Monumental und filigran

Der ungarische Schriftsteller Péter Nádas in der Berliner Akademie der Künste, 2022. ©CARSTEN KOALL/DPA/PICTUREDESK.COM

Von Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller

„Ich tue Grünzeug hinein, sagte meine Großmutter, denn sie war nicht nur rastlos tätig, sondern sie hätschelte, kostete, besetzte jede ihrer Bewegungen mit vertrautem Geplapper. Ich verstand nicht, warum sie das tat, warum sie mit dem Topf, mit der Suppe sprach. (…) Sie quasselte sinnlos vor sich hin, denn kein Mensch sprach mit ihr, schon gar nicht mein schweigsamer Großvater. (…) Ereignisse wurden registriert, nicht aber kommentiert. Tag für Tag, Jahr für Jahr hörte Arnold Tauber Cecilia Nussbaum zu. Ich verstehe nicht, wie er das aushielt. Er schaute sie meist gar nicht an. (…) Sein Blick versank gewissermaßen im Zuhören, er machte keine Bemerkungen oder Einwände, er wollte sie nicht unterbrechen, er lächelte bescheiden und untergeben, löste sich im Zuhören auf. Das Zuhören war wohl ein Akt der Liebe. Und doch lächelte er nicht der Großmutter zu, sondern sich selbst. Oder ich weiß nicht wem.“
Diese Großmutter lebt in einer städtischen Familie und sie bleibt mit ihrem dörflichen Naturell einsam. Sie war als „zerbrechliches junges Mädchen mit Wespentaille“ nach Budapest gekommen und wurde Schleiferin bei einem Silberschmied, wo sie den Großvater Arnold Tauber traf. Nádas schreibt: „Ich glaube, sie war direkt auf Großvater losgesteuert.“
Und er schreibt auch: „Wenn Großvater sie beim Kosenamen Cili nannte, sah man durch seine Gereiztheit und ihre peinlichen Lächelversuche hindurch plötzlich in das geheime Leben der beiden hinein.“
„Immer gab es in ihrem Wortgebrauch, ihren Satzbauten, ihrer Intonation etwas Regelwidriges, Überraschendes, das mich stutzig machte, sodass ich auf nichts anderes mehr achtete als auf diese Eigenheiten“, schreibt Nádas.
Die Großmutter spricht in drei Sprachen gleichzeitig: jiddisch, deutsch und ungarisch.
„Großmutter sagte nicht, ich solle nicht verschwenderisch sein, mit dem Geld um mich werfen, sie sagte, sei doch nicht umwerfend. Das da ist ein umwerfender Mensch. Der dort, der ist ein großer Umwerfender.“ Sie sagt nicht, jemand sei lebensuntüchtig, sondern er sei „unlebbar“.
Mir scheint, sie verwendet die Adjektive nicht als Eigenschaft der Dinge, sondern als Zärtlichkeiten, die genauso wie das Essen den Hunger stillen. Den Hunger nach Nähe: Denn: „Sie sagte, ich kaufe gute Butter. Als könne sie auch eine schlechte Butter kaufen. Ich koche schnell mal ein gutes Bohnensüppchen. Als würde jemand absichtlich eine schlechte Bohnensuppe kochen. Ich mache eine gute kleine Einbrenn zu diesem Kürbisgemüse, gut Dill dazu.“
Sie sagt auch: „Ach hol mir schon einen Tropfen Wasser. Ich sterbe vor Durst. Einmal brachte ich ihr wirklich nur einen Tropfen Wasser. Der Hunger zerfrisst mir den Magen. Was nur bedeutete, dass Essenszeit war.“ Ihre Übertreibungen klingen seltsamerweise gleichzeitig sogar wie Verniedlichungen.
Zu ihrem Sprechen gehören aber auch regelrechte Ausbrüche, lautes Jammern, als zerbreche in den kleinen alltäglichen Dingen die ganze Welt. Péter Nádas nennt dieses Sprechen „rituelle Tiraden, die nirgendhin führen“. Man glaubt beim Lesen, dass diese Großmutter die Sprache im Körper wiegt, dass sie sich selbst gültig machen will durchs Lamentieren. Es entsteht eine Verzückung, eine Betörung des Ich, um die Arbeit ihrer Hände zu beglaubigen. Und zu ertragen.
