Lass das Akkordeon spielen

Der Psychoanalytiker und Buchautor Vamik D. Volkan vermittelte bei diversen staatlichen und nichtstaatlichen Konflikten. Im NU-Interview spricht er über die psychologischen und emotionalen Momente des Nahostkonflikts und analysiert, warum eine friedliche Zukunft derzeit unmöglich ist.
Von Martin Engelberg

NU: Herr Volkan, Sie kennen den israelischpalästinensichen Konflikt sozusagen von innen. Wie wird sich die Situation weiterentwickeln?

Volkan: Noch mehr Regression, um in der psychoanalytischen Terminologie zu sprechen. Ich bin kein Prophet, aber in meinem Beruf sagt man: Wenn man einmal den tiefsten Punkt erreicht hat, kann man nur hoffen.

NU: Was war der tiefste Punkt?

Volkan: Es hat mit der zweiten Intifada begonnen. Im Jahr 2000 war ich am „Yitzhak Rabin Center for Israel Studies“ in Israel. Es war eine sehr hoffnungsvolle Zeit, das letzte Jahr der Clinton-Präsidentschaft. Clinton wollte sein Vermächtnis hinterlassen und ich bekam die vielen Aktivitäten mit, die damals stattfanden. Da war sehr viel Hoffnung. Man kann in Israel zwar nie wirklich von Normalität sprechen, aber man fühlte damals eine Art von Normalität.

NU: Was passierte dann?

Volkan: Es gab eine Reihe von Möglichkeiten zu einer Vereinbarung zu kommen, aber im letzten Moment brach alles zusammen. Ich bemerkte, dass sich die Stimmung völlig veränderte. Wenn ich in der Früh zum Rabin-Center an der Universität Tel Aviv ging, begannen mich meine israelischen Freunde mit pessimistischen Bemerkungen zu begrüßen, wie zum Beispiel:„Guten Morgen, glauben Sie, dass wir überleben?“.

NU: Was war der Grund für diese Stimmungsänderung?

Volkan: Der Grund war, dass vorher die Hoffnung herrschte, dass es keine Anschläge mehr geben würde, dass es ein Abkommen geben würde – dann plötzlich der Kollaps, Depression. Es war eine der größten Stimmungsänderungen, die ich je erlebt habe.

NU: Hatte das nicht mit dem Scheitern der Verhandlungen in Camp David zu tun?

Volkan: Natürlich, da kam dann wieder der ganze Druck zurück und all die Jahre der Verletzungen.

NU: Was lief in Camp David schief?

Volkan: Mir ist immer aufgefallen, dass Israelis ganz anders verhandeln als Araber. Israelis sind, psychoanalytisch gesprochen, viel zwanghafter, man weiß warum. Sie wollen sicher sein. Araber sind viel emotionaler, wenn die Stimmung gut und freundlich ist, sind sie williger, und dieser Unterschied macht größte Probleme in Verhandlungen. Ich habe sechs Jahre lang an inoffiziellen Verhandlungen teilgenommen und bemerkt, dass da ein Dritter eine Balance schaffen muss. Sie kennen vielleicht die Geschichte von den ersten Camp-David-Verhandlungen, als (Menachem) Begin (israel. Ministerpräsident) ein Foto der drei Präsidenten, signiert für seine Enkelkinder, haben wollte. Die Verhandlungen waren schon gescheitert, da erinnerte sich (Jimmy) Carter (amerik. Präsident) an Begins Bitte. Er ließ das Foto machen, signierte es und ließ (Anwar as-)Sadat (ägyptischer Präsident) signieren. Dann gingen beide zu Begin, klopften an seiner Tür und überreichten ihm das Foto – da begann Begin zu weinen. Ich habe das als „Akkordeon-Phänomen“ bezeichnet. Das kommt in Verhandlungen oft vor. Menschen sind in den Verhandlungen zuerst nur die Vertreter ihrer Großgruppe und in diesen sind sie mörderisch. Ich verwende jetzt dieses Wort natürlich in einer übertriebenen Form. Wenn Diplomaten, mit solch geschichtlichem Erbe zusammenkommen, dann tragen sie dieses mit sich. Sie bekommen zwar Anweisungen nett zu sein und sie verwenden diplomatische Floskeln wie: „Mein Freund auf der anderen Seite des Tisches“ und grinsen dabei wie ein Hund. Wenn dann im Laufe der Verhandlungen die Aggressionen und Verletzungen verleugnet werden, dann ist es so wie ein Akkordeon, das in sich zusammenbricht. Es kommt zu einer manischen Hochstimmung – das war der Zeitpunkt, an dem der Camp-David-Vertrag* unterschrieben wurde.

