Meine Reisen nach Sefarad führen mich zu mir

Sie geht durch ihre Wohnung im Wiener Servitenviertel, ihr leichtfüßiger Sopran schwingt wie früher durch die Räume. Es ist fast zwanzig Jahre her, seit ich zuletzt hier war, Gesangstunden nehmen. Die Escribano hat sich kaum verändert. Und die Wohnung auch nicht. Gemütliches Kreativchaos, überall Noten, Texte, Bücher, CDs. Sie springt auf einen Sessel, um von einem Kasten ein Plakat ihrer „Sefardischen Lieder“ herunterzuholen, zieht es unter Schachteln mit weiteren Musikalien hervor. „Marie-Thérese“, sage ich, „im Internet habe ich heute einen Hinweis gefunden, Jahrgang 1926?. lächerlich. Das muss ein Irrtum sein.“
Von Helene Maimann (Text) und Peter Rigauld (Fotos)

Als König Nimrod auf das Feld ging
Schaute er auf zum Himmel und zum Sternenzelt
Und er sah ein heiliges Licht über der Judenheit
Das die Geburt unseres Vaters Abraham ankündigte
Abraham, lieber, heiliger Vater
Licht Israel

Marie-Thérèse hält mir das Plakat hin, wedelt ungeduldig mit der freien Hand: „Kein Irrtum. Schau mich nicht so ungläubig an. Es geht mir auf die Nerven, wenn man mich mit dem „noch“ konfrontiert. Das macht uns Frauen schwächer, dieses „noch“. Welchen Mann würde man so was fragen? Was, die lebt immer noch? Singt immer noch? Macht immer noch neue Programme?“ Ihre Augen funkeln. „Achtzig. Was ist das schon? Eine Zahl. Ich fühle mich nicht alt. Ich habe immer noch Lampenfieber, vor jedem Auftritt. Klar, die Natur ist nicht besonders barmherzig, der Körper gibt nach, ich werde schneller müde als früher. Aber ich habe viel zu tun. Was Neues machen, was Neues lernen. Der Sinn des Lebens ist Lernen.“

Sie ist eine Neuerin. Sie hat in ihrer Karriere viele und in der Kombination sehr ungewöhnliche Felder besetzt. Sie hat Oper gesungen, zeitgenössische Musik, alte Volkslieder und nicht ganz so alte Schlager, Kabarett.
Ein erfülltes Sängerinnenleben, noch lange nicht zu Ende.
In Paris geboren und dort die ersten sechs Jahre aufgewachsen, dann mit den Eltern nach Madrid gezogen, belgische Mutter, spanischer Vater. Das war für ein Kind, das Mitte der zwanziger Jahre zur Welt kam, bereits ein Fenster zur Welt und nach dem Zweiten Weltkrieg auch die Möglich­­­keit, dem faschistischen Regime des Diktators Francisco Franco den Rücken zu kehren. „Da meine Mutter Belgierin war, konnte ich nach Brüssel gehen, Musik studieren, es war eine Erlösung. 1955 kam ich nach Wien, ohne einen Groschen Geld. Das machte aber nichts. Für mich war Wien eine wunderbare, aufregende Stadt, die Musikhauptstadt Europas, und das Wichtigste war die Musik. Ich habe Operngesang studiert und kurz darauf die Moderne entdeckt. Und ich habe die Juden entdeckt.“

Ir mi quiero, la mi madre, por esos mundos me iré / Y en medio de aquellos campos / Una choza me fraguaré / Todo hombre pasajero aliento lo entraré / Que él me cuente sus ansias, yo las mias le contraré

Ich will weg, Mutter, in die Welt, ja, ich werde gehen / Inmitten der Felder werde ich mir eine Hütte bauen / Jeden Mann, der vorbeigeht, werde ich einladen herein zu kommen / Er soll mir seine Sehnsüchte erzählen, ich ihm meine …

„Ich werde oft für eine Jüdin gehalten, ich bin es nicht und fühle mich ihnen doch sehr nahe. Mein Weg hat mich zwangsläufig zu den Sefarden geführt, könnte man sagen, auch wenn es eine Weile gedauert hat. Zuerst habe ich die Ostjuden entdeckt. Kaum war ich in Wien, habe ich meinen Mann kennen gelernt, den Bildhauer Erwin Thorn, und zwanzig Jahre lang mit ihm gelebt. Er ist ein Aschkenas, in Palästina aufgewachsen, und von ihm habe ich natürlich viel über die Ostjuden gehört. Über die Westjuden wusste ich wenig, vor allem nichts über ihre Musik. Die spanische Kirche hat jede Erinnerung an die Sefarden so gut es ging unterdrückt.“ Sie wurde traditionell katholisch erzogen, das war selbstverständlich, unausweichlich. „Aber mein Vater“, sagt die Escribano, „war nur der Form halber katholisch. Als junges Mädchen, da war er schon tot, ist mir aufgegangen, dass er jüdische Wurzeln gehabt haben könnte. Er stammte aus Córdoba, aus Andalusien, dem Zentrum der Judenspanier. Und dann der Name: Escribano, der Schreiber. Schreiber waren meist Juden. Er kommt wahrscheinlich aus einer Marranenfamilie.“