Sie sagt dem Kind: „Ihr sollt nicht durch mich hindurchblicken, hört ihr. Lange verstand ich nicht, warum sie mich in der Mehrzahl ansprach, wir waren ja allein. Als stehe sie nicht vor mir allein und nicht nur ich blicke durch sie hindurch. Für sie existierte ich in der Mehrzahl.“
Man weiß nicht, sind es bloß mitgebrachte, dörfliche Sprechweisen. Oder ist es das unbewusste Zurückfallen an Orte, aus denen das Jiddische vor langer Zeit gekommen war. Ist in diesen Worttiraden Flucht, Unbehaustheit, Angst. Nádas spricht von „ritualisiertem Schmerz“, von dem man nicht weiß, was er mit „dem Leben eines Menschen anstellt“. Und in einem ganz anderen Zusammenhang spricht er vom ersten Liebeskummer in seinem Leben als „Musterschmerz“. Mich hat das Wort Musterschmerz nicht mehr losgelassen. Es hat sich auf Cecilia Nussbaum übertragen. Kann ein ewig altes Leid der Anderen weitergereicht – also ohne Wahl bei der Großmutter vorhanden sein. Sind ihre schweren traurigen Satzgirlanden das von den Vorfahren geerbte Gedächtnis des Ghettos, der Pogrome – also ein Musterschmerz. Als hätten die Wörter niemanden mehr außer ihr.
Mir scheint, Cecilia Nussbaum lässt die Wörter flattern bis sie böse werden, um selbst nie böse sein zu müssen.
„Du bist ein Niemand. Verstehst du, schrie sie, ein Niemand. In meinen Augen bist du eine große Null, ein großer Niemand. Ich schaue durch dich hindurch. Du bist Luft für mich. Das sagte sie zwecks größeren Nachdrucks mehrmals. Ein Niemand, eine Null, ein Nebbich. Kleine Rotznase, kreischte sie. Wie ist denn das möglich, dass eine solche kleine Rotznase so mit mir umgeht. Es ist aus. Du bist nicht mehr mein kleiner Enkel. Ich verleugne dich. Auch meinen Fingerring mit dem Türkis wirst du nicht erben, sondern Mártilein. Ich verstoße dich. Merk dir das auf ewig. Von mir wirst du nichts, aber auch gar nichts erben. Ich verstoße dich auf ewig aus der Familie. Sie brach in lautes Schluchzen aus, riss über dem Busen an ihrer Kleidung.“
Cecilia Nussbaum liebt das Kind, dem sie das sagt. Mir scheint, sie bettelt ihre eigenen Worte an. Sitzt in der Liebe nicht sowieso Angst und die sanfteste Art der Erpressung. Péter Nádas sagt, in ihren Ausbrüchen war „nichts Persönliches und Familiäres, es trieb vielmehr das Familiäre aus der Person hinaus.“
Das Porträt der Cecilia Nussbaum ist ein grandioses Sprach-Porträt. Sie verausgabt sich in ihrer kleinen Welt, die wahrscheinlich überhaupt nicht klein ist, sondern eine große Verlorenheit, ein Außer-sich-sein. Péter Nádas spricht von „Ichlosigkeit“.
Und am Ende ihres Lebens und am Ende dieses Buches wird Cecilia Nussbaum dement und verliert sogar die Zusammenhänge ihrer Kochkunst. Und sie macht Einbrenn mit Waschpulver. Sie verlernt das Kochen und der Großvater verlernt das Reden.
Großvater Tauber sitzt „ganze Tage lang auf einem höchst unbequemen Stuhl“. Kerzengerade mit den Händen zwischen den Knien und schaut in den Garten. „Er sagte nichts, fragte nichts unaufgefordert sprach Großvater seit Jahren nicht mehr, schon gar nicht von sich selbst,“ schreibt Nádas.
