Lintschis Heimkehr – Karoline Schrotta

Sie sprach original Favoritner Dialekt, vermischt mit einigen englischen Wörtern, und wollte nie mehr im Leben zurück nach Wien, wo sie als einfache Textilverkäuferin den Nazis entkommen war. Die Geschichte einer ungewöhnlichen Begegnung.
Von Andrea Holzmann-Jenkins

„Ins Gemeindezentrum kommt eine alte Österreicherin“, sagte mir meine englische Nachbarin eines Tages. „Sie ist ein bisschen strange und hat einen starken Akzent. Ich glaube, sie ist 1938 emigriert.“ Bis zu diesem Tag im Jahr 1996 hatte ich noch niemanden persönlich getroffen, der vor dem Nazi-Regime hatte fliehen müssen. Ich wollte sie gerne kennen lernen, rechnete jedoch mit der Möglichkeit, dass sie mir, der kürzlich aus Österreich Zugereisten, die kalte Schulter zeigen würde. Trotzdem ließ ich mich während der nächsten Charity-Veranstaltung zu einer kleinen, weißhaarigen Frau führen, die mitten unter den anderen alten Leuten an einem Tisch saß. „This is A., an Austrian“, stellte meine Nachbarin mich der alten Dame vor und setzte, wohl um irgendetwas zu sagen, hinzu: „She is a good cook.“ Ich gab der alten Frau die Hand und murmelte eine Begrüßungsformel auf Deutsch. Sie musterte mich freundlich, sagte aber zunächst kein Wort. Ich wiederholte meine Begrüßung, und als sie immer noch nichts sagte, fragte ich: „Verstehen Sie mich?“ Da wachte die kleine Frau endlich auf, antwortete in breitestem Wienerisch: „Ja freilich“ und schüttelte mir kräftig die Hand. Meine Hand in ihrer haltend meinte sie dann zur Nachbarin gewandt: „We are all good cooks.“ Ich ließ diesen Satz sickern. „We“ sagte sie nach all den Jahren und meinte damit niemand anderen als uns Österreicherinnen. Ich setzte mich zu ihr. In original Favoritner Dialekt, versetzt mit englischen Wörter, die sie so Wienerisch aussprach, dass ich sie sofort als Landsmännin erkannt hätte, erzählte sie zunächst dies und das. „Ich heiße Karol“, sagte sie dann, „eigentlich Karoline, und in Wien nannten sie mich Lintschi.“ Als sich herausstellte, dass wir nur wenige Straßen entfernt voneinander wohnten, schien sie sich zu freuen. Beim Verabschieden versprach ich, mich zu melden. Ich war weiter unsicher. Vielleicht war sie nur „britisch“ höflich gewesen und wollte in Wahrheit von Österreich und Österreichern gar nichts mehr wissen. Um ihr die Möglichkeit zur diskreten Ablehnung offen zu lassen, schickte ich ihr daher meine Einladung zur sonntäglichen Nachmittagsjause per Post. Sie sagte sofort zu. Ich lud zwei andere Österreicher ein und produzierte Wiener Bäckereien. „A Gugelhupf!“ rief Lintschi aus, als sie den gedeckten Tisch sah. Ich stellte ihr die anderen Gäste vor. „René, was ist denn das für ein neu-moderner Name?“, meinte sie lachend, in vollendeter Mundl-Manier, zu dem jungen Mann mit Pferdeschwanz. „Solche Namen hat es früher in Wien nicht gegeben!“ Wir setzten uns zu Kuchen und Kaffee und Lintschi langte kräftig zu. Daneben unterhielten wir uns auf höchst „unbritische“ Weise. An die Stelle höflicher Konversation trat wienerisches Schmähführen, und es gab eine Menge zu lachen. Lintschi erzählte Anekdoten aus dem Wien der dreißiger Jahre, als wären es Geschichten, die sich erst kürzlich zugetragen hatten. Von Sonntagsausflügen in die Lobau berichtete sie, vom Badevergnügen im gerade erst errichteten Amalienbad, von einer Freundin, die so dünn war, dass man nur an ihrer Brosche erkennen konnte, wo vorne und hinten war“, und von einer anderen, deren Körper von „freckles“ übersät war, die – na, wie heißen sie schon gschwind auf Deutsch? „Sommersprossen“, bot ich an. „Ja, aber da gab es noch ein anderes Wort“, insistierte sie. „Gugaschecken“, fiel mir ein, und sie klopfte mir auf die Schulter, „ja genau, Gugaschecken“. Eher nebenbei erwähnte sie, dass sie 1939 nach England gekommen war, im Juni, als Einzige ihrer Familie, die anderen hatten es nicht mehr geschafft, und dass sie keinen von ihnen je wieder gesehen hätte. Dann fing sie sogleich wieder an, in ihrer humorvollen Art zu erzählen, von ihrem verlogenen irischen Ex-Ehemann zum Beispiel. „Als ich bemerkt habe, was für ein falscher Fuffziger er war, habe ich ihn rausgeschmissen. Jetzt ist er schon lange weg, aber ich heiße immer noch Farrell. Ist das nicht komisch: Farrell! Was für ein blöder Name!“ Und wieder lachte sie. So verging unser erster gemeinsamer Nachmittag. Ich wagte nicht, ihr Fragen zu stellen. Auch später beschränkte ich mich darauf ihr zuzuhören und höchstens das eine oder andere Mal einzuhaken, wenn es passte. Sie war Jüdin, so viel war bald klar, denn ein politischer Flüchtling war sie nicht gewesen. Von Politik, von weltgeschichtlichen Zusammenhängen, hatte sie nämlich keine Ahnung. Ich wollte etwas für sie tun und erkundigte mich bei der österreichischen Botschaft nach dem Restitutionsfonds. Die Beamtin versicherte, dass bei so betagten Menschen alles rasch und unbürokratisch erledigt würde. Lintschi war immerhin fast neunzig Jahre alt. Wiederum schrieb ich ihr einen Brief. Wieder rief sie mich sogleich an, bedankte sich überschwänglich, lehnte aber ab. „Ich brauche kein Geld mehr“, sagte sie. „Ich möchte nicht mehr in den Papieren kramen.“ Sie bezöge eine Pension aus Österreich, das genüge ihr. „Komm mich aber trotzdem besuchen“, forderte sie mich auf. Als ich bei ihr vorbei schaute, hatte sie Kaffee und Kuchen vorbereitet. Kaffee wohlgemerkt, nicht Tee wie in anderen englischen Haushalten! „Wann fährst du das nächste Mal nach Wien“, wollte sie wissen. „Kannst du mir etwas mitbringen? Brimsen und Ankerbrot, und einen ordentlichen Paprika fürs Gulasch, hier haben sie ja nur das geschmacklose rote Pulver.“ Ich erkundigte mich, welches Ankerbrot genau sie haben wolle. „Na, das Ankerbrot“, meinte sie und wunderte sich über meine Frage. Wie konnte man aus Wien kommen und das Ankerbrot nicht kennen? Im Laufe der Zeit schleppte ich halbe Kofferladungen voller Brot für Lin-tschi an, doch bis zum Schluss war nie das richtige dabei. Das Ankerbrot, das Lintschi kannte, gab es nicht mehr. Ich brachte ihr Mannerschnitten, Quargel, Meinl-Kaffee und Milka-Schokolade. Über den Brimsen gerieten wir in Streit, da sie mir nicht glauben wollte, dass es diesen nur im Frühjahr gibt. Sie bestand darauf, das ganze Jahr über Liptauer aus Brimsen gegessen zu haben, also machte ich ihr, wenn sie zu Besuch kam, Liptauer aus Topfen. Ich machte auch Krautfleckerln, von denen wir so viel verschlangen, dass unsere Bäuche wie Ballons aufgingen. „Fahr mit mir nach Wien“, forderte ich sie auf. „Nein“, sagte sie, „nach Wien will ich nicht mehr. Ich war einmal dort nach dem Krieg. Ich habe niemanden mehr gefunden, niemanden, den ich kannte. Dann habe ich drei Tage geweint und bin nach Tirol gefahren. Dort habe ich noch öfter Urlaub gemacht, aber nach Wien bin ich nie wieder gegangen.“ „Wien ist jetzt mehr wie früher“, insistierte ich, „komm mit, schau es dir an!