Jüdische Identität II

Von Martin Engelberg

Als „Besessenheit vom Überleben“ bezeichnet Barnard Wasserstein, langjähriger Professor für Geschichte an der Brandeis University, den Zustand, von dem heute die Gemeindeführer und Denker aller Richtungen und Strömungen im Judentum erfasst sind. Er bezieht sich dabei auch auf den ehemaligen britischen Oberrabbiner Lord Jakobovits, der den Wert eines inhaltslosen, spirituell leeren Überlebens um seiner selbst willen zur Diskussion stellte.

Die Juden in Europa hätten wohl auch in der Nachkriegszeit eine wahrscheinlich unverhältnismäßig große Rolle in der Kultur europäischer Gesellschaften gespielt. Aber dadurch hätten sie keine eigene jüdische Kultur geschaffen. „Was bleibt“, bedauert Wasserstein, „ist eine Tünche der kommerzialisierten Populärkultur: Anatevka, Lokshen-Suppe, jüdische Witze. Und genau das meinen viele europäische Juden heute, wenn sie behaupten, immer noch mit jüdischen Dingen verbunden zu sein. Die Bindung hat wenig zeitgenössische Vitalität; dies ist die Nostalgie für eine trübe wahrgenommene , tote Vergangenheit, nicht die Grundlage für eine lebendige kollektive Identität“.

Als Lösungsmöglichkeit kann Wasserstein nur den Vorschlag von Richard Merienstras, eines französisch-jüdischen Intellektuellen anführen: Die verweltlichten Juden müssten ein neues Interesse an der hebräischen und jiddischen Kultur entwickeln, an der jüdischen Geschichte und an „einer Kulturpolitik der Diaspora“ – geprägt von einem Maximum an kulturellem Pluralismus.

An dieser Stelle möchte ich anhand von drei Beispielen den aktuellen Bezug zu unserer Gemeinde herstellen:

Die Haltung der I.K.G. in der Israel-Diskussion.

Es ist selbstverständlich Aufgabe der I.K.G. und des Präsidenten, zur aktuellen Situation in Israel Stellung zu nehmen. Es gilt gerade in Europa und in Österreich, falsche Berichte zu korrigieren, als Israel-Kritik getarnten Antisemitismus zu entlarven usw. Dies geschieht im Großen und Ganzen recht  ordentlich, halbwegs gut administriert, eben mit jener erwähnten Besessenheit vom Überleben.

Wie groß wären jedoch die Möglichkeiten, diese Situation für eine Entwicklung politischen Denkens und Verstehens, einer Kultur des Disputs und der Diskussion zu nutzen – all das im besten Sinne jüdischer Tradition und gelebter jüdischer Identität. Während der Präsident kleinlich die Israelkritischen Positionen von Dr. Bunzl oder jene (wegen der israelischen Politik) nachdenkliche Erklärung von Gemeindemitgliedern kritisiert oder sie sogar zu verhindern sucht, müsste uns doch gerade das Gegenteil ein Anliegen sein. Wir müssten doch froh und das alles selbstverständlich unter Einbeziehung der vielfältigen und kritischen Stimmen aus unserer Gemeinde. Welche Bereicherung, welche Herausforderung wäre das doch für uns, für die Studenten und Jugendlichen unserer Gemeinde!

Muss die I.K.G., muss der Präsident wirklich fürchten, die Position Israels, der israelischen Regierung käme dabei zu kurz? Überhaupt nicht: Organisiert doch Seminare, ladet Vortragende ein, macht es den Mitgliedern unserer Gemeinde (und nicht nur den üblichen, immergleichen Diskutanten) möglich, in einer Diskussion mit Dr. Bunzl zu bestehen.

Welches Potential an Engagement, Entwicklung politischen Diskurses, Wissens und Denkens, Förderung der Kultur des Disputes, des Austragens von Meinungsverschiedenheiten bleibt hier, gerade im Sinne gelebter jüdischer Identität, ungenützt!