Aber bis es soweit ist, stellt sich Cecilia Nussbaum mit ihren Worttiraden der Existenz. In ihrer Person wird das Elementare undurchdringlich. Das Gewöhnliche kriegt ein Gewicht, das wehtut. Und ich glaube, gerade von diesem Sprechen hat Péter Nádas schon damals als Kind auf eine beiläufige Weise gelernt, das schrille und stumme Gewicht der Wörter zu empfinden, zu insistieren bis es dem Gesagten selber wehtut. Es geht ums Suchen im Wort. Und wenn Nádas die feinste Nuance hat, konstatiert er: „Das war das Wort.“ Oder: „Das war das Wort dafür.“
Geboren wird Péter Nádas 1942. Über die ersten Jahre seiner Kindheit, als Budapest von den Nazis belagert und bombardiert wurde, schreibt er: Die Menschen waren in dieser Stadt „nicht einfach mutig, sie waren tollkühn.“ Die jüdische Familie lebt versteckt mit gefälschten Dokumenten und hilft auch anderen Familien mit Verstecken und gefälschten Dokumenten. Großvater Tauber benutzt dafür chemische Substanzen, die er aus seiner Goldschmiedewerkstatt bestens kennt. Man nennt es Papierwäsche. Man löscht die Daten und trägt neue Daten ein „mit brauner, blauer oder schwarzen Tinte, die nach alten Rezepten hergestellt und auf verblichen frisiert war.“ Es war „Präzisionsarbeit“. Stempel und Unterschriften mussten intakt bleiben. Mit den gleichen Substanzen dieser chemischen Reinigung wurde in dieser Hungerszeit auch das wenige Fleisch, das man hatte, haltbar gemacht.
Nádas schreibt: Magda und Klára, also seine Mutter und seine Tante mussten die gefälschten Papiere kurz vor der Dämmerung an die konspirativen Adressen verteilen oder einem Kontaktmann übergeben.
„Sie waren Freiwild. Jede militärische Streife konnte sie jederzeit abknallen. Die Gestapo und die Pfeilkreuzler hatten Folterkammern. Sie arbeiteten mit originellen mittelaterlichen Instrumenten, Halsschrauben, Daumenschrauben oder Spießen, die in den Enddarm getrieben wurden.“ Menschen verschwanden und tauchten nie wieder auf. „Ein Verschollener zu sein,“ schreibt Nádas „war in den Jahren nach der Belagerung eine eigene Existenzform.“ In dem Wort „verschollen“ war noch Hoffnung. Das Wort Tod wurde gemieden, es wäre ja endgültig gewesen.
Über die Mutter Klára und ihre Schwägerin Magda schreibt Nádas, sie „hatten sich gern und verstanden sich, das Gefühl der Gemeinsamkeit ließ ihre Freundschaft bestimmt noch wachsen; die gemeinsame Familie und das gemeinsame Genossentum verliehen ihnen gewissermaßen einen Zusatz an Sicherheit. Aber sagen wir doch auch, dass sie sich eine Prise betonter liebten, als es sich damals für Frauen schickte, eine andere Frau zu mögen. Ich glaube, dieser aus späteren Zeiten stammende Eindruck ist nicht falsch, auch weil meine Mutter in ihrer Brieftasche aus Schlangenleder das Bild einer Frau aufbewahrte. Als ich sie einmal fragte, wer diese Frau sei, errötete sie regelrecht, sie, die sonst nie errötete, sie war nicht der Typ, sie sprach den Namen der jungen, struppig kraushaarigen Frau mit zärtlicher Verehrung aus.“ Sie sagte, die Frau sei „zu ihr in irgendein kommunistisches Seminar gegangen, und die Pfeilkreuzler hätten sie auf offener Straße ermordet.“
Péter Nádas sagt, dass in dieser gefährlichen Zeit eine Zuneigung unter Genossinnen entstehen musste, weil sie so maßlos aufeinander angewiesen waren. Und weil sie denselben Zukunftsglauben an den Kommunismus hatten. An diesen ersten ehrlichen Wunsch-Kommunismus, dessen Ideale dann, wie man weiß, schon zu Beginn so schäbig ruiniert wurden. Denn schon die ersten Wahlen 1947 wurden gefälscht.
