Nicht daheim und doch nicht an der frischen Luft

So viele Talente auf so kleinem Ort: Eine Erinnerung an die jüdische Kultur im Wiener Kaffeehaus zwischen Fin de Siècle und 1938. von Katja Sindemann
Von Katja Sindemann

Das Café Central ist nämlich kein Caféhaus wie andere Caféhäuser, sondern eine Weltanschauung, und zwar eine, deren innerster Inhalt es ist, die Welt nicht anzuschauen … Das Café Central liegt unterm Wienerischen Breitengrad am Meridian der Einsamkeit. Seine Bewohner sind größtenteils Leute, deren Menschenfeindschaft so heftig ist wie ihr Verlangen nach Menschen, die allein sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen. “ So schrieb Alfred Polgar in seiner „Theorie über das Café Central“ im Jahr 1926. Das Fin de Siècle, das letzte Jahrzehnt des ausgehenden 19. Jahrhunderts, war eine Zeit kultureller Hochblüte. Die k. u. k. Monarchie stand auf dem Höhepunkt ihrer wirtschaftlichen Macht. Die Kronländer lieferten Rohstoffe und Nahrungsmittel, aus allen Teilen des Reiches strömten die Menschen nach Wien. Zugleich wurden jedoch die Freiheitsbestrebungen der slawischen Völker unterdrückt. Neue Erfindungen wie Eisenbahn, Telefon, Telegrafie, Fotografie und Film veränderten die Welt. Die jüdische Bevölkerung hatte die Gleichberechtigung erkämpft und engagierte sich in Wirtschaft, Bildung und Kultur.

Dichter, Schriftsteller, Journalisten, Redakteure, aber auch Ministerialräte und Ärzte versammelten sich im Kaffeehaus, um Zeitungen zu lesen, das Neueste zu erfahren, Meinungen auszutauschen, Ideen zu besprechen, Werke zu kritisieren und sich gegenseitig zu beflügeln. Viele waren jüdischer Abstammung, meistens jedoch assimiliert. Wichtigster Treffpunkt in den 1890ern war das Café Griensteidl am Michaelerplatz. Hier residierte Hermann Bahr, geistiges Oberhaupt der Autorengruppe „Jung-Wien“. Der Theaterkritiker und Literaturtheoretiker förderte Nachwuchsschriftsteller wie Hugo von Hofmannsthal, der schon als Gymnasiast Gedichte unter einem Pseudonym veröffentlichte. Felix Salten, Richard Beer-Hofmann, Adolf Loos, Alfred Polgar, Karl Kraus, Peter Altenberg und Hugo Wolf gehörten ebenfalls „Jung-Wien“ an. Während manche das Griensteidl als „Café Größenwahn“ verspotteten, bezeichnete Bahr es als „Platonische Akademie“.

Stefan Zweig erzählte in „Jugend im Griensteidl“: „Unsere beste Bildungsstätte für alles Neue blieb das Kaffeehaus. Nichts hat vielleicht so viel zur intellektuellen Beweglichkeit und internationalen Orientierung des Österreichers beigetragen, als dass er im Kaffeehaus sich über alle Vorgänge der Welt umfassend orientieren und im freundschaftlichen Kreis diskutieren konnte.“ Einblicke in das Künstlerleben im Griensteidl gab der Arzt und Schriftsteller Arthur Schnitzler in seinem Tagebuch: „Gestern abends hat Salten im Kfh. noch den kleinen Kraus – der auch ihn angegriffen – geohrfeigt, was allseitig freudig begrüßt wurde.“ Hintergrund der Notiz: Wegen der Neugestaltung des Michaelerplatzes 1896 wurde das Café Griensteidl abgerissen. Aus dem Anlass verfasste der junge Karl Kraus den bissigen Artikel „Die demolirte Literatur“, in dem er gegen Hermann Bahr und seine Kollegen polemisierte. Felix Salten, Theaterkritiker der „Wiener Allgemeinen Zeitung“ sowie Autor von „Bambi“ und „Josefine Mutzenbacher“, fühlte sich, wie viele andere, auf den Schlips getreten. Die Satire verhalf Karl Kraus zum Durchbruch; ihr erster Satz „Wien wird jetzt zur Großstadt demolirt“ wurde zum geflügelten Wort. Arthur Schnitzler schilderte in seinen Theaterstücken Dandys der Wiener Gesellschaft und süße Vorstadtmädels, zeigte Lebenslügen und Doppelmoral auf und nahm einige Erkenntnisse Sigmund Freuds vorweg. Bezeichnend ist folgende Anekdote: Der vierzehnjährige Sohn einer Nachbarsfamilie wurde verletzt in Schnitzlers Ordination gebracht. Sein Pony hatte den Jungen, als er nackt tion für Zerrissene, die dort, ihr Lebtag auf der Suche nach sich und ihr Lebtag auf der Flucht vor sich, ihr fliehendes Ich-Teil hinter Zeitungspapier, öden Gesprächen und Spielkarten verstecken und das Verfolger-Ich in die Rolle des Kiebitz drängen, der das Maul zu halten hat. Das Café Central stellt also eine Art Organisation der Desorganisierten dar.“ (Polgar, Theorie)

