„Kein richtiges Leben im Falschen“

Raus aus der Verdrängung: Die ÖBB-Ausstellung „Verdrängte Jahre“ arbeitet die Zeit der Bahn im Nationalsozialismus auf. Zuerst in Österreich, dann in Brüssel. DAVID MOCK hat für NU die Ausstellung besichtigt und Besucher interviewt.
FOTO: BEA UHART

Teppich mit den Fußabdrücken von über 100 Menschen: So viel Platz war in einem Viehwaggon Richtung Auschwitz.

Die Bürokratie des Todes war stets schrecklich akkurat: War ein Sonderzug in die Vernichtungslager mit mindestens 400 Personen gefüllt, musste nur der halbe Fahrpreis zur Beförderung 3. Klasse bezahlt werden. Kinder fuhren gratis, aber nur unter vier Jahren. Halbpreis-Tickets für die Fahrt ins Verderben – manchmal zeigt sich das große Grauen im kleinen Detail.

Später brauchte man keine Karten mehr, denn auf 3.-Klasse-Wagen folgten Viehwaggons und gegen Ende des Krieges schließlich offene Güterwagen und fahrende Plattformen ohne jeglichen Schutz vor Wind und Kälte. Viele Deportierte starben so schon auf dem Weg. Weil sie verhungerten. Weil sie verdursteten. Weil sie erfroren. Oder weil sie bei hohem Tempo einfach von den Plattformen fielen und neben den Gleisen liegen blieben.

Wehrmachtszüge hatten Vorrang, deshalb mussten die Menschen in vollgepferchten Zügen oft tagelang auf Weiterfahrt warten. Von Wien nach Auschwitz sind es nur 390 Kilometer. Eine kurze Strecke, im Viehwaggon mit Nachrang eine gefühlte Ewigkeit. „Räder müssen rollen für den Sieg“ Viele dieser Züge fuhren vom Wiener Aspang-Bahnhof weg. Ein Zeitzeuge erzählt: „Vor der Fahrt gab es noch ein Esspaket, das kam von der Jüdischen Gemeinde.“ Nach zwei Tagen waren Brot und Wasser aufgebraucht, die Reise nach Riga dauerte jedoch fünf Tage: „Um zu überleben, leckten wir das Kondenswasser von den Scheiben.“

Das sind die Geschichten, die in der von Milli Segal kuratierten Ausstellung „Verdrängte Jahre – Bahn im Nationalsozialismus von 1938 bis 1945“ erzählt werden. Konkret sein, Gesichter und Geschichten zeigen gegen das Abstrakte der Zahlen, das ist das Konzept. Die Schau wandert, nach erfolgreichen Stationen in Wien und den Landeshauptstädten, immer in Abstimmung mit den jüdischen Gemeinden zu weiteren Schauplätzen.

Die neue Station der „Verdrängten Jahre“ ist eine mit Symbolwert: Brüssel, Rue Wierz 60, Altiero Spinelli Building. Auf Einladung des österreichischen EU-Parlamentariers Jörg Leichtfried gastieren „The suppressed years“ im Europäischen Parlament.

Die ÖBB schlagen das dunkelste Kapitel ihrer Geschichte auf. Ohne Bahn kein Krieg, keine Massenvernichtung, ablesbar am Schlachtruf „Räder müssen rollen für den Sieg“. Das eigene Produkt als das logistische Netzwerk des Todes. Das aufzuarbeiten, war für die ÖBB eine notwendige, aber keineswegs schmerzfreie Übung. Und ein Projekt mit ungewissem Ausgang. Denn nach 1945 hatten sich die Bundesbahnen in den Schwamm-drüber-Geschichtskanon der jungen Republik eingefügt. „Das waren nicht wir, das war die Deutsche Reichsbahn“, war die Lesart der Eisenbahner-Historie. Unzählige Bücher wurden über die Eisenbahn in Österreich geschrieben, aber ihre finsterste Zeit blieb ein blinder Fleck.

Marketing-Berater befürchteten Imageschäden durch die Bilder des Leids in aller Öffentlichkeit. ÖBBChef Christian Kern entschied sich gegen vordergründige wirtschaftliche Logik und für eine breite Initiative zur Vergangenheitsbewältigung. Die Bundesbahnen, Ausbilder von 1.800 Lehrlingen, bauten mit dem Geschichtsprojekt auch eine Brücke zwischen den Generationen. ÖBBLehrlinge arbeiteten mit und trafen auf Zeitzeugen. Ziel: Solange es geht, Jugendliche mit den wenigen Menschen zusammenbringen, die noch authentisch über den Schrecken von damals berichten können. 16- und 17-Jährige tragen jetzt die Erinnerung weiter.