Nádas sagt, dass die Zuneigung unter Genossinnen „von anderen Arten der Zuneigung abweicht und ganz bestimmt von einer kleinen lesbischen Tendenz gefärbt war.“ Und er sagt auch: „Es gibt kein politisches System und keine intellektuelle Bewegung, die keine Verirrung kennt und in denen der Eros nicht in die unmittelbare Nähe der politischen Überzeugung gerät.“
Nádas‘ Feststellung über den Eros in den Gruppen politisch Verfolgter erklärt mir für mein eigenes Leben in der Diktatur sowohl die riskante Treue als auch den profitablen Verrat.
Und genauso wichtig ist für mich Nádas‘ Unterscheidung zwischen Zuneigung und Liebe. Die Zuneigung ist empfindsamer als die Liebe. Nádas zeigt, wie trotz ständiger Differenzen die Familien-Liebe abstumpft, aber dennoch vorhanden bleibt. Aber die Zuneigung verlöscht, weil sich die Eltern nach 1945, immer mehr in den schäbigen Kommunismus verstricken.
Die Mutter verliert ihre freche Wärme, ihre sinnliche Intelligenz. Und der Vater hat statt seiner geduldigen Erklärungen für das Kind nur noch knappe Sentenzen. Das Wort Vernunft, das so grundlegend in der Familie war, wird diffus. Vernünftig blieben sie vielleicht – aber vernünftig im Opportunismus und mit immer mehr Angst vor der sowjetisch dirigierten Hetze. Es sind die Stalin-Jahre, wieder kann jeder verhaftet werden, diesmal von den eigenen Genossen als Sektierer oder Verräter. Es wird gesäubert. Das Wort „abhängen“ wird zum normalen Begriff fürs Ermorden. Diese bürgerlichen Eltern erklären sich zu Proletariern und wissen jeden Tag, dass sie es nicht sind. Sie verbiegen sich, bis sie nicht mehr wissen wollen, wie der ehrliche, der Wunschkommunismus aussah, wie sie selber früher einmal waren.
Zu alldem fällt mir wieder das Wort „Ichlosigkeit“ ein. Doch die Eltern verlieren sich in ihrem politischen Aufstieg ganz anders als Cecilia Nussbaum. Nádas sagt, sie waren „nicht mehr die Repräsentanten der Wirklichkeit, sondern die Gefangenen des Scheins.“ Sie werden zum Scheinproletariat. Und immer dabei – die verdammt reale politische Angst vor den Denunzianten in der Partei, vor den Worten Sektierer und Verräter. Die Willkür der Säuberungen wird trotzdem als Notwendigkeit akzeptiert. „Denn es beschäftigte mich“, schreibt Nádas „was geschehen würde, wenn sich auch von unseren Eltern (er hat einen vier Jahre jüngeren Bruder Pál) herausstellen sollte, dass sie Verräter sind. Auch ich würde dann geschnitzt werden.“ Die Mutter hatte ihm nämlich gesagt, die Kinder der Verräter werden „in ein Institut gebracht und dort zu anständigen Menschen geschnitzt.“ Aus der Zeit der Belagerung wissen diese Eltern, wie kostbar das Wort ANSTÄNDIG ist, weil es Leben gerettet hat, auch ihr eigenes. Und jetzt stellt die Mutter dieses Wort zur Disposition und benutzt es im Sinne der Partei und macht es so schäbig wie die Zwangsadoptionen selbst. Die Eltern werden gezwungen in eine leere Villa zu ziehen, aus der die Besitzer vertrieben wurden. Jetzt wohnen dort nur hohe Funktionäre und der Diktator Rákozi. Es ist ein Sperrgebiet. Die Budapester nennen es „Kaderberg.“ In der Villa wird auf Geheiß der Partei alles Prachtvolle demoliert. Es gibt eisige Winter, aber keine Heizung mehr. „Ich stand in den leeren Zimmern“, schreibt Nádas. „Ich stand im schmerzhaft hellen Wintergarten. Tat in den leeren Zimmern rein gar nichts. Ich ging von einem zum anderen. Die leeren Zimmer besetzten mein ganzes Wesen, alles was ich war und bin. Daraus bin ich entstanden. Ich musste sie jeden Tag betrachten, ihre Stille hören.“
Nádas ist jetzt sieben Jahre alt. Er erinnert sich an den langen Zaun mit den Wachhunden um die Rákozi-Villa: Die waren „auf den Mann scharf gemacht“. Und manchmal sah er drei gleiche Autos mit weißen Spitzenvorhängen und in einem davon saß Rákozi.
