Jüdische Riviera an der Donau

Ein paar gute Jahre wird das „Krize-les-bains“ noch haben: Das Strombad Kritzendorf im Jahr 1925. © Rübelt, Lothar/ÖNB-Bildarchiv/picturedesk.com

Licht, Luft, Sonne und die Donauwellen sind auch ein politisches Programm: das kleine Glück. Zehntausende finden es am langen Sandstrand von Kritzendorf bei Klosterneuburg, exakt bei Stromkilometer Zwölf.

Von Gerhard Jelinek

Gegründet wird die Kritzendorfer Siedlung als Freiluftbad, um „den wohltätigen Einfluss des Badens auch der ärmeren Bevölkerung und den Schulkindern zugutekommen zu lassen“. Die Holzhäuser stehen auf Stelzen, damit sie bei den regelmäßigen Überschwemmungen nicht fortgespült werden. Es ist eine Donauau, da gehört das Wasser dazu. Der Grund gehört der Gemeinde Kritzendorf und dem Stift Klosterneuburg, das die schönsten Donauabschnitte verpachtet.

Neben einfachen Hütten, die nur aus einem Raum und einer großen Terrasse bestehen, wurden bald durchaus komfortable Strandvillen gebaut. Der junge Architekt Walter Loos plant ein modernistisches Haus in Bauhaustradition. Gleicher Name wie sein berühmterer Kollege Adolf Loos, gleiche Profession, aber keine Verwandtschaft.

Ringstraßenarchitekten wie Emil von Förster bekommen Aufträge einer gut situierten Klientel. Die blickt von der Terrasse der Häuser aufs bunte Treiben der Städter.

Die Arbeiterschaft, aber auch das vornehmlich jüdische Bürgertum entdeckt die Wochenendkultur. Frankophile Spötter reden von der „Krize-les-bains“, andere von der „Riviera an der Donau“.

Trauliche Gebüsche

Der Literat und Chefredakteur der Modernen Welt, Ludwig Hirschfeld, widmet sich in seinem Blatt einem „Sommersonntag auf der Donau“. Hirschfeld muss sich zwischen dem Arbeiterstrandbad am Gänsehäufel oder dem Strombad Kritzendorf entscheiden, wobei streng genommen Kritzendorf kein Bad ist, sondern ein Donaustrand. Kein städtischer „Badewaschl“ wacht als Autoritätsperson mit Ruderleiberl und Pfeife ausgestattet über die guten Badesitten. Hirschfeld lässt klare Präferenzen erkennen: „Der Strand ist wohl einige Kilometer lang, aber doch nicht lang genug, denn man wird bei jedem Schritt von einem ‚Was, Sie sind auch da?‘ angehalten. Es gibt sehr viele trauliche Gebüsche, aber noch mehr zutrauliche Bekannte, die alle genau wissen wollen, warum man heute mit einer anderen als letzten Sonntag da ist. Die Besitzer von eigenen Hütten blicken wie Leute, die ausgesorgt haben, verächtlich auf dieses Getriebe, das eigentlich eine Hauptallee, ein Stadtpark in Trikots und Schwimmhosen ist. Man weiß hier wirklich nicht, welcher Plage man sich zuerst erwehren soll: der neugierigen Gelsen oder der unerbittlichen Bekannten.“

An einem schönen Sommerwochenende fahren Tausende Wienerinnen und Wiener mit der Eisenbahn vom Franz Joseph-Bahnhof (die Republik hat das Wort „Kaiser“ aus dem Namen gestrichen) an die Donau-Riviera. Im Sommer dampfen dreißig bis vierzig Züge pro Tag entlang des Donauufers. Das vom lokalen Verschönerungsverein „Die Linde“ schon vor dem Weltkrieg errichtete Strombad entwickelt sich in den 1920er Jahren zur Freizeitdestination: Baden in der – alles nur nicht blauen – Donau, das Liptauerbrot aus der Proviantdose, ein Himbeer-Kracherl, oder gar der damals berüchtigte Ribislwein vom Wirten. Der weite Auwald mit seinen versteckten Lichtungen eröffnet gewisse erotische Gelegenheiten, sie werden gerne genützt, die Stechmücken in Kauf genommen. Manche Erinnerung bleibt länger als die Gelsendippel.

Schubert von Grinzing

Die Ferienkolonie wird sogar literarisch besungen. Heimito von Doderer verarbeitet seine Kritzendorfer Erlebnisse in der Strudlhofstiege und beschreibt den „grau-grünen Schaum der Auwälder“. Friedrich Torberg lässt die Tante Jolesch auch mal baden gehen. Der passionierte Hakoah-Schwimmer und Wasserballer Torberg wird wohl tatsächlich in die kalte Donau gesprungen und stromabwärts nach Wien geschwommen sein. Für Wochenendgäste, die mehr plantschen als schwimmen, ist das Strombad durchaus mit Vorsicht zu genießen. Strömung und Wirbel haben so manchen mitgerissen.

