„Man muss der anderen Seite erst einmal zuhören“

Er ist unbequem, herausfordernd und überaus produktiv: Amos Gitai, hier in seinem Film „West of the Jordan River“ (2017), hat in mehr als vierzig Jahren über sechzig Dokumentar- und Spielfilme gedreht. FOTO: KINO INTERNATIONAL/EVERETT COLLECTION/PICTUREDESK.COM

Der Filmemacher Amos Gitai widmet sich in seiner Arbeit den Widersprüchen und Konflikten seiner Heimat. Ein Gespräch anlässlich seines aktuellen Theaterprojekts „House“.

Von Gabriele Flossmann

Fast wäre er Architekt geworden, wie sein Vater Munio Weinraub, der als Bauhaus-Schüler vor den Nazis nach Palästina geflüchtet war. Stattdessen wurde Amos Gitai zum Geschichtenerzähler. Mit seinen Filmen möchte er die Mauern zwischen Menschen einreißen, anstatt wie die Politik welche zu errichten. Zwischen Diaspora und Israel lebt er ein Nomadendasein und findet immer wieder Anknüpfungspunkte in der Bibel, etwa im Buch Kohelet: „Für alles gibt es eine Zeit, eine Zeit fürs Steine werfen und eine Zeit fürs Steine sammeln“.

Impulsgeber sind seine Familiengeschichte – Mutter Sabra, Vater Ashkenasi – und die Bibel. Kein anderer israelischer Filmemacher bringt so stark religiöse Texte ins Spiel. Sein Kino ist der Versuch, in einer Architektur des Realen zusammenzufügen, was auseinanderzufallen droht, im nomadischen Dasein und in der Orientierungslosigkeit Identitäten zu schaffen. Seine Filme sind Chroniken des Verschwindens, zugleich Utopien einer anderen Realität. „Seit dem Jom-Kippur-Krieg bin ich ein Zeuge, der aufgrund merkwürdiger Umstände überlebt hat, als mein Helikopter abgeschossen wurde. Ich bin extrem interessiert, fasziniert und verstört von diesem Land. Und ich denke, es braucht ein starkes Kino, kein schmeichelndes oder wohlgefälliges, sondern ein Kino, das sich mit der Geschichte Israels auseinandersetzt.“

Seine erste Arbeit entstand 1980, unmittelbar nach seiner Rückkehr aus den USA, wo er Architektur studiert hatte. In diesem 16mm-Dokumentarfilm House erzählt er die wechselhafte Geschichte eines Hauses und seiner Bewohner, beginnend mit dem ursprünglichen Eigentümer, einem palästinensischen Arzt, der 1948 aus dem Haus floh. Die israelische Regierung vermietete es unter dem „Abwesenheitsgesetz“ an ein algerisch-jüdisches Einwandererehepaar.

Zum Zeitpunkt der Dreharbeiten kaufte ein israelischer Wirtschaftsprofessor das Haus und beschloss, es von einem einstöckigen Haus in eine dreistöckige Villa umzubauen. Dafür musste er Palästinenser aus einem Flüchtlingslager anheuern und Steine aus den Bergen von Hebron verwenden. Die Architektur des Hauses wird somit zu einem Mikrokosmos der israelisch-palästinensischen Beziehung sowie zu einer Metapher für Jerusalem. Die Ausstrahlung des Films wurde damals vom israelischen Fernsehen verboten.

Im Frühling 2023 – und mehr als sechzig Spiel- und Dokumentarfilme später – hat Amos Gitai sein House als Bühnenaufführung im Theater La Collin in Paris wiederbelebt. Auf der Bühne wird hebräisch, arabisch, französisch, jiddisch und englisch gesprochen. Schauspieler und Musiker unterschiedlicher Herkunft, Sprache und musikalischer Traditionen aus dem gesamten Nahen Osten geben den Erinnerungen ebenso wie der Hoffnung auf Versöhnung in der Zukunft eine Stimme. Amos Gitai arbeitet daran, diese Aufführung in verschiedenen Städten – unter anderem in Wien – als Gastspiel zu präsentieren. Derzeit wird es auf der Architektur-Biennale in Venedig als Multimedia-Ausstellung gezeigt.

NU: Haben Sie der Architektur den Rücken gekehrt, weil Sie hofften, dass Sie mit Ihren Filmen eher Einfluss auf die Gesellschaft nehmen können?
Amos Gitai:
Ich habe erkannt, dass ich mit meinen Filmen die Welt nicht verändern kann. Ich kann ihr nur einen Spiegel vorhalten und hoffe, dass zumindest einige der Zuschauer darin auch ein kritisches Bild von sich selbst sehen. Um meinem Spiegel möglichst viele Facetten zu geben, habe ich die Form einer Gesellschafts-Collage gewählt. Wo treffen mehr Menschen unterschiedlicher Altersgruppen, Ethnien, Religionen und Weltanschauungen zusammen als in einer Bahn? Um von A nach B zu kommen, müssen sie zumindest einen Teil des Weges gemeinsam zurücklegen – was sie außerhalb dieses Fortbewegungsmittels niemals tun würden. In Jerusalem ist die Tramway daher einer der wenigen Orte, den Freunde und Feinde zumindest vorübergehend auf friedliche Weise teilen müssen. Es hat mich fasziniert, die menschlichen Interaktionen auf diesem engen Raum zu beobachten und mit der Kamera festzuhalten.