“ Doch sie winkte ab. Dann erzählte sie. Bis 1942 hatte sie Post aus Wien erhalten, von ihrer Mutter, ihrem Bruder, ihrem Mann. Danach war der Kontakt abgerissen, und sie erfuhr erst nach Kriegsende was passiert war. „Die Mutter habens‘ abgeholt, während sie beim Kochen war, das hat mir die Nachbarin erzählt. Sie hatte nicht einmal Zeit, den Herd abzudrehen, und das Essen ist verkohlt.“ Sie begann zu weinen. Immer, wenn sie von ihrer Mutter sprach, weinte sie. „Ich werde sie im Himmel wiedersehen, Gott sei Dank“, sagte sie einmal. „Und auch meinen Bruder, und mit dem werde ich dort weiter streiten, mit dem habe ich ja auch früher nichts als g’stritten.“ Sie lachte wieder. „Was hast du in Wien gemacht?“, fragte ich. „Ich war Verkäuferin in einem Textilgeschäft.“ Ich versuchte mir das vorzustellen. Einer kleinen Textilverkäuferin aus Wien-Favoriten war die Flucht aus Wien gelungen. Sie hatte kein Wort Englisch gesprochen und war anfangs als Hausmädchen bei einer englischen Familie untergekommen. Später war sie, wie alle „feindlichen Ausländer“, interniert worden. Dort hatte sie viele andere Österreicher kennen gelernt. „Nun habe ich sie alle überlebt“, meinte sie nicht ohne Stolz. „Die Engländer waren immer großartig zu mir“, sagte sie. „Aber trotzdem sind sie komisch.“ Wir lachten beide, denn ich fand das auch. Ich hatte mir einen englischen Spleen zu Eigen gemacht und war zur Vegetarierin geworden. Lintschi setzte mir trotzdem Wiener Schnitzel vor. „Damit du was Ordentliches isst“, sagte sie, und ich aß, wie mir befohlen. Diskret fädelte ich ein, dass ihr Rasen gemäht wurde und überredete sie, sich schwere Lebensmittel liefern zu lassen anstatt sie selbst anzuschleppen. Als ich ihr vorschlug, fließendes Warmwasser einleiten zu lassen, biss ich auf Granit. Auch Waschmaschine brauchte sie keine. Sie habe die Wäsche immer mit der Hand gewaschen und werde das auch weiterhin so tun, beschied sie mir, und damit basta. „Am Geld liegt es nicht“, fügte sie noch hinzu, und es gab keinen Grund, ihr nicht zu glauben. „Z’haus haben wir immer…“, sagte sie oft, zum Beispiel zu Weihnachten. Ich hörte „z’haus“. Nach sechzig Jahren, nach allem, was Österreich ihr angetan hatte, sprach sie von Wien als „z’haus“. Wir verbrachten viele Nachmittage zusammen, und sie erzählte. Vor mir entstand das Wien der 1920er und 1930er Jahre, so lebendig, wie es kein Geschichtsbuch wiedergeben könnte. Ich sah ihre Mutter, eine Kriegswitwe, vor mir, wie sie um vier Uhr früh um Lebensmittel anstand, dann von Lintschi abgelöst wurde, damit sie zu Hause den Bruder versorgen konnte, und danach wiederkam und Lintschi in die Schule schickte. Ich bedaure heute, all diese Geschichten nicht aufgeschrieben zu haben. Lintschi verdrängte nichts, und dennoch sprach sie ohne Vorwurf und Groll. Ich fragte mich immer wieder, wie sie es geschafft hatte, und stand voll Respekt vor dieser einfachen und doch so großen alten Frau. 2003 verstarb sie im Alter von fast 95 Jahren. Man möge ihre Asche im Wienerwald verstreuen, hatte sie einmal gesagt. Wir brachten ihre Urne nach Wien und begruben sie in allen Ehren am Zentralfriedhof. Nach mehr als sechzig Jahren war Lintschi endlich wieder z’haus. Als die Friedhofsverwaltung die Zusatzgebühr einforderte, die Nicht-Wiener für einen Platz am Zen-tralfriedhof zu zahlen haben, blieb es Bürgermeister Dr. Häupl vorbehalten, Lintschi, die nicht freiwillig zur „Nicht-Wienerin“ geworden war, von dieser Gebühr zu befreien und sie posthum wieder zur Wienerin zu erklären.

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