Die Popularität von „Krize-les-bains“ transponiert der Gassenhauer-Komponist Hermann Leopoldi in einen Schlager um. „Zu mir sagt heute das Fräulein Lena, ich fahr gern mit der Franz Josephs-Bahn. Mein Schatz ist bei der Feuerwehr in Kritzendorf, Kritzendorf, Trara. Er freut sich, wenn es brennt, weil er dann spritzen darf, Spritzendorf, Trara. Und ist bei uns am Land grad kein Feuer zur Hand, das macht nichts, wir sind ineinander verbrannt. Mein Schatz ist bei der Feuerwehr in Kritzendorf, Kritzendorf, Trara.“

Das Wienerlied In Kritzendorf sind so viele Gelsen von Sepp Fellner, der als „Schubert von Grinzing“ in der Himmelstraße wirkte, bleibt – ungeachtet des Wahrheitsgehalts seines Couplets – wohl zurecht eine musikalische Randnotiz. Dabei geigten selbst die Wiener Symphoniker vor dem Strandpavillon auf und spielten Arien aus Aida. Künstler hatten da schon längst die Donau-Riviera entdeckt, manche Prominenz wäre im Badekostüm zu entdecken gewesen. Hilde Spiel und Lina Loos sind fotografisch belegt in Kritzendorf „am Sand“ gewesen.

Dunkle Schatten

Im Juli 1924 werfen politische Ereignisse dunkle Schatten auf die Wochenend-Idylle. Eine Kompanie Hakenkreuzler exerziert am Kierlinger Donauufer in voller Montur. Ein Trupp übt „Felddienst“. Kommandorufe gellen über den Badeplatz. Einige Herren promenieren in grauer Klothose mit einer Hakenkreuzkappe am Strand entlang. Sie wollen gesehen werden, sie wollen provozieren, sie pöbeln Passanten an. Ein Badegast schildert seine Erlebnisse der Zeitung Morgen: „Bis jetzt galt das ganze Stromufer der Donau und der Auen als politisch neutrales Gebiet. Viele tausende Menschen suchten dort Erholung. Den größten Teil der Besucher stellten wohl Arbeiter, doch gab es dort auch viel bürgerliches Publikum, aber immer herrschte dort Ruhe und Friede. Gestern war es anders.“

Hornsignal und Vergatterung

Die Männer treten in Reih und Glied und marschieren in zwei Kolonnen zum Kierlinger Bahnhof. Dort feiern rund tausend „Arbeiterturner“ am Sportplatz ein Fest. Am Glücksrad wird gedreht, ein Tanzboden ist ausgelegt, es gibt allerlei Volksbelustigungen. Überm Himmel von Klosterneuburg türmen sich dunkle Wolken auf. Gewitter drohen. Der Aphoristiker Anton Kuh lässt sich die Szene von Ohrenzeugen erzählen. Die Hakenkreuzler hätten die Die Wacht am Rhein und ein Schmählied mit dem Refrain „Zerschlagt die Juden-Republik! Zerschlagt die Juden-Republik!“ gesungen. Sie tragen Hakenkreuzarmbinden und zeigen auf ihrer Uniform schwarze Achselspangen mit dem Buchstaben „R“ als Monogramm. Es ist das Zeichen der Roßbach-Gruppe, einer paramilitärischen Einheit, die sich am Münchner Hitler-Putsch im November 1923 beteiligt hat. Ihr namensgebender Anführer Gerhard Roßbach setzt sich nach Österreich ab. Die Hundertschaft Hakenkreuzler am Donaustrand sind der letzte Rest einstiger Wichtigkeit. Für Krawall sorgen sie allemal. Sie formieren sich vor dem Sportplatz. Sie provozieren mit zwei Hakenkreuzfahnen. Tumult. Ein Bajonett blitzt auf. Einige Arbeiter stürzen sich auf den Hakenkreuzler, um ihm die Waffe zu entwinden, ein zweites Bajonett, gleichzeitig kracht der erste Schuss, dem sofort sechs bis acht weitere folgen. „Der Menge auf dem Sportplatz bemächtigte sich eine ungeheure Panik. Männer, Frauen und Kinder stürzten sogleich heraus und flüchteten. Das Sportfest wird sofort abgebrochen.“ Unter den Ausflüglern und Badegästen, die zum Bahnhof Kierling strömen, bricht Panik aus. Die Bilanz des Tumults vor dem Sportplatz und der anschließenden Verfolgungsjagd: sechs durch Pistolenschüsse, Dolchstiche und Hiebe mit Totschlägern Schwerverwundete und fünf Leichtverletzte. 56 Nazis werden in der Pionierkaserne, wohin sie flüchten, interniert.

Ein paar gute Jahre wird das Kritzendorfer Strombad noch haben. 1929 baut Architekt Heinz Rolling einen imposanten Eingangsbogen, und Adolf Loos gestaltet im Auftrag der Klosterneuburger Wagenfabrik den Raum des Bades. Nach dem März 1938 überschwemmt eine braune Flut auch das Strombad. Die Nationalsozialisten kündigen alle Pachtverträge und vertreiben die jüdischen Besitzer. Etwa achtzig Prozent der Badehäuser sollen jüdische Besitzer gehabt haben. Juden wird das Betreten der Donau-Riviera verboten. Die Stelzenhäuschen werden an „verdiente“ illegale NSDAP-Mitglieder vergeben. Kritzendorf soll ein „KdF“-Bad werden. Doch die Parteigenossen wollen lieber unter sich bleiben. Nach dem Krieg enteignet der Kritzendorfer Bäderverwalter Hans Reif alle nationalistischen Grundeigentümer. Kaum einer der früheren Besitzer kann oder will nach „Krize-les-bains“ zurückkehren. Es ist nicht mehr wie früher.

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