Ihre Spielfilme bezeichnen Sie bisweilen als „Komödien“, obwohl dem Humor immer auch die Melancholie des menschlichen Miteinanders zugrunde liegt.
Ich kann Ihnen darauf nur mit Ernst Lubitsch antworten. Sein oder nicht sein gilt zu Recht als eine der großartigsten Komödien der Filmgeschichte. Aber der Hintergrund ist melancholisch, um nicht zu sagen tragisch: Juden versuchen das mörderische Hitler-Regime zu überleben und greifen deshalb zu allen Waffen, die Humor und Satire zu bieten haben. Ich will mich jetzt keinesfalls mit einem so großen Filmemacher wie Lubitsch vergleichen, aber sein Humor ist vom Alltag der Menschen inspiriert. Und das kommt, glaube ich, auch in meinem Film zum Ausdruck. Wir beobachten Menschen in ihrem Alltag als Bahnreisende. Wir hören ihnen zu, wie sie von Freunden, Kollegen, Familienmitgliedern und ihren Problemen erzählen und wie sie mit Mitfahrenden interagieren. Der Humor und die Ironie liegen dabei im Auge der Betrachter und der Bereitschaft des Publikums zur Selbsterkenntnis.

Sie möchten mit Ihrem Stück „House“ gerne auch in Wien gastieren. Hat Wien eine besondere Bedeutung für Sie?
Meine Mutter wurde 1909 in Tel Aviv geboren, in dem Jahr also, in dem die Stadt gegründet wurde. Als 19-Jährige beschloss sie, nach Wien zu gehen, weil sie Palästina damals als provinziell empfand. Sie wollte Sigmund Freund und Viktor Adler und die damaligen Marxisten treffen. Das war eine wichtige Erfahrung für sie, bis zu ihrem Tod sprach sie über ihre Zeit in Wien. Sie starb im Alter von 95 Jahren. Immer wieder erzählte sie, dass ihr Wien damals „rot“ erschienen sei, Österreich aber „braun“. Sie hatte diesbezüglich einen sehr visuellen Ausdruck. Vor allem war sie auch Zeugin, wie in der damaligen Zeit das „Braun“ auf dem Lande zunahm und das „Rot“ in Wien weniger wurde.

Ihre Dokumentarfilm-Trilogie über das Haus in Jerusalem setzt sich kritisch mit dem Zusammenleben jüdischer und arabischer Israelis auseinander, und so auch das daraus entstandene Theaterstück. Wie wurde es vom Publikum aufgenommen?
In Paris, wo wir das Stück 25 Mal in ausverkauften Vorstellungen gezeigt haben, hatten wir ein sehr diverses Publikum. Es kamen jüdische und palästinensische Denker, Menschen aus Europa, Israel und den arabischen Ländern. Ich muss zugeben, dass ich sogar überrascht war, dass es allen gefiel und es nie zu Zwischenfällen kam. Denn in den Medien gab es eine sehr polemische Diskussion über die Thematik des Stücks. Ich bekam auch Rückmeldungen von einer Reihe prominenter Persönlichkeiten der jüdischen Nomenklatura, sie hielten das Stück für sehr wichtig. Der Grund für die breite Akzeptanz dieses Stückes ist sicher, dass es allen Bewohnern des Hauses – den muslimischen wie auch den jüdischen – mit Respekt begegnet. Es geht nicht um ethnozentrische Sichtweisen der jeweiligen Gruppen, nach dem Motto: Wir sind die einzigen, die Recht haben, und die einzigen, die gelitten haben. Beiden Gruppen ist Leid geschehen. Das Stück erzählt von Juden im Holocaust. Und es erzählt von Palästinensern und ihren Tragödien. Diejenigen, die nicht völlig blind sind für menschliche Schicksale, werden verstehen, dass es mir in diesem Stück um wechselseitiges Verständnis geht.

Welche Lösungsmöglichkeiten sehen Sie für die jüngsten politischen Konflikte in Israel?
Mir werden viele Fragen für eine politische Lösung des Nahen Ostens gestellt. Ich bin zwar kein Prophet – obwohl ich nach einem biblischen Propheten Amos genannt wurde. Aber ich denke, dass man bei jedem Konflikt einmal damit anfangen sollte, das Narrativ der anderen Seite zu akzeptieren. Man muss dieser anderen Sichtweise nicht einmal zustimmen, sondern erst einmal nur zuhören. Das gilt für beide Seiten. Wenn man immer nur davon ausgeht, dass nur wir recht haben und die anderen unrecht, dann kann so ein Standpunkt in den nächsten Krieg oder zu einem Dauerkonflikt führen. Ich würde sagen, dass Frieden – fast wie Liebe – nicht einseitig gemacht werden kann. Wenn du einseitig liebst, ist es keine Liebe. Und so ist es auch mit dem Frieden.

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