Jüdische Kultur

Niemand kann behaupten, es gebe in Wien, in unserer Gemeinde nicht zuhauf solche Veranstaltungen, manche meinen schon fast zu viele. „Anatevka, Lokshen-Suppe, jüdische Witze, also kommerzialisierte Populärkultur, mit der wir behaupten, immer noch mit jüdischen Dingen verbunden zu sein“ – so zitierte ich weiter oben Barnard Wasserstein. Er argumentiert, dass solche folkloristischen Bindungen wenig zeitgenössische Vitalität besitzen.

Auch in unserer Gemeinde regieren Angst und Misstrauen, Kleinlichkeit und Kleinmut. Eine Erweiterung des Horizontes für jüdische Kultur, ein Heranlassen oder gar Einbinden neuer Entwicklungen und Strömungen ist vorläufig unmöglich. Obwohl es Vertreter dieser Bereiche auch in Österreich gibt, oder obwohl solche aus dem Ausland immer wieder, aber eben nicht auf Einladung unserer Gemeinde, nach Österreich kommen.

Jüdische Religion und Tradition

Das Leben der Religion und Tradition in unserer Gemeinde ist völlig erstarrt. Es gibt die bestehenden Synagogen und Bethäuser, den Religionsunterricht. Interesse und Beteiligung daran nehmen ab. Das wird beharrlich mit dem allgemeinen Trend in den Gesellschaften der westlichen Welt erklärt. Versuche, dem Trend gegenzusteuern, gibt es nicht.

Mir erscheint jedoch gerade dieser Bereich für die Erhaltung und Entwicklung des Judentums als absolut essentiell. Er ist essentiell für gelebte, vitale und sich erneuernde jüdische Identität, also für den Fortbestand unserer Gemeinde. Es muss grundlegend falsch sein, so viel Energie, Zeit und Geld in den Ausbau der wirt s c h a f t l i c h e n Aktivitäten, des Immobilienbestandes der I.K.G., in die Bewachung und Sicherung der immer leerer werdenden Einrichtungen zu stecken, statt in die Förderung des Lebens jüdischer Religion und Tradition. Plastisch ausgedrückt: Ziel der I.K.G. sollte es nicht sein, möglichst jedes Mitglied unserer Gemeinde in einer I.K.G. eigenen Wohnung unterzubringen, ins Sozialsystem zu integrieren und persönlich zu bewachen (wobei die Leistungen der I.K.G. und der vielen in all diesen Angelegenheiten engagiert Tätigen unbedingt zu würdigen sind). Ziel der I.K.G. muss es vielmehr sein, dass jedes Mitglied unserer Gemeinde – und ich meine tatsächlich jedes einzelne Mitglied – in irgendeiner Weise in jüdisches Leben eingebunden wird. Es muss gewährleistet sein, dass es effektiv für jeden (und sogar persönlich), ein Angebot – in der gesamten Vielfalt der Möglichkeiten – gibt, jüdische Religion und Tradition zu leben. Wenn es der I.K.G. möglich ist, zum Zwecke des Fundraisings praktisch jedes einzelne Mitglied unserer Gemeinde persönlich stolz sein, wenn es jede Woche Diskussionen und Symposien zum Thema Israel gäbe, anzusprechen (und für dieses Engagement sei der dafür verantwortlichen Dame in der I.K.G. ausdrücklich gedankt), so müssten wir, die Führung und die Rabbiner der Gemeinde, einen solchen Einsatz doch jedenfalls in einer Sache erbringen, die der bekannte amerikanische Religionswissenschaftler Arthur Hertzberg so beschreibt: „In den letzten zweihundert Jahren war der Pluralismus das einigende Prinzip des modernen Judentums; Juden, die auf theoretischer Ebene stark voneinander abweichen, können in der Praxis aber trotzdem zusammenarbeiten. Sie teilen noch immer die gleichen Überzeugungen, die die jüdischen Fraktionen schon vor zweitausend Jahren zusammenhielten“ und weiter: „Die Zionisten, die Orthodoxen und die religiösen Liberalen von heute haben zwar unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie sich Juden verhalten sollten, aber sie alle verfolgen dasselbe Ziel – nämlich die Erhaltung des jüdischen Volkes als etwas Einzigartigem, Besonderem auf der Welt“.

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