Im Central trafen sich Schriftsteller wie Stefan Zweig, Hermann Broch, Franz Blei, Joseph Roth, Lina Loos, Gina Kaus, Anton Kuh, Milena Jesenska, Franz Kafka, Robert Musil, Friedrich Torberg, Franz Werfel, Hilde Spiel und viele andere. Ein Original war Peter Altenberg, der quasi im Central wohnte und dieses als Postadresse angab. Der Bohemien mit Schnauzbart und Zwicker notierte seine Beobachtungen in Skizzen auf Servietten und Bierdeckeln. Von ihm stammt die berühmteste aller Kaffeehaus-Hymnen:

„Du hast Sorgen, sei es diese, sei es jene – ins Kaffeehaus!
Sie kann, aus irgendeinem, wenn auch noch so plausiblen Grunde, nicht zu dir kommen – ins Kaffeehaus!
Du hast zerrissene Stiefel – Kaffeehaus!
Du hast 400 Kronen Gehalt und gibst 500 aus – Kaffeehaus!
Du bist korrekt sparsam und gönnst Dir nichts – Kaffeehaus!
Du bist Beamter und wärest gern Arzt geworden – Kaffeehaus!
Du findest Keine, die Dir passt – Kaffeehaus!
Du stehst innerlich vor dem Selbstmord – Kaffeehaus!
Du hasst und verachtest die Menschen und kannst sie dennoch nicht missen – Kaffeehaus!
Man kreditiert Dir nirgends mehr – Kaffeehaus!“

Karl Kraus bildete mit dem Architekten und Journalisten Adolf Loos ein kongeniales Duo, was Scharfzüngigkeit anbelangte: „Adolf Loos und ich haben nichts weiter getan als gezeigt, dass zwischen einer Urne und einem Nachttopf ein Unterschied ist.“ Loos, Gründer der Wiener Moderne, richtete sowohl die American Bar als auch das Café Museum ein, welches als Café Nihilismus verspottet wurde. Die Fama behauptet, Loos sei immer dann ins Café Central gekommen, wenn er seine Entwürfe im Café Museum nicht mehr sehen konnte.

„Dieses rätselvolle Caféhaus beschwichtigt in den friedlosen Menschen, die es besuchen, etwas, das ich: das kosmische Unbehagen nennen möchte. An dieser Stätte der lockeren Beziehungen lockert sich auch die Beziehung zu Gott und den Sternen, die Kreatur entschlüpft ihrem Zwangsverhältnis zum All in ein pflichtloses sinnliches Gelegenheitsverhältnis zum Nichts, die Drohungen der Ewigkeit dringen nicht durch die Wände des Café Central, und zwischen diesen geniessest du die holde Wurschtigkeit des Augenblicks.“ (Polgar, Theorie)