NU: Und das war nicht gut?

Volkan: Niemals sollte man eine Vereinbarung treffen, wenn das Akkordeon zusammengepresst ist. Lass das Akkordeon spielen und respektiere zwei Prinzipien: Man muss erstens unbedingt respektieren, dass die verfeindeten Gruppen verschieden sind und bleiben, und man muss zweitens eine Grenze zwischen den beiden schaffen, ich spreche über psychologische Grenzen. Weil es in solchen Situationen so viel Aggression gibt, dass die Identität jeder der beteiligten Gruppen geschützt werden muss.

NU: Was passiert in dem Augenblick dieser manischen Hochstimmung?

Volkan: Das ist eine Hochstimmung, in der diese Grenzen komplett verleugnet werden. Alles ist voller Liebe. Es ist eine Verletzung der beiden Prinzipien, von denen ich gesprochen habe: Es muss immer das Anders-Sein respektiert werden. Die feindlichen Gruppen müssen immer eine Grenze zwischen sich haben, damit die Identitäten erhalten bleiben. An diesem Punkt darf man keinen Druck erzeugen, man muss vielmehr eine Strategie entwickeln, wo Sie – einfach gesprochen – jeder Gruppe sagen: Schaut, Ihr werdet für immer und ewig jüdisch und israelisch bleiben. Und zu den Arabern: Ihr werdet für immer und ewig Araber und Moslems bleiben – ein Abkommen zu unterschreiben, heißt nicht, die eigene Identität zu verlieren.

NU: Das würde doch heißen, dass gerade die entscheidenden Punkte, an denen das zweite Camp David gescheitert ist, nämlich Jerusalem und das Rückkehrrecht der Palästinenser nach Israel, genau das Schlimmste waren. Das waren jene Punkte, wo beide Seiten befürchten mussten, ihre Identität zu verlieren.

Volkan: Ganz genau. Wenn ich der Verhandler gewesen wäre, hätte ich einen Weg gefunden, diese Dinge unbedingt auszulassen und das sogar für 50 Jahre.

NU: Wie ist die jetzige Situation? Es sieht so aus, als befänden wir uns in einem neuen Zeitalter. Es gibt keine Verhandlungen, es gibt keinen Verhandlungspartner auf Seiten der Palästinenser und die USA und Israel schaffen Fakten.

Volkan: Wenn ich versuche zu verstehen, was vorgegangen ist, habe ich den Eindruck, dass (US-Präsident George W.) Bush und (Israels Premierminister Ariel) Scharon den Wunsch haben, den Nahen Osten zu verändern. Wenn es einen solchen Plan gibt, weiß ich nicht, wie gut er durchdacht ist. Aber wie Sie sagten, da gibt es einen Teil, der fehlt.

NU: Was bedeutet das psychologisch?

Volkan: Dass es nicht funktionieren wird. Es ist so, als ob ich Ihnen eine Waffe an den Kopf halte und sage: O.K., gehen Sie und suchen Sie sich einen demokratischen Führer! Das funktioniert nicht. Werde ich mit einer Waffe bedroht, fühle ich mich gedemütigt – auch wenn ich vielleicht auf einer intellektuellen Ebene weiß, dass es Sinn machen könnte.

NU: Aus Sicht der Israelis und der USA sieht es doch so aus: Es gibt keinen Verhandlungspartner auf Seiten der Palästinenser. Arafat hat seine Chance im zweiten Camp David vertan, nachher versuchte man einen Premierminister zu installieren, das scheiterte, inzwischen gehen die Anschläge und Selbstmordattentate in Israel weiter.

Volkan: Sie können Prozesse bei den Palästinensern nicht aus der Perspektive individueller Psychologie beurteilen. Dasselbe gilt – aber eben in einem viel geringeren Ausmaß – auch für Israel. In einem viel geringeren Ausmaß, weil die Israelis noch immer ihre Universitäten haben, ihre Armee mit Regeln und Vorschriften, mit einer funktionierenden Demokratie, trotz der Tatsache, dass natürlich alle sehr emotionalisiert sind. Es gibt nichts, absolut nichts, was sie an der Universität von Tel Aviv nicht sagen können. Es gibt nichts, was irgendein israelischer Gelehrter nicht wüsste. Es ist herzerfrischend. Wenn man eine vitale Demokratie erleben möchte, muss man an die Universität Tel Aviv gehen – das stoppt die Regression, das ist ein Gegenpol. Ich kenne die palästinensische Situation und ich glaube nicht, dass sie diese Gegenpole haben.

