Lieber Grossvater Jakob

Brief von Peter Menasse an seinen Großvater Jakob Abraham Rosenstrauch
Von Peter Menasse

Lieber Großvater Jakob,

wir haben uns nur knapp verpasst. Nicht einmal sechs Jahre lagen zwischen deinem Tod und meiner Geburt. Als ich ein Kind war, hast du mir nicht weiter gefehlt. Auch andere Kinder meines Jahrgangs hatten ihre Großväter verloren. In den Wohnungen der meisten Mitschüler hingen Mitte der 50er Jahre kleine, unscharfe Fotos von Männern in Wehrmachtsuniform, diagonal darüber gespannt ein schwarzes Band. Überall gab es sie, die ernsten, toten Väter und Großväter. Wir hatten kein Bild von dir. Wenn ich nachfragte, weinte meine Mutter. Grund genug, nicht zu insistieren.

Du, ihr Vater, hast auf einem Schiff vor den Nazis flüchten wollen, aber das sei Dir nicht gelungen. Mehr war nicht zu erfahren. Erst als dein ältestes Enkelkind, meine Cousine Helen Lisl, 1988 ein Buch über unsere gemeinsame Großmutter – deine Ehefrau – schrieb, kam ich dir ein wenig näher ( 1 ). Während deine Familie nach England flüchten konnte, erfuhr ich, warst du in Wien geblieben, um von hier nach Palästina auszuwandern. Beim Friseur Krupka in der Brigittenauer Karl-Meißl-Straße wurdest du verhaftet und nach Dachau geschickt. Nach vier Monaten kamst du nach Wien zurück. Auf Fotos, die dich nach der Freilassung zeigen, hättest du um zehn Jahre älter ausgesehen, als vor der Haft, beschreibt die Großmutter. In deiner Wohnung saß schon ein neuer Besitzer, an dein dort verstecktes Geld bist du nicht mehr herangekommen. Es folgen traurige Briefe an die Ehefrau in der Ferne. Fünfzehn englische Pfund würden dir fehlen, um die Formalitäten für deine Ausreise erledigen zu können. Großmutter konnte sie dir wohl senden, denn du hast dich schließlich einem Transport angeschlossen, der über die Donau zum Schwarzen Meer und von dort in das Gelobte Land gelangen hätte sollen.

Wenn ich mitunter nach der Arbeit im Schanigarten des Cafe Salzgries sitze, schaue ich auf das Haus Marc-Aurel-Straße Nummer 5, wo das Palästina-Amt seinen Sitz hatte. Dort hast du dich tagtäglich um einen Platz für diesen Transport angestellt, der niemals in Palästina ankommen sollte. Es gibt heute kein äußeres Zeichen an diesem Haus, das daran erinnerte.

1993, mehr als fünfzig Jahre nach deinem Tod, habe ich schließlich die Geschichte des „Kladovo-Transports“ in einem Buch nachlesen können ( 2 ). Über dich erfuhr ich auch darin nicht viel. Bloß, dass Jakob Abraham Rosenstrauch im November 1941 erschossen wurde. Hundert Juden für einen von den serbischen Partisanen getöteten Soldaten der deutschen Wehrmacht, hieß die Rechnung.

Ich habe dich niemals kennengelernt. Und es ist alles auch schon sehr lange her. Jetzt aber, da ich ein paar Jahre älter bin, als du es geworden bist, denke ich manchmal an dich. Das ist unzeitgemäß, ich weiß. Aber die Zeit, G roßvater Jakob, war ja auch nie wirklich dein Verbündeter.

Jetzt, noch ein paar Jahre später und inzwischen schon sechzig Jahre nach deiner Ermordung gibt es im Jüdischen Museum eine Ausstellung über den Kladovo-Transport ( 3 ). Sie wurde mit Hilfe von einigen der wenigen, überlebenden Teilnehmer gestaltet, die im Frühjahr 1941 am Landweg entkommen hatten können und heute in Israel leben. Von dir gibt es auch dort kein Bild. Nur deine Name ist vermerkt. Ein unauffälliger Buchhalter, eine anonyme Zahl in der Bilanz des Nationalsozialismus, die glatt ausradiert wurde. Niemand wusste je etwas darüber, niemand war dabei.

 

(1) Helen Lisl Krag

„Man hat nicht gebraucht keine Reisegesellschaft …“

Boehlau, Wien 1988 (als Taschenbuch 1996 auch bei Rowohlt, Reinbek/Hamburg erschienen)

(2) Gabriele Anderl, Walter Manoschek

„Gescheiterte Flucht“

Der juedische „Kladovo-Transport“ auf dem Weg nach Palaestina 1939-42

Verlag fuer Gesellschaftskritik, Wien 1993

 

Weitere Literatur:

Herta Reich

„Zwei Tage Zeit“

Die Flucht einer Muerzzuschlager Juedin 1938-1944

Clio, Graz 1998

(3) Kladovo, Eine Flucht nach Pal.stina

Die Ausstellung im J.dischen Museum, Palais Eskeles, Dorotheergasse

11, 1010 Wien laeuft noch bis 4. November 2001.

Oeffnungszeiten: Sonntag bis Freitag von 10 bis 18 Uhr, Donnerstag von 10 bis 20 Uhr.

http://www.jmw.at

 

Aus dem Ankuendigungstext zur Ausstellung:

„Im Dezember 1939 verliess ein Schiff mit ueber 1.000 Fluechtlingen an Bord den Hafen von Bratislava. Zum Grossteil waren sie per Bahn aus Wien gekommen. Nach zweiwoechiger Odysee auf der Donau erreichte die Gruppe den serbischen Ort Kladovo. Alle Bemuehungen um eine Weiterreise scheiterten zunaechst am strengen Winter, der den Fluss zufrieren liess, dann aber an finanziellen, organisatorischen und vor allem behoerdlichen Schwierigkeiten. Nur etwa 200 Jugendlichen gelang wenige Tage vor dem Nazi-Ueberfall auf Jugoslawien im April 1941 doch noch die Flucht nach Palaestina. Die anderen wurden fast ausnahmslos von – mehrheitlich in Oesterreich rekrutierten – Wehrmachtseinheiten ermordet“

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