Sie zeigt mir ihre Bücher über den Aufstieg und Untergang der Sefarden. Sefarad, hebräisch für das westliche Land am Mittelmeer, erlebte wie Nordafrika vom 9. bis zum 11. Jahrhundert unter den Arabern und den moslemischen Mauren das Goldene Zeitalter der jüdisch-arabischen Kultur. Die Sefardim waren die Alteingesessenen in Spanien, die ersten sollen schon nach der Zerstörung des Ersten Tempels hierher gekommen sein und bildeten die größte Juderia in Europa. Dann gerieten sie in die tödliche Auseinandersetzung zwischen Islam und Christentum. Vertrieben von ihren einflussreichen Positionen an den maurischen Höfen in Sevilla und Granada, stellten sie sich als loyale Organisatoren der Reconquista, der Wiedereroberung Spaniens von den Mauren, in den Dienst der Katholischen Könige, vierhundert Jahre lang: als Hofbürokratie, als Financiers, als Diplomaten, Steuereintreiber, Verwalter, Intellektuelle, als städtisches Patriziertum, als exzellente Handwerker. Sie waren der Kitt im Spanien der drei Religionen, der drei Ringe gewesen. Sie hielten sich für unersetzlich, aber, wie sich am Ende der Reconquista herausstellte, es half ihnen nichts.

Unter den Sefarden waren große Herren, reich, hoch gebildet, elitär, aristokratisch, und sie haben sich diese Haltung, stolze spanische Juden zu sein, bewahrt, als sie schon längst in alle Winde zerstreut waren. Das Ende kam 1492. Im „Jahr der Wunder“ entdeckt Christoph Kolumbus Amerika; schreibt Antonio de Nebrija die erste Grammatik einer lebenden europäischen Sprache, nämlich der kastilischen, jener Sprache, die bis heute als „spaneol“ von den Sefarden gesprochen wird; fällt Granada an die Katholischen Könige, die damit die Reconquista abschließen; und beginnt die Massenvertreibung der Juden. 1492, annus mirabilis. Für die Juden (und die Mauren) annus horribilis. Wer kann und die Gefahren auf sich nimmt, flüchtet, in die Niederlande, in die Türkei, an die Adria, nach Nordafrika, nach Indien. Der Ablauf dieser Vertreibung ist vom Verwaltungsapparat der Katholischen Könige bis ins kleinste Detail geplant. Vier Monate haben die Sefardim Zeit, an die zweihunderttausend verlassen Spanien. Ihr Hab und Gut müssen sie zu Schleuderpreisen verkaufen, alles Gold und Silber zurücklassen und eine hohe Fluchtsteuer zahlen. Mit sich nehmen sie etwas Handgepäck, ihre Netzwerke, ihre Erinnerungen, ihre Sprache und ihre Lieder.

Arvoles lloran por luvia / Y montanas por aire / Ansi lloran mis ojos / Por ti querido amante / Lloro y digo qué va a ser de mi / En tierras ajenas me vo morir.

So wie die Bäume um Regen weinen / Und die Berge nach Wind/ So weinen meine Augen um dich, Liebster / Ich denke nach, was wird aus mir / Ich werde in fremden Ländern sterben.

Die Kirche predigte seit dem 12. Jahrhundert gegen die jüdische Gefahr. Spanien, das christliche, reine Spanien gehe unter, wenn es sich nicht von den Juden und Mauren säubere. Seit 1391, dem Jahr der ersten Pogrome, steigt die Zahl der Conversos, der Bekehrten, stetig an. Zumeist sind es Zwangsgetaufte. Manche werden diensteifrige Renegaten und machen brillante Karrieren. Manche werden religiöse Fanatiker, glühende Propagandisten ihrer neuen Konfession. Andere, viele, auch berühmte einflussreiche Familien, halten im Geheimen am Judentum fest. Mitte des 15. Jahrhunderts waren die Neuchristen den Juden an Zahl bereits überlegen. Diesen Conversos oder Marranos galt das volle Misstrauen der Kirche. Vielleicht stammt das Wort aus dem altkastilischen „marrano“, Schwein, vielleicht vom arabischen „mahran“, verboten. Marranos, die Verfluchten, die Verdammten, die Schweine, das waren die getauften Juden und ihre Kinder und Kindeskinder, äußerlich Christen, im Herzen Juden.