Beim Lesen von Péter Nádas Büchern entstehen immer Überblendungen. Ist es der Blick des Fotografen? Die weißen Spitzenvorhänge werden so gruselig wie die weißen spitzen Zähne der Hunde.
Als Stalin stirbt, ist Péter Nádas elf Jahre alt. Er schreibt: „Ich blieb mit meiner Erschütterung über Stalins Tod in der Familie sozusagen allein. Ich bat meine Großmutter Cecilia Nussbaum um einen schwarzen Stoff, vielleicht habe sie so einen in ihrem Flickensack, denn die Wandzeitung in der Schule war noch am nächsten Tag rot gedruckt. Das durfte nicht so bleiben. Sie fand nur ein altes schwarzes Unterkleid. Ich zerschnitt es, trennte die Spitzen ab und fasste die Tafel der Wandzeitung damit ein. Meine Mutter schien eher befremdet, als wäre sie angewidert von dem, was sie und mein Vater mir eingegeben oder in mir geweckt hatten. Genau das war das große Problem ihres Lebens,“ sagt Nádas. Er merkt immer öfter, dass die Eltern „methodisch und übereinstimmend logen“. Der Vater ist im Ministerium zuständig für die Lorenz-Maschine, für die verschlüsselte Kommunikation und das Abhören von Gesprächen. Ihn fährt ein Chauffeur und die Mutter hat einen hechtgrauen Dienstwagen. „Aber soviel ist sicher,“ sagt Nádas, „dass unsere Eltern in den vier Jahren nach der Belagerung die Spitze ihrer Laufbahn erreichten.“ Auch die Tante Magda, die mit ihrem damenhaft herrischen Naturell immer schon dominant auftrat, und noch ungerührter Karriere macht. Und nie ins Straucheln kommt. Ihre Ichlosigkeit ist grenzenlos. Sie zweifelt nie an der Partei. Sie hasst noch im Alter die großen Renegaten Imre Nagy, Djilas, Koestler, Gide, „weil sie mit der Partei öffentlich brachen.“ Schwer herzkrank und gebrechlich, sagt sie den ungeheuerlichen Satz: „Mich darf nur meine Partei begraben, niemand sonst.“
Aber für die beiden Eltern wird der Parteigehorsam schon nach 4 Jahren zu viel. Sie sind ihrem bedingungslosen Gehorchen nicht mehr gewachsen. Nach innen schon lang nicht mehr und schließlich auch nach außen. Im überwachten Staat merkt man das schnell.
Es kommt die bittere Zeit des Abstiegs. Die Mutter rebelliert gegen die Familienpolitik Rákozis. Sie wird unbequem, dann lästig, dann untragbar. Sie wird herabgestuft. Entlassen muss man sie nicht mehr. Man weiß ja, sie hat bereits eine Krebsoperation hinter sich, man braucht nur noch ein bisschen Mitleid. Man wartet ab.