NU: Sie denken, dass es einen großen Unterschied im Ausmaß der Regression zwischen Israel und Palästinensern gibt?

Volkan: Ja natürlich. Die Palästinenser haben so etwas wie die Universität von Tel Aviv nicht – ich verwende das nur als Beispiel. Die Leute können nicht so frei sprechen, wie sie das in Israel können. Wenn dann die Regression eintritt, finden die typischen Entwicklungen statt, die wir schon lange, noch aus Freuds Tagen, kennen: Die Menschen verlieren ihre Individualität, sie versammeln sich um einen Führer, es entsteht das magische Denken und alles beginnt sich darum zu drehen, die Identität der Großgruppe zu schützen. Anfangs gab es Experten, die darstellten, wie die Einzelnen gedemütigt, traumatisiert wurden. Aber die Regression hat heute ein solches Ausmaß angenommen, dass jeder unter dem Einfluss der Großgruppenpsychologie steht.

NU: Das heißt, es macht keinen Unterschied, ob es bei einem Selbstmordattentäter ein individuelles Trauma gab.

Volkan: Ja, es gibt kein individuelles Denken mehr.

NU: Wie erklären Sie sich, dass 60 oder 70 Prozent der Palästinenser die Selbstmordattentäter unterstützen, ja selbst dazu bereit wären?

Volkan: Es sind 100 Prozent! Sie können es nicht auf individueller Basis erklären. Meine Arbeit hat mich in Flüchtlingslager geführt, wo es nur das„We-ness“ (Wir-Sein) gibt, die Menschen sprechen nie über „Ich“, sie sprechen immer nur über „Wir“. Lassen Sie mich das erklären: Wir haben zwei wesentliche Identitäten. Die wichtigste ist die Kernidentität. Ohne sie stirbt man. Wenn Sie jemanden beobachten, der schizophren wird und seine Identität verliert, das ist entsetzlich. Von dieser Kernidentität gibt es eine Verbindung zur Großgruppenidentität. Diese besteht aus einer Kombination ethnischer und religiöser Komponenten. In unserem täglichen Leben sind wir uns dieser Großgruppenidentität praktisch überhaupt nicht bewusst. Aber wenn einmal die Großgruppenidentität bedroht ist, dann nimmt man nur mehr diese wahr. Ich vergleiche das mit dem Atmen. Sie atmen jetzt, ich atme jetzt, wir bemerken das gar nicht. Aber wenn Sie eine Lungenentzündung haben, nehmen Sie jeden einzelnen Atemzug wahr und nur das. Ähnlich verhält es sich mit der Großgruppenidentität. Wenn sie attackiert wird, nehmen Sie sie immer mehr wahr und dann wird die individuelle Identität völlig sekundär. Alle Prozesse, in die Sie involviert werden, beziehen sich auf das gemeinsame Zelt, unter dem Sie sich gemeinsam mit Millionen Menschen befinden. Das ist in Palästina passiert.

NU: Wie sind nun im Rahmen dessen die Selbstmordattentate zu verstehen?

Volkan: Jedes Mal, wenn ein Selbstmordattentäter mordet, ist er oder sie ein Sprecher für die Großgruppe. Bei einem „normalen“ Selbstmord laufen komplexe psychische Prozesse ab und letztlich trägt zur Ausführung ein Mangel an Selbstwertgefühl entscheidend bei. Wenn Sie die Selbstmordattentäter anschauen, dient das genau dem Gegenteil! Es dient zur Erhöhung des Selbstwertgefühls, das ist ein ganz entscheidender Unterschied. Sie denken gar nicht als Individuum. Sie sind Soldaten der Großgruppenidentität.

NU: Angenommen, Präsident Bush würde Sie jetzt kontaktieren …

Volkan: Das ist völlig ausgeschlossen … Aber ich würde ihm sagen, dass ich nichts sagen kann, bevor ich nicht mehr erfahre. Es sieht so aus, als wäre die derzeitige Strategie, eine Grenze (der Zaun um Jerusalem, Anm.) zu schaffen, allerdings ist das nicht jene Grenze, die wir Psychologen meinen. Psychologische Grenzen müssen Flexibilität haben, eine spielerische Grenze, die aber wichtige psychologische Auswirkungen hat.

NU: Welche?

Volkan: Die psychologische Grenze hat den Zweck zu zeigen:„Schau, du bist nicht gleich. Wir haben etwas, um deine Aggression zu stoppen. Wir schaffen eine Grenze, sodass die Projektionen uns gar nicht mehr erreichen können.“ Die Idee einer solchen Grenze gab es ja schon lange. Es war eine der Ideen, die wir in einer anderen Art und Weise diskutierten. Im Laufe der Jahre wurde sie sehr konkret.

