Man muss kein Jude sein, um diese Musik zu lieben

Chorsingen ist keine jüdische Tradition. Denn es gibt keine jüdischen Chorlieder, nur jüdische Lieder. Der „Wiener Jüdische Chor“ ist dennoch zur Gesangsheimat vieler Juden und Nicht-Juden geworden.
Von Rosa Lyon

Die Lieder kennt Timothy Smolka von seinem Großvater. Auch eine Tante, bei der er als Kind viel Zeit verbrachte, hat sie ihm vorgesungen. Seine Auftritte im jüdischen Chor holen für ihn ein Stück Kindheit zurück. Das sieht man ihm an. Das Funkeln seiner Augen akzentuiert seinen sonst gelassenen Gesichtsausdruck.

„Für Konvertiten ist die Religion die einzige Verbindung zum Judentum. Wer hingegen als Jude geboren wird, hat zusätzliche Verbindungen: die Geschichte, die Kultur und die Verfolgung über Generationen.“ Timothy Smolka wurde in England geboren. Erst in Wien hat er begriffen, dass er Jude ist. „Für uns als Kinder war es eher eine unangenehme Situation. Unser Vater war ein Linker und antireligiös. Juden waren wir eigentlich nur für die Antisemiten.“

Timothy Smolka besucht mittlerweile jede Woche die Synagoge. Aber er betet nicht. „Das hab ich nicht gelernt.“ In Israel war er noch nie in einer Synagoge. „Dort brauche ich das nicht, um mich zu definieren.“ Den Chor gibt es seit 1989. Anfangs wurde im jüdisch-pädagogischen Zentrum gesungen. Dann war kein Geld mehr da, erinnert sich Timothy Smolka. „Wir standen buchstäblich auf der Straße. Dann sind alle 30 Chormitglieder zu mir und meiner Frau in die Wohnung gekommen. Wir haben für die Probe immer das Esszimmer ausgeräumt. Eineinhalb Jahre lang.“

Dann beschließt der Chor, das erste Konzert zu geben. Herr und Frau Smolka mieten für 26.000 Schilling das Theater Akzent an. Das Konzert ist wider Erwarten ausverkauft. 1991 wird der Verein „Wiener Jüdischer Chor“ gegründet. Timothy Smolka ist seither sein Obmann.

Der erste Dirigent verlässt den Chor nach fünf Jahren. Timothy Smolka ruft Roman Grinberg an. Aber der winkt ab, um Jahre später doch zuzusagen. Seit 2002 ist Roman Grinberg nun Chorleiter. Er ist streng, verlangt viel. Bei der Probe wirkt er wie ein Löwenbändiger. Beim Konzert tanzt er fast beim Dirigieren. Die Arrangements schreibt er selbst. Das ist viel Arbeit. Denn es gibt keine jüdischen Chorlieder. Nur jüdische Lieder. Chorsingen ist schließlich keine jüdische Tradition.

Roman Grinbergs Vater war Klezmermusiker, seine Mutter Klavierlehrerin. „Meine Eltern haben die jiddische Sprache trotz des Verbots in der Sowjetunion als eine Art stillen Widerstand beibehalten. So sind wir Kinder mit Jiddisch als Muttersprache aufgewachsen. Was für ein Glück!“

Im Chor wird jiddisch, hebräisch und sephardisch gesungen. In den drei Hauptsprachen der Juden. Das aktuelle Programm ist allerdings fast ausschließlich jiddisch. Das liegt wohl auch daran, dass es Roman Grinberg ein Anliegen ist, die jiddische Sprache zu pflegen. „Auch wenn sie von vielen Wissenschaftern bereits als tot oder zumindest sterbend abgestempelt wird, glaube ich, dass die Chance durchaus besteht, durch das Singen jiddischer Lieder die Sprache zu erhalten.“ Für die Israelin Svetlana Kundish ist es eine besondere Herausforderung, jiddisch zu singen. Sie kennt die meisten Lieder. Allerdings in hebräischer Sprache. Ihre Mutter spricht Jiddisch, sie selbst hat es nie gelernt. Nur, weil sie jetzt Deutsch kann, versteht sie auch Jiddisch. „In Israel mögen wir diese Sprache nicht, wir verdrängen sie. Weil sie nicht israelisch ist. Sie gehört zur Diaspora, zur Vergangenheit. Es ist die Sprache der Alten.“

Vor drei Jahren zog Svetlana Kundish nach Wien, der Musik wegen. Der Chor ist für sie seit zwei Jahren wie eine Familie. „Nach der Sommerpause habe ich mich so gefreut, alle wieder zu sehen. Ein tolles Gefühl!“ Die Musik ist vertraut und bringt für Svetlana Kundish ein Stück Heimat nach Wien.