Und in derselben Zeit wird der Vater der Unterschlagung von Geldern beschuldigt. Er weiß, dass er unschuldig ist und kämpft besessen um sein Recht. Doch die Genossen Beamten lassen ihn fallen. Nádas sagt, „sie warten ab, waschen sich nicht mal das Haar, soll es ruhig fettig werden. Sie warten auf den neuen Mann. Mein tödlich getroffener Vater war an seinem Arbeitsplatz entlassen worden, es lief ein Verfahren gegen ihn, schreibt Nádas, wir saßen in der kalten Villa und hatten kein Geld. Zu meinem Geburtstag kaufte er mir 500 Gramm Paprika-Wurst zu zwei zwanzig. Das Festliche daran war, dass er stolz die teurere Wurst gekauft hatte. Das war mein letzter Geburtstag. Als ich das Geschenk aus dem fettigen Papier auswickelte, brauchte ich meine ganze kindliche Selbstdisziplin, um nicht loszuheulen. Ich deckte den Tisch, wie es sich gehört. Mit Damastservietten und silbernen Serviettenringen. An die nachfolgenden dachte mein Vater in seiner Qual nicht mehr, und das war auch gut so.“ Nádas sagt, die Eltern „stürzten stumm ins nichts.“
Die Mutter kämpft mit all ihrem Lebensmut gegen den Krebs. Nádas schreibt: „Meine Mutter war schon todkrank, als sie mir zwischen zwei Krankenhausaufenthalten die Grundschritte der Gesellschaftstänze beibrachte, Tango, Foxtrott, Slowfox, aber auch Walzer, Polka und Csárdás. Ihr verstümmelter Körper erstrahlte. Ihre Tanzleidenschaft übertrug sich auf mich oder ich hatte sie geerbt.“ Von Cecilia Nussbaum hatte der 11-jährige Péter Nádas sich unter der Hand das Kochen abgeschaut. Er kocht jeden Tag ein Essen und bringt es der Mutter ins Krankenhaus. Er wäscht und bügelt, bringt ihr auch jeden Tag frische Wäsche.
Herzzerreißend ist die Szene mit dem 1. Mai-Umzug:
Auf der Tribüne, „die Genossen in ihren ungeschlachten Moskauer Mänteln.“ Unten die Mutter mit der Armbinde zuständig für den reibungslosen Ablauf der Arbeiterbrigaden, die an der Tribüne vorbeiziehen. Sie hat ihr 11-jähriges Kind an der Hand. Und ganz zuletzt, am Ende des Umzugs passiert es. Sie läßt seine Hand los, reißt sich die Armbinde ab und beginnt damit in Richtung Tribüne zu winken. „Winke auch du“, sagt sie. Sie hebt die Arme und schwenkt, so todkrank wie sie ist, die Armbinde und ruft hysterisch glücklich: „Esleberákozi, Eslebediepartei, Esleberákozi, Eslebediepartei, was nur ich hören, nur ich sehen konnte, niemand sonst und ich weiß nicht, warum, aber ich konnte nicht mitwinken.“
Die Mutter, obwohl todkrank und degradiert, versucht noch einmal verzweifelt eins mit der Partei zu sein. Es ist ein Rückfall in die alte Ichlosigkeit. Es ist ein tragisches Aufbäumen gegen die Krankheit und eine hilflose, irrationale und imaginäre Versöhnung mit der Partei.
Die Mutter stirbt zwei Wochen später mit nur 46 Jahren.
Der Vater verliert den Halt. Drei Jahre später, mit 49 Jahren nimmt er sich das Leben. Er schreibt einen Abschiedsbrief an die Partei und bittet um Verzeihung, dass er auch die beiden Kinder Péter und Pál „mitnehmen“ wird. Und als er merkt, dass er das nicht übers Herz bringt, ergänzt er den Brief und entschuldigt sich, dass er die Kinder den Genossen und ihrem Schicksal überlassen muss.