Aufdecken statt zudecken
Viel politische Prominenz ist zur Eröffnung ins Brüsseler Parlamentsgebäude gekommen, neben dem Gastgeber Leichtfried sprechen auch die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Ulrike Lunacek, und EU-Kommissar Johannes Hahn. Er nennt die ÖBB-Ausstellung „besonders bemerkenswert, weil sie aus eigenem Antrieb entstanden ist“ und betont „die Gefahr, dass sich die Geschichte wiederholt: Wir haben noch nicht alles getan.“

„Das damals waren nicht wir“ zu sagen, geht nicht, sagt Kern und verweist in seiner Rede auf einen Leitsatz des Philosophen Theodor Adorno: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Also: aufdecken statt zudecken für einen aufrechten Gang. Auch ein erfreulicher Erkenntnisgewinn ist zu berichten: Eisenbahner waren hochaktiv im Widerstand. Viele opferten ihr Leben, damit es wieder ein richtiges Leben gibt. Statt des falschen in Brauntönen, mit Menschenverachtung und Stechschritt.

Raya Kalenova, Vizepräsidentin des European Jewish Congress, ist gerührt, bedankt sich und sieht „viele Freunde in diesem Raum“. Die Ausstellung zeige, „wie fatal es sein kann, ein kleines Glied in der Kette des Bösen zu sein“. Die 30er-Jahre sind weit, aber die Gefahr ist nicht nur Geschichte, sondern Gegenwart: Heuer starben drei Menschen bei einem Anschlag auf das Jüdische Museum in Brüssel. Der Alltag traditionellen jüdischen Lebens im heutigen Europa sei „bestimmt von Begleitschutz, Überwachungskameras und Sicherheitschecks“, warnt Kalenova. Maurice Kosnowski, Präsident der Komitees der jüdischen Organisationen in Belgien, schlägt in dieselbe Kerbe: Die Demokratie müsse wachsam bleiben, denn: „Juden sind heute wieder das Ziel.“

Dann stehen sie da, die Bilder und die Artefakte, und stellen sich dem hektischen Betrieb im Zentrum der europäischen Demokratie entgegen: Eine große Karte zeigt die Routen der Deportationszüge, plumpe NS-Propagandaaufrufe an die deutschen Eisenbahner wechseln sich ab mit den Geschichten von einzelnen Vertriebenen und Widerstandskämpfern. Besonders eindrucksvoll ein Teppich mit den Fußabdrücken von über 100 Menschen, eng beieinander, auf Kinderzimmergröße. So viel Platz war in einem Viehwaggon Richtung Auschwitz. Aber es gibt auch berührende Zeichen von Überlebenswillen, den keine Vernichtungsmaschinerie brechen kann: Über dem Teppich platziert ist ein Gedicht von Inge Auerbach, die mit sieben Jahren nach Theresienstadt verschleppt wurde. Den Judenstern, von den Nazis als Schandmal auf die Brust gedrückt, deutet sie einfach um – zu einer Auszeichnung nach dem Vorbild der Sterne am Himmel: „Niemand wird meine Seele zerbrechen. Ich bin ein Stern.“ (siehe Kasten oben)

Sie hat überlebt, und wer sich in ihre Zeilen vertieft, weiß, warum sie es geschafft hat. Trotz allem.

Viele bleiben stehen und schauen: Catherine aus Frankreich denkt an ihren ukrainischen Großvater, der in Auschwitz umgekommen ist. Harry, er ist mit Suzanna aus der Slowakei hier, stammt aus Griechenland und hat selbst zum Thema geforscht, über die Deportationen der Juden aus Saloniki. Carsten aus Deutschland vertieft sich in die beschriebenen Schicksale, und Nessa aus Irland berühren besonders die „Kinderzüge“. Von Dezember 1938 bis August 1939 war es möglich, jüdische Kinder nach England zu schicken. Über 40 Züge in Richtung Überleben waren es, vom Wiener Westbahnhof in Richtung London Liverpool Station. Nessa will ihren Kindern davon erzählen. Die belgische Fotografin Sybille hat nicht viel Zeit, aber sie macht ein paar starke Bilder und nimmt zwei Ausstellungskataloge mit. „Damit meine Neffen erfahren, was damals passiert ist.“

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