Der Schriftsteller und Kulturphilosoph Egon Friedell schuf mit dem Redakteur und Autor Alfred Polgar den berühmten Goethe-Sketch, der im (von den Wiener Werkstätten eingerichteten) Cabaret Fledermaus uraufgeführt wurde. Von Polgar sind zahllose Bonmots überliefert: Als im Kaffeehaus ein Tratsch mit den Worten „Das bleibt unter uns“ eingeleitet wurde, beugte sich Polgar unter den Tisch: „Da ist aber kaum noch Platz!“ Als sich ein Arzt bei seinem Sitznachbarn entschuldigte, dass er ihm den Rücken zukehre, fragte Polgar: „Und dafür, dass Sie mir das Gesicht zukehren, finden Sie kein Wort der Entschuldigung?“ Das Erscheinen deutscher Emigranten in Österreich 1933 kommentierte er: „Die Ratten betreten das sinkende Schiff.“

1918 öffnete ein neues Kaffeehaus seine Pforten, das Café Herrenhof, wohin nun viele Künstler übersiedelten. Zur Legende hat es Oberkellner Franz Hnatek gebracht. Jene berühmte Anekdote, die einem Ministerialbeamten des Außenministeriums zugeschrieben wird, stammt in Wahrheit von ihm: Vor dem Ersten Weltkrieg saß Lew Dawidowitsch Bronstein alias Leo Trotzki häufig im Café Central und spielte Schach. Als 1917 die Nachricht von der Russischen Revolution Wien erreichte, meinte Hnatek: „Wer soll denn in Russland Revolution machen? Vielleicht gar der Herr Bronstein aus dem Café Central?“ Einer der Kaffeehausliteraten war Hugo Bettauer, der 1922 den Roman „Stadt ohne Juden“ schrieb, welcher prophetischen Charakter hatte. Sein Inhalt: Aufgrund parlamentarischer Entscheidung müssen alle Juden auswandern. Die Folgen sind katastrophal: Die Wirtschaft verödet, die Kultur erliegt, die Kaffeehäuser sind verlassen. Schließlich beschließen die Politiker, die Juden wieder zurückzuholen. Das Buch wurde 1924 mit dem jungen Hans Moser verfilmt. Berühmt ist auch Bettauers sozialkritischer Roman „Die freudlose Gasse“, der 1925 mit Greta Garbo verfilmt wurde. Der wegen seiner freizügigen Schriften kritisierte Bettauer wurde 1925 von einem NSDAP-Mitglied erschossen, der dafür eine lächerlich geringe Strafe ausfasste.

„Der Centralist ist ein Mensch, dem Familie, Beruf, Partei solches Gefühl nicht geben: Hilfreich springt da das Caféhaus als Ersatztotalität ein, lädt zum Untertauchen und Zerfließen. Verständlich also, daß vor allem Frauen, die ja niemals allein sein können, eine Schwäche für das Café Central haben. Es ist ein Ort für Leute, die um ihre Bestimmung, zu verlassen und verlassen zu werden, wissen, aber nicht die Nervenmittel haben, dieser Bestimmung nach zu leben.“ (Polgar, Theorie)

Im Café Herrenhof herrschte in den 1920er und 30er Jahren die letzte Blütezeit des kulturellen Lebens, bis die Mehrzahl der Literaten 1938 fliehen musste. Friedrich Torberg hat der Kaffeehausatmosphäre in der Monarchie und ihren Nachwehen in seinen Büchern „Die Tante Jolesch oder der Untergang des Abendlandes in Anekdoten“ sowie „Die Erben der Tante Jolesch“ ein Denkmal gesetzt. Darin werden Kauze und Originale mit ihrem herben Mutterwitz und ihrer Mischung aus deutschem, jiddischem und slawischem Humor porträtiert. Das Wort der Tante Jolesch: „Alles was ein Mann schöner is’ wie a Aff’, is’ a Luxus“ hat mittlerweile Weltberühmtheit erlangt.

Das neue Buch „Das Wiener Café. Die Geschichte einer ewigen Leidenschaft“ von Katja Sindemann ist im metroverlag erschienen.

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