Dió de los cielos, Patrón de l muno y de las alturas / Hazeme conocer muy muy presto la mi ventura / En abaxando de la scalera, vidi una sangre correr / Es la sangre de mi morena, que es más dulce que la miel …
Gott im Himmel, Herr der Welt und des Himmels / Lass mich
schnell mein Schicksal erkennen / Ich ging die Treppe hinunter und sah Blut fließen / Es ist das Blut meiner Geliebten, süßer als Honig …

1480 wird das erste Inquisitionsgericht eingerichtet. Es ist die Stunde der Denunzianten, des Gesinnungsterrors, der Gehirnwäsche, der Schauprozesse, der Enteignungen, der Veruntreuungen, der verzweifelten Versuche, sich freizukaufen. Christlichen Familien werden umständliche Untersuchungen auferlegt, ob sie frei seien vom schändlichen jüdischen Blut. Das geht nicht ohne Widerstand vor sich, unter den Verteidigern der Juden sind Bischöfe, Teile des Hochadels, Mitglieder der städtischen Oligarchien, ganze Stadtregierungen. Die Inquisition setzt sich durch. Die Conversos, die unter Verdacht fallen und nach peinlicher Befragung gestehen oder nicht gestehen, dass sie heimlich Juden geblieben sind, werden in feierlichen Autodafés dem Scheiterhaufen übergeben, halbtot nach quälender Folter. Sie sind eine Pest, auszulöschen, auszurotten.

Terror in Spanien, Terror in Portugal. Er brannte sich in das Gedächtnis der Juden ein, und erst die Vertreibung und die Shoah durch die Nationalsozialisten fast fünfhundert Jahre später stellte ihn in den Schatten. Der Wahn vom reinen Blut und die Mechanismen der Verhetzung, Enteignung, Deportation und Vernichtung sind ein finsteres Déjà-vu der Tragödie, die sich auf der Iberischen Halbinsel abgespielt hatte.

Marie-Thérèse kocht Tee, während ich in ihren Büchern und Noten blättere. „Als ich Genaueres erfuhr über die Verfolgung der Juden und Marranen, war das ein Schock. Ich fühlte, das ist auch Teil meiner Geschichte, schließlich bin ich Spanierin. Wieso war jede Erinnerung daran verschwunden? Und dann, Mitte der siebziger Jahre, habe ich hier in Wien zum ersten Mal sefardische Lieder gehört, von einer Spanierin gesungen. Volkslieder, mittelalterliche Balladen, Romanzen in altspanischer Sprache. Ich war fasziniert.“

Einen Konzertaufenthalt in Madrid nützt Escribano, um mehr zu erfahren. Sie hört von der Cembalistin Alice Laroche, dass sie ein Buch mit sefardischen Liedern besitzt, „Cantos de boda judeo-españoles“ von Manuel Alvar. Alvar hatte sich in Bulgarien, in Izmir, in Sarajevo und Saloniki von alten sefardischen Frauen ihre Lieder vorsingen lassen und diese niedergeschrieben. „Ich habe die Dame aufgesucht, sie gab mir das Buch und sagte: Sie haben eine Stunde Zeit, dann muss ich leider weg, ich verreise. Also bin ich gelaufen, um das Buch zu kopieren, so viel ich eben in der kurzen Zeit konnte, etwa dreißig Lieder waren es. Dann brachte ich das Buch zurück. Ich hatte nun Noten und Texte von Liedern, die fast alle mündlich überliefert worden sind, von den Müttern auf die Töchter, klassische spanische Volksmusik. Lieder über Könige, Prinzen und Ritter, Liebesgeschichten, Alltagsszenen, vielfach aus weiblicher Perspektive erzählt. Sie weisen eine große Zärtlichkeit auf, vor allem zwischen den Geschlechtern, es gibt aber auch Lieder, die unverblümt Affären schildern. Ich begann, die Lieder zu lernen und zu singen.“

Ah mujer, la mi mujer, quen stornuda en esta caxa? El gatico de la vesina, ratonicos mos apana, también de la madrugada …

Ach Frau, wer niest in diesem Schrank? Die Katze der Nachbarin, sie jagt unsere Mäuse …

Als Simon Wiesenthal, erzählt sie, 1984 seine Kolumbus-Biografie „Segel der Hoffnung“, das sich mit den jüdischen Wurzeln des großen Seefahrers auseinandersetzt, in Salzburg präsentiert, singt sie zum Auftakt sefardische Romanzen, und nicht alle gefallen ihm. „Sehr schöne Musik“, befindet er nachher, „aber das mit der Frau, die ihren Liebhaber im Kasten versteckt hat, das war wirklich geschmacklos.“

