bis 40 wieder untergehen, was heißt, dass der Sektor kontinuierlich wächst.“

Gibt es Hightech-Unternehmen überall in Israel oder existiert etwas Vergleichbares zum Silicon Valley in den USA?

[lacht] Silicon Valley alleine ist ja größer als ganz Israel. Aber bei uns gibt es tatsächlich Cluster. Der größte ist in Tel Aviv und in der Nähe von Tel Aviv, ein ähnlich großer Cluster befindet sich in Jerusalem. Der ist noch relativ neu, die Anzahl der Unternehmen ist dort in den letzten drei Jahren von hundert auf 500 gestiegen. Dann gibt es noch Haifa und Be’er Scheva, und in den letzten rund drei Jahren ist auch ein Cluster in Nazareth entstanden.

Wie ist die allgemeine Situation der israelischen Wirtschaft heute?

Die israelische Volkswirtschaft ist zweigeteilt, daher gibt es auch zwei verschiedene Problemstellungen. Im Bereich der neuen Technologie gibt es einen Mangel an Experten, an Humankapital. Wir bräuchten viel mehr Menschen in diesem Wirtschaftssektor, und es gibt große Anstrengungen der Regierung und vieler Organisationen, hier Abhilfe zu schaffen. In der herkömmlichen Wirtschaft leiden wir unter zu geringer Produktivität, das heißt zu geringem Output pro Arbeitskraft, und der Sektor ist überreguliert. Wir sind in den letzten drei Jahren im „Ease of Doing Business“-Ranking dramatisch von Platz 30 auf 53 abgerutscht [Anm.: Österreich belegt derzeit Platz 21].

Obwohl in Israel nur fünf Prozent der potenziellen Erwerbstätigen arbeitslos sind, wird dennoch viel protestiert. Es ist das ein wenig produktiver gesellschaftlicher Diskurs. Ich fürchte, dass ein neuer weltweiter Wirtschaftseinbruch sehr schmerzhafte Auswirkungen für uns haben könnte. Aber vielleicht kann nur so der unglückliche Diskurs eine neue Richtung nehmen.

Wie werden die US-Wahlen die israelische Wirtschaft beeinflussen?

Ich weiß es nicht. Das ist eine wirklich schwierige Frage. Es ist ja jetzt noch nicht einmal klar, wie die USA selbst betroffen sein werden. Mit Hillary Clinton haben wir in der Vergangenheit recht gute Erfahrungen gemacht. Mit Trump hatten wir nie zu tun, er ist für uns nicht berechenbar.

 

Eugene Kandel, geboren 1959 in Moskau, war von 2009 bis August 2015 Vorsitzender des Nationalen Wirtschaftsrates von Israel. In dieser Funktion beriet er Premierminister Benjamin Netanjahu in Wirtschaftsangelegenheiten. Seit Oktober 2015 ist Kandel CEO von „Start-up Nation Central“, einer Einrichtung, die internationale Manager und Politiker mit der israelischen Innovations- und Technologie-Szene in Kontakt bringt.

Kandel hat in Jerusalem und Chicago Wirtschaftswissenschaften studiert. Seit 1997 ist er Professor für Wirtschafts- und Finanzlehre an der Hebrew University in Jerusalem.

Die Familie Kandel emigrierte 1977 nach Israel. Sein Vater Felix Kandel, ein Schriftsteller, war wegen seines 1973 gestellten Ausreiseansuchens in Ungnade gefallen und auch eingesperrt worden. Um seine Teilnahme an einer internationalen Konferenz über jüdische Kultur in Moskau im Jahr 1976 zu verhindern, wurde sein Sohn Eugene als Warnung auf offener Straße verprügelt. Dank einer Kampagne zahlreicher Organisationen in Israel und den USA wurde der Familie schließlich die Ausreise gestattet. Felix Kandel ist einer der Schöpfer der in Russland berühmten Zeichentrickserie Nu, Pogodi, was so viel heißt, wie „Na, warte“.

 

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