Nicht alle Juden sind gescheit, aber …

Von Martin Engelberg

Die Begegnung mit Professor Otto F. Kernberg hat mich in vielfacher Hinsicht beeindruckt: Allen voran beruflich als Psychoanalytiker – aber das soll hier nicht das Thema sein. Inspiriert hat mich Kernberg zu einem Aphorismus und zwar: „Nicht alle Juden sind gescheit, aber auffallend viele gescheite Menschen sind Juden.“ Der erste Teil des Satzes ist leider sehr wahr und entspricht meinen leidvollen Erfahrungen bei der Arbeit mit Juden vor allem in Institutionen. Bestens auf den Punkt brachte das einmal ein guter Freund, als er beim Thema Kultusgemeinde ausrief: „Das sind die größten Vorkämpfer gegen den Antisemitismus! Sie räumen nachhaltig mit einem der ältesten antisemitischen Vorurteile auf, Juden seien besonders intelligent.“

Nun aber zum zweiten Teil des Aphorismus. Professor Kernberg war also im Herbst in Wien an der Universitätsklinik für Tiefen­psychologie und Psychotherapie zu Gast, besprach Fallgeschichten, hielt Vorträge, gab Interviews, zusammengerechnet 12 Stunden und mehr pro Tag, eine Woche, also sieben volle Tage lang. Das alleine ist für einen 78-Jährigen schon eine erstaunliche physische und psychische Leistung. Doch wie er es machte, hinterließ einen noch viel stärkeren Eindruck: Vom ersten Moment jeden Tages an ist Kernberg geistig völlig präsent, hell, interessiert, er beobachtet und hinterfragt jedes Detail der Schilderungen, ist voller Ungeduld noch mehr zu erfahren und lässt sich bereitwillig, ja lustvoll auf jede Diskussion ein. Man kann förmlich beobachten, wie er es genießt, jeden Eindruck, jeden Gedanken, jedes Argument in seinem Kopf spielerisch hin und her zu wenden, abzuwägen, zu verwerfen, neu zu formulieren und zwischendurch bringt er alle immer wieder mit tiefsinnigen, oft sich selbst karikierenden Pointen zum Lachen.

Hat man am Abend davor auch noch seinen Vortrag gehört, in dem er seine Zuhörer mit einem politisch-psychoanalytischen Tour d’horizon fesselte,
dort wo andere das Publikum bereits nach wenigen Minuten in einen Tief­schlaf versetzen, kann man nicht umhin, von dieser Persönlichkeit fasziniert zu sein. Er ist ein Mensch, der es genießt zu verstehen, zu wissen, gescheit zu sein. Der die Fähigkeit zu schnellem dialektischem Denken aufweist. Sich seine geistige Unab­hängigkeit bewahrt hat und sich zugleich hohen ethischen und moralischen Normen verpflichtet fühlt. Ein Mensch, für den die Reflexion über das Leben, die Selbstreflexion, das Nachdenken über den Sinn des Lebens und die Lebensaufgaben des Menschen, im Zentrum seines Denkens stehen. Dies alles eingebettet in eine unglaubliche Lebendigkeit, Lebensfreude und subtilen Humor.

Alle diese Charakteristika lesen sich gleichzeitig wie eine Beschreibung jener „weltlichen“ oder auch „psychologischen“ Juden, wie sie früher in Europa zu finden waren und heute vor allem in den USA anzutreffen sind. Umgangssprachlich jiddisch würde man sagen: „A jidischer Kop“, im allerbesten Sinn.
Natürlich sind nicht alle Menschen, auf welche die genannten Be­­schreibungen zutreffen, Juden, aber es ist doch immer wieder erstaunlich, wie groß und weit überproportional der Anteil von Juden an solchen Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kultur, Journalismus, schlicht der Intelligenz einer Ge­sell­schaft ist. Ebenso bemerkenswert er­­scheint es, dass der allergrößte Teil dieser Juden mit gelebtem Judentum, also mit der Einhaltung der religiösen Gesetze und Traditionen oder der Be­­schäftigung mit der jüdischen Lehre, wenig bis gar nichts zu tun hat. So auch Prof. Kernberg – auf den ersten Blick gesehen. Dann aber steigen ihm Tränen in die Augen, als wir ihn zu einem Schabbat-Abend einladen, geht vorher auch noch sehr gerne mit zum Gottesdienst in den Stadttempel und sagt dort dann auch noch Kaddisch für seine vor einigen Monaten verstorbene Frau.

Sigmund Freud hatte genau über die Frage sinniert, was denn noch sein Judentum ausmache, da er es doch überhaupt nicht praktiziere und ge­­­meint, es wäre noch sehr viel, wahrscheinlich die Hauptsache, hatte sich aber außerstande ge­­sehen, dies in Worte zu fassen, und überließ es späterer wissenschaftlicher Einsicht. Mit diesem Zitat konfrontiert wiegte Prof. Kernberg unzufrieden den Kopf und meinte mit einem spitzbübischen und dem Übervater der Psychoanalytiker gegenüber respektlosem Lächeln: „Eine etwas ausweichende Antwort von Freud“.

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