NU: Was war Ihre Idee?

Volkan: Eine Grenze zu haben und einen Raum zu schaffen, dass sie einander nicht berühren können. Wie sie das in eine Strategie umsetzen, ist eine andere Frage. Was jetzt getan wird, ist etwas sehr Konkretes. Das Problem ist – Sie sagten es bereits – , dass es niemanden gibt, mit dem man verhandeln kann. Ich würde eine Strategie einsetzen, die die Regression der Großgruppe stoppt, die die Individualität und eine Führung zurückbringt.

NU: Sie haben so viele Konflikte gesehen. Was macht den israelisch-palästinensischen Konflikt so besonders?

Volkan: Schon alleine die lange Geschichte, die fast prähistorische Ausmaße hat. Ein Satz in meinem Buch lautet:„Götter verhandeln nicht, Götter geben nur die Genehmigung, den Teufel loszuwerden.“ Ich denke, das beschreibt meine Wahrnehmung der arabisch-israelischen Situation.

NU: Es gibt einen großen Unterschied der Wahrnehmung Israels in den USA und in Europa. Meinen Sie auch, dass Europas Verhalten gegenüber Israel im Schatten des Holocaust zu sehen ist?

Volkan: Was ich in Europa bemerkt habe, ist, dass Elemente von Antijudaismus in oft sehr merkwürdiger Art und Weise auftreten: Da sind alte Schuldgefühle, über die nicht gesprochen wird. Ein Beispiel: Als die deutsche Wiedervereinigung stattfand, führten wir eine Studie durch und fanden heraus, dass alles zum Holocaust zurückführte.

NU: Ihr Eindruck war, dass in Europa alles vom Holocaust überschattet ist und das sei der große Unterschied zu den USA?

Volkan: Ja, das war meine Schlussfolgerung, aber das müsste viel genauer untersucht werden. Wenn ich noch einen Wunsch hätte für mein Leben, dann würde ich gerne eine Gruppe gründen, in der bekannte Persönlichkeiten sind, die auch psychoanalytisch orientiert sind, die Stellung nehmen zu pathologischen Entwicklungen. Als Analogie würde ich sagen: Wenn Bin Laden und all die anderen verrückten Typen, die also von unserer Warte aus vollkommen verrückt sind, so etwas wie das „Es“ sind und Amerika das „Über-Ich“ ist, wo bleibt das „Ich“, das erklärt? Wo ist das „Ich“, welches eine Tel-Aviv-Universität in Palästina macht?

 

* In Camp David einigen sich nach mehrtägigen Verhandlungen im Zeitraum zwischen 6. und 17. September 1978 der ägyptische Präsident Anwar as-Sadat und der israelische Ministerpräsident Menachem Begin im Beisein des US-Präsidenten Jimmy Carter auf einen Rahmenvertrag für den Frieden zwischen beiden Ländern. Nach dem Abzug israelischer Truppen von der Sinaihalbinsel sollen diplomatische Beziehungen aufgenommen werden. Der endgültige Vertrag kommt aber nicht in der vorhergesehenen Frist von drei Monaten, sondern erst nach neuen Besprechungen Carters in Ägypten und Israel am 26. März 1979 zustande.

 

INFO

Prof. Dr. Vamik D. Volkan, geboren im türkischen Teil Zyperns, ist ein bedeutender Psychoanalytiker, der sich vor allem in der Anwendung der Psychoanalyse bei ethnischen und staatlichen Konflikten und deren Beilegung einen Namen gemacht hat. Er hat in vielen staatlichen und nichtstaatlichen Konfliktherden, u. a. im israelisch-palästinensischen Konflikt vermittelt. Dazu begründete er auch ein interdisziplinäres Institut an der University of Virginia, an dem er Historiker, Diplomaten und Politikwissenschafter mit Psychoanalytikern und Psychiatern zusammengeführt hat, um solche Konflikte zu untersuchen. Darüber hinaus ist er Autor zahlreicher Artikel und Bücher, die weit über den Leserkreis der Psychoanalytiker hinaus Beachtung fanden. Zuletzt erschienen ist das Buch: „Blind Trust – Large Groups and Their Leaders in Times of Crisis and Terror“ (Pitchstone Publishing, 2004). Prof. Volkan wurde 2004 der „Internationale Sigmund Freud Preis für Psychotherapie der Stadt Wien“ zuerkannt.

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