Auf der ersten Seite der „Aufleuchtenden Details“ steht das rätselhafte Motto: „Als ich an dem Mittwoch“. Dieser abgebrochene Satz hält das Buch in der Schwebe. Erst auf Seite 870 wird er ausgeschrieben und lautet: „Als ich an dem Mittwoch geboren wurde.“ Gemeint ist der Mittwoch des 14. Oktober 1942. Ein Geburtstag für ihn, und ein Todestag für 1947 Juden im Ghetto von Misotsch in der Ukraine. Der Tag an dem Nazis sie ermordet haben. „Meine Mutter hätte doch sehen können, in was für eine Welt sie mich hinausstieß,“ schreibt Nádas. „Jetzt mit 74 Jahren sage ich, dass ich mich im weggemachten Zustand besser gefühlt hätte, denn als Überlebender.“
Auf der letzten Seite des Buches spricht Nádas vom „zweimaligen Verbluten“ in seinem Leben. Von diesem Mittwoch der Geburt und vom blutigen Ende der ungarischen Revolution 1956. Sie dauerte nur 13 Tage. Dann kamen Scharfschützen und Panzer aus Moskau. Und das Blutbad. So infam wie heute in der Ukraine behaupteten die Russen auch damals, in Budapest gegen Faschisten zu kämpfen. Was 1956 geschah, war eine „epochale Trennung“ Ungarns vom westlichen Europa. Und was Orban heute treibt, ist zwar kein drittes Verbluten im Leben von Péter Nádas, führt aber in die gleiche Richtung und ist ein Desaster für Ungarn.
Dieses Erinnerungsbuch ist monumental und filigran. Es ist eine Kartografie der Gefühle, ein Heimatbuch auf der Haut, ein Kindheitsepos. Es ist sogar ein poetisches Sachbuch des osteuropäischen Sozialismus. Und es ist ein Buch gegen jede politische Ichlosigkeit.
Ich möchte nur noch ein paar Sätze erwähnen, die mir im Herz pochen.
„Wie willst du dich denn in Lackschuhen retten lassen.“
Oder
„Wir haben einen Gott mit Tiernatur, er ist jeder menschlichen Handlung machtlos ausgeliefert, (…) insofern ist er wirklich allmächtig.“
Oder
„Im Leben gibt es Stunden, in denen man das Gefühl hat, die Luft bestehe aus Stoff.“
Es sind Sätze für immer.
Und der letzte Satz des Buches lautet: „Tut mit leid.“
Dieser gewöhnliche Satz meint etwas Fundamentales: „Ich sage es ohne Pathos und ohne Trauer, dass mein Leben im Zeichen eines zweimaligen Verblutens gestanden hat. Seither hasse ich nicht nur jegliche Tyrannei, sondern kann auch von den Schwächen, billigen Komödien und gefährlichen Voreingenommenheiten der res publica und der Demokratie den Kopf nicht abwenden. Tut mir leid.“


Am Abend des 6. Oktober wurde beim Lesefest „Literatur im Nebel“ in Heidenreichstein aus dem Erzählband Leni weint des diesjährigen Ehrengastes, des jüdisch-ungarischen Schriftstellers Peter Nádas, vorgelesen: „Menschen zu töten ist möglicherweise lustvoll und notwendig, aber keinesfalls einfach. Und eine größere Gruppe von Menschen zu töten ist besonders gefährlich und kompliziert“: Diese Beschreibung nationalsozialistischer Tötungsindustrie klingt im Nachhinein wie eine Vorahnung des Blutbades, das Hamas-Terroristen anderntags in Südisrael angrichteten. Nádas, der die Verwerfungen des vorigen Jahrhunderts zu mehr als tausendseitigen, sprachlich fulminanten Roamen verdichtete, wusste zu seinem achten Lebensjahr, wie er in seinem autobiografischen Roman Aufleuchtende Details schreibt, nicht, „dass er sich im Sinn der Nürnberger Gesetze von 1935 […] als Jude betrachten müsste“.
Am 7. Oktober, als frühmorgens die Hamas in Kibbuzim tötete, schändete, vergewaltigte, folterte, entführte, an diesem Tag würdigte Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller in Heidenreichstein ihren Freund und Kollegen Peter Nádas mit einem betörend klugen Vortrag. Dort die Entmenschung, hier die Menschlichkeit.
„Es gibt kein Vergessen, nicht einmal dann, wenn wir uns zu unserem größten Glück nicht an alles erinnern“, heißt es bei Peter Nádas. Das gilt insbesondere auch für diesen 7.10.2023.

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