Jüdische Bürger, auf nach Deutschland!

Im Jüdischen Museum Frankfurt wird die Geschichte der Juden ganz klassisch, manchmal fast ein wenig bieder dokumentiert. Spannend ist die aktuelle Wechselausstellung „Ausgerechnet Deutschland!“ über die Zuwanderung russischer Juden.
Ein Lokalaugenschein von Katja Sindemann (Text und Foto)

An einem Werktag kurz vor 10 Uhr. Schulkinder und Touristen warten vor dem Tor des klassizistischen ehemaligen Palais Rothschild, oberhalb des Mains, auf Einlass. Durch die Eingangshalle geht es hinauf in den ersten Stock, zur Dauerausstellung über die religiöse und soziale Geschichte der Juden in Frankfurt am Main (respektive Deutschland). Diese fängt, ganz in klassischer Manier, am Anfang an, nämlich im 4. Jh. n. Chr., und arbeitet sich chronologisch vorwärts.

Historische Urkunden, mittelalterliche Malereien, Kleidungsbeispiele, Sakralgegenstände, Ausgrabungsfotos und bildliche Darstellungen dokumentieren das jüdische Leben in christlicher, zumeist feindlich gesinnter Umwelt, dessen Lage sich mal verschlechterte, mal verbesserte. Anschauliches Beispiel ist ein detailgetreues Holzmodell der Frankfurter Judengasse. Es zeigt den abgeschlossenen Wohnbereich der Juden in qualvoller, ungesunder Enge. Am Wochenende wurden die Tore verschlossen, sodass kein Ausgang möglich war. Immer wieder zahlten die Juden an den Frankfurter Rat, Landesfürsten oder König hohe Abgaben in der Hoffnung auf Schutz. Oft vergeblich. 1241 fiel fast die gesamte Gemeinde einem Pogrom zum Opfer. Während der Kreuzzüge und der Pest 1349 kam es zu Verfolgungswellen. Doch immer wieder siedelten sich Juden in Frankfurt an und erlebten, als direkte Untertanen des Königs, Phasen der Gleichberechtigung. Diese endeten, als der Stadtrat, zusammengesetzt aus den vornehmsten Frankfurter Familien, die Herrschaft übernahm. Es sind Bilddetails, die einen erschauern lassen: Juden mussten sich bei Eidleistung vor Gericht auf eine blutige Sauhaut stellen. Von 1452– 1728 mussten Frankfurter Juden einen gelben Ring auf der Brust tragen.

Frühneuzeitliche Stiche zeigen christliche Bauern beim jüdischen Geldverleiher oder jüdische Großhändler mit christlichen Kunden. Immer wieder richtete sich der Unmut der Schuldner gegen ihre Gläubiger: Die Judengasse wurde gestürmt und geplündert. Die 1616 erlassene Judenordnung blieb bis 1808 in Kraft – und begrenzte die Zahl der Familien auf 500. Eine Urkunde mit blutrotem Siegel von 1811 hält fest, in welchen Raten Mayer Amschel Rothschild 440.000 Gulden für die Gleichstellung der Juden zu zahlen hat. Postwendend stellt eine folgende Karikatur dar, wie sich europäische Herrscher hündisch zu Rothschilds Füßen niederknien. Die Emanzipation des Judentums im 19. Jahrhundert, aber auch der zugleich entstehende politische Antisemtismus werden anschaulich dokumentiert. Der Weg nach Auschwitz war lang. Auch die Zeit nach dem Holocaust wird beleuchtet, zum Teil mit audiovisuellen Mitteln: Überlebende, die in einem umkämpften Palästina ankamen und vor neuen Herausforderungen standen. Die Dankbarkeit gegenüber den USA. Der Wille, eine neue Gesellschaft aufzubauen. Aber auch die Situation jener Juden, die nach Frankfurt zurückkehrten und einen Neubeginn wagten, wird gezeigt.

Im zweiten Stock sind Ausstellungsräume verschiedenen Themen gewidmet: Synagoge, Bildung, häuslich- familiärer Bereich, Sakralkunst (z. B. in Form prachtvoll illustrierter Haggadoth), religiöse Lehre und Feste. Anschaulich werden mittels Objekten und Infotafeln die Hintergründe erklärt. Interessante Details wie ein Reise-Kiddusch-Set oder kitschige, christlichen Grußkarten nachempfundene Bar-Mizwa-Karten oder Werbung für koschere Margarine lockern auf. An manchen Stellen wirkt die Ausstellung bieder, fast altbacken, etwa wenn lebensgroße Tonfiguren eine Familie beim Sederabend zeigen. Aber nichtsdestotrotz ist sie lehrreich. Obwohl es bei gründlicher Besichtigung manchmal fast ein bisschen zu viel an Information ist. Die Schulkinder und Touristen haben sich mittlerweile verflüchtigt. Durch ein prächtiges, original erhaltenes Treppenhaus geht es hinab ins Erdgeschoß, zur (damaligen) Wechselausstellung „Ausgerechnet Deutschland!“. Hier wurde ein emotionsgeladenes Stück Zeitgeschichte spannend aufbereitet: jüdisch- russische Einwanderung in die Bundesrepublik seit den 1990er-Jahren. Eine Mitarbeiterin des Museums verrät hinter vorgehaltener Hand, dass die alteingesessene Frankfurter Judenschaft Probleme mit dem Zuzug der ungebetenen Glaubensgenossen aus dem Osten hätte, das beängstigende Gefühl, in die Minderheit abgedrängt zu werden. Woher kommt das nur bekannt vor?

Die Ausstellung arbeitet jedenfalls die Entwicklung detailliert und facettenreich auf. Origineller Ausgangspunkt ist das Bonmot eines russischen Journalisten namens Wladimir Kaminer: „Im Sommer 1990 breitete sich das Gerücht aus: Honecker nimmt die Juden aus der Sowjetunion auf, als eine Art Wiedergutmachung. Es sprach sich schnell herum, alle wussten Bescheid – außer Honecker vielleicht.“ Im Gegenschnitt sieht man ein Interview mit einem verdutzten Wolfgang Schäuble, damals CDU-Innenminister, der sich 1989 im Zuge der Wiedervereinigung einem unvorhergesehenen Massenansturm russischer Juden gegenübersah. Nicht nur Schäuble, alle waren überrascht. Kurt Schatz, damals Konsularischer Mitarbeiter der Deutschen