Komplizierte Verhältnisse: Israel, die EU und das Westjordanland

Kommentar von Martin Engelberg

Der Paragraf 28 des Regierungsabkommens zwischen Benjamin Netanjahu und Benny Gantz spricht eine klare Sprache: Der Premierminister (Netanjahu) und der alternierende Premierminister (Gantz) wollen gemeinsam ein Friedensabkommen mit allen Nachbarn vorantreiben, ebenso wie eine regionale Kooperation in einer Vielzahl wirtschaftlicher Bereiche. Beide erklären, den Friedensplan von US-Präsident Donald Trump unterstützen zu wollen. Dieser erlaubt die Ausdehnung der israelischen Souveränität auf das Westjordanland im ersten Jahr eines vierjährigen Prozesses, an dessen Ende die Schaffung eines entmilitarisierten palästinensischen Staates auf 70 Prozent des Gebietes des Westjordanlandes steht. In Paragraf 29 wird der Gesetzwerdungsprozess so detailliert vorgezeichnet, dass an der Entschlossenheit der neuen Regierung, dieses Vorhaben umzusetzen, nicht zu zweifeln ist.

Die USA verkündeten, dass sie bereit wären, Israels Annexion anzuerkennen, wollen dies aber mit dem Angebot einer Eigenstaatlichkeit für die Palästinenser verknüpfen. Die Wortwahl ist aufschlussreich: Es wird von einer Ausdehnung israelischer Souveränität und Anwendung israelischen Rechts auf Gebiete des Westjordanlandes gesprochen, die Teil des Staates Israel werden sollen. Vermieden wird also der völkerrechtliche Begriff der „Annexion“. Dieser definiert sich als erzwungene Eingliederung eines bis dahin unter fremder Gebietshoheit stehenden Territoriums in eine andere geopolitische Einheit. Und eine solche ist gemäß der Charta der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1945 verboten.

Israelische Regierungen argumentieren schon seit längerem, dass das Westjordanland zum Zeitpunkt der Eroberung im Jahr 1967 nicht Teil eines souveränen Staates war. Vielmehr hatte Jordanien seinerseits dieses Gebiet im israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948 ohne Rechtsgrundlage erobert und bis 1967 besetzt gehalten. Weiters werden die Ansprüche auf das Westjordanland bzw. Judäa und Samaria – wie es offiziell genannt wird – mit der historischen und religiösen Beziehung des jüdischen Volkes zu diesen Gebieten begründet.

Der bekannt israelkritische EU-Außenbeauftragte Josep Borrell hatte noch vor Abschluss der israelischen Regierungsverhandlungen versucht, Druck gegen diese Pläne aufzubauen. Es gelang ihm jedoch nicht, eine einheitliche Linie aller EU-Mitgliedsländer herbeizuführen. Aber elf europäische Botschafter – Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien, Irland, die Benelux- und skandinavischen Länder sowie Großbritannien – deponierten eine formale Protestnote im israelischen Außenministerium und warnten vor ernsten Konsequenzen in Bezug auf die Annexionsklauseln im – zu diesem Zeitpunkt – noch in Verhandlung stehenden Regierungsabkommen.

Die Anzeichen, dass sich innerhalb der EU eine Spaltung in Bezug auf das Verhältnis zu Israel auftut, werden immer offensichtlicher. Da gibt es einerseits jene Länder, die in ihrer traditionell israelkritischen Position verhaftet bleiben und anderseits jene, die eine positive Neugestaltung der Beziehungen zu Israel anstreben. Im Zuge des Treffens der EU-Außenminister Mitte Mai kam es dann auch zu keinen Beschlüssen gegen Israel. Der Einfluss derjenigen Staaten, die den Positionen Israels mit mehr Verständnis begegnen – etwa Österreich, Tschechien, Ungarn, Bulgarien, Griechenland und andere – war bereits deutlich spürbarer.

Borrells Statement nach dem Treffen klang dementsprechend schon ganz anders: Er freue sich auf eine umfassende und konstruktive Zusammenarbeit mit der neuen israelischen Regierung. Der EU-Außenbeauftragte sprach nur mehr davon, dass einseitige Schritte vermieden werden sollen und dass die EU ihre Hand Israel, den USA und den Palästinensern reichen solle: „Unsere Diskussionen zu diesem komplexen Thema werden weitergehen, aber wir werden keine Maßnahmen vorantreiben.“ Schließlich überraschte Borrell auch noch mit der Feststellung, dass die Annexion von Teilen des Westjordanlandes nicht mit jener der Krim durch Russland vergleichbar sei. Es gäbe, sagte der EU-Außenbeauftragte, einen Unterschied zwischen der Annexion eines Territoriums, das einem souveränen Staat gehöre und jenem der Palästinenser.

Nach der Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels durch die USA, verbunden mit der Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem im Jahr 2017 sowie der Anerkennung der Souveränität Israels über die Golan-Höhen im Jahr 2019, bahnt sich jetzt durch die Ausdehnung der Souveränität Israels über Teile des Westjordanlandes ein weiterer historischer Schritt an, der vor einigen Jahren noch völlig undenkbar gewesen ist. Die meisten arabischen Staaten, zu denen Israel inzwischen (noch mehr oder weniger hinter den Kulissen) exzellente Beziehungen unterhält, haben sich schon bisher mit eher symbolischen Protesten begnügt. Bei der Verkündung des Trump-Friedensplans, der ja die Zuschlagung von Teilen des Westjordanlandes an Israel explizit vorsieht, waren sogar drei Botschafter arabischer Staaten anwesend. So bleibt zu hoffen, dass nicht just europäische Länder in ihrer Ablehnung der neuen Entwicklungen im Nahen Osten sogar hinter die konstruktiven und kompromissbereiten Positionen der arabischen Länder zurückfallen. Eine einhellige Ablehnung innerhalb der EU scheint aber jetzt jedenfalls schon ausgeschlossen zu sein.

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