Die jüdische Musik ist auch für Roman Grinberg Heimat. „Mayn Schtetele Belz“ lautet der Titel jenes Liedes, das Roman Grinberg schon seit seiner Kindheit begleitet, stammt er doch aus Belz. „Meine geografische Heimat, den Ort, an dem ich geboren bin, habe ich verloren.“ Wien ist sein Zuhause, aber nicht seine Heimat. Er hat als Kind und Jugendlicher in Wien viel Antisemitismus und Ablehnung erlebt. „Es ist mir sehr schwer gemacht worden, eine neue Heimat zu finden.“

Der 50-köpfige Chor ist eine bunte Mischung. Die jüngsten Choristen sind 17 Jahre alt, die ältesten über 70. Es gibt mehr Frauen als Männer, immer zu wenig Tenöre, und mehr Juden als Nicht-Juden. Das wurde letztes Jahr deutlich. Da gab es einen Konflikt im Chor. Einen modischen Konflikt, erklärt einer der jungen Sänger, Florian Pollack. Es ging darum, ob die Männer bei Auftritten die Kippa oder eine andere Kopfbedeckung tragen. „In einer Übung haben wir uns aufgestellt: Juden auf der einen und Nicht-Juden auf der anderen Seite. Und natürlich gab es auch Menschen, die in der Mitte gestanden sind, zwischen den Juden und den Nicht-Juden.“ Aber es war nur eine der vielen Übungen, um einander besser kennenzulernen. Sonst ist die Zugehörigkeit zum Judentum kein Thema im Chor.

Man hat sich geeinigt. Jeder Mann kann sich aussuchen, ob er bei Konzerten eine Kippa oder eine andere Kopfbedeckung trägt. Florian Pollack kann verstehen, dass Nicht-Juden in einem jüdischen Chor singen. „Man muss kein Jude sein, um diese Musik zu lieben.“

Katzensteiner hat die jüdische Musik immer schon begeistert. „Sie bewegt etwas in mir“, erklärt die Christin, die seit vier Jahren dem Wiener Jüdischen Chor angehört. „Die jüdische Musik ist unheimlich facettenreich. Die meisten Lieder kommen mir bekannt vor. Ich kann es nicht logisch erklären.“

Sie lacht.

Auch Anna Burghardt ist katholisch aufgewachsen. Sie hat als Kind oft zu Hause Klezmermusik gehört. „Das Schwungvolle hat mich immer begeistert. Ich liebe diese Art von Musik.“ Und die Liebe zur Musik ist das Wichtigste beim Jüdischen Chor.

Die Musik bedeutet dem Vereinsobmann Timothy Smolka sehr viel. „Ich habe mit fast 60 Jahren die ersten Gesangsstunden genommen. Wenn es mir psychisch schlecht geht, ersetzt mir eine Chorprobe die Therapiestunde.“

Parallelen zu guten Therapiesitzungen kann auch so mancher Konzertgast ziehen. Lachen, Weinen und alle Grautöne dazwischen durchlebt man in einem einzigen Konzert. Bei „Yerushalayim shel zahav“ bleibt kein Auge trocken. Bei so mancher Zwischenansage bleibt keine Bauchdecke ruhig. Die Musik berührt, wühlt auf.

Am schönsten sind für Chorleiter Roman Grinberg jene Momente, in denen der Chor, wie er sagt, wie aus einer großen Seele singt. „Das ist ein unglaubliches Gefühl. Als würde ich fliegen. Natürlich hat man das nicht zwei Stunden lang. Aber es gibt Momente während eines Konzerts, da spüre ich, dass der ganze Chor mit mir abhebt.“

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