Damals hat sich Marie-Thérèse Escribano von ihrer ersten und zweiten Karriere bereits verabschiedet. Seit 1959 hatte sie sich einen Namen als Avantgarde-Sängerin gemacht, ihr Debüt unter Friedrich Cerha war das erste Konzert des
legendären Ensembles „die reihe“. Sie sang die Wiener Schule und die europäischen Neuerer, Berg, Webern, Schönberg, Strawinsky, Ravel, Ligeti und völlig ausgefallene japanische Komponisten. Sie sang unter Pierre Boulez, Lorin Maazel und immer wieder Friedrich Cerha Konzerte in ganz Europa und in den USA. Dann verließ sie die Neutöner und betrat ein neues Land: das der alten Musik. 1965 begründete sie das Ensemble „Les Menestrels“ mit, zehn Jahre lang blieb sie bei der bis heute erfolgreichen Gruppe. Dann fängt sie wieder etwas Neues an: Sie entdeckt die Frauenbewegung und ihr kabarettistisches Talent, beginnt eigene Soloprogramme zu schreiben, komödiantische Kammerstücke mit Musik. Und sie singt mit Aron Saltiel und dem Grazer Gitarristen Wolfram Märzendorfer als Gruppe „Alondra“ sefardische Romanzen. Später, mit der Gruppe Limón, Eleonore Petzel und Judith Keller: „Canciones Sefardies“.
Mit Aron Saltiel, Sefarde aus Istanbul, seit 1973 in Öster­reich, Musiker und Psychotherapeut in Graz, ist Escribano seit 1978 freundschaftlich verbunden. Drei Jahre später kamen die ersten und einzigen Aufnahmen heraus, als Musikkassette habe ich sie jahrelang im Handschuhfach meines Autos herumgeschleppt (so wie auch Saltiels „Jiddische Lieder“, die er singt, als wäre er damit aufgewachsen). Die Gruppe „Alondra“ war im deutschen Sprachraum bahnbrechend für die Wiederentdeckung der sefardischen Lieder. Escribano brachte ihre Stimme ein, ihren hellen, silbernen Sopran, ihr großes technisches Können und Saltiel die Authentizität der Sprache, seine Verwurzelung in der turko-sefardischen Kultur und viele neue Lieder. „Sie hat sich ja zehn Jahre lang intensiv mit mittelalterlicher und Renaissance-Musik beschäftigt und natürlich sehr bestimmte Vorstellungen gehabt, wie so eine Musik zu singen ist“, sagt Saltiel. „Ich wiederum habe die orientalische Tradition vertreten. So haben wir lange miteinander an diesen Liedern gearbeitet, auch an der instrumentellen Begleitung, denn die ist nicht festgelegt, meistens werden die Lieder a cappella gesungen. Marie-Thérèse hat sich leidenschaftlich für diese Musik und ihren Hintergrund interessiert, so wie ich dann später die Welt der Ostjuden entdeckt habe, die Lieder, die Sprache, die Niggun, den Chassidismus.“

1992, als Spanien sich selbst, Kolumbus und die Entdeckung Amerikas feiert, sucht Escribano in Madrid nach den Spuren der Inquisition und bringt das Programm „Fernando, Isabel und die Juden“ heraus. „Es hat mich empört“, sagt sie, „dass 1492 als das Jahr der Vertreibung so untergegangen ist in all den Festlichkeiten. Die spanische Krone hat eine Fülle von Gesetzen gegen die Juden erlassen, ich habe sie ausgehoben, übersetzt und zum Thema des Programms gemacht. Immer, wenn ich sefardische Lieder singe, spüre ich auch die Geschichte dieser Lieder, die langen Reisen, die sie mitgemacht haben. Das alte Spanisch, das die Sefarden singen und noch heute sprechen, ist eine wunderbar reine Sprache, von einer großen Klarheit. Es ist die Sprache von Cervantes, jeder Spanier kann sie verstehen. Ich liebe nicht nur die Lieder, sondern vor allem auch die Sprache, die durch die Sefarden lebendig geblieben ist. Meine Reisen nach Sefarad haben mich zu mir geführt, ich habe sehr viel gelernt dabei über das Land, in dem ich aufgewachsen bin.“

Jetzt hat sie ein neues Programm über das Älterwerden herausgebracht, unter dem Titel „50 bis 90+“, ein Thema, das sie schon wiederholt beschäftigt hat. Vor kurzem hat sie eine neue CD eingespielt, „Canciones de seda verde“. Sie hat eben eine hohe Auszeichnung der Stadt Wien erhalten. Sie unterrichtet. Sie hält Workshops über Stimmbefreiung ab. Auf ihrer Homepage zitiert sie am Ende ihrer künstlerischen Biografie einen mittelalterlichen Vers, der Walther von der Vogelweide zugeschrieben wird:

Ich leb, weiß nit wie lang
Ich sterb und weiß nit wann
Ich fahr, weiß nit wohin
Wunder nimmt‘s mich
Dass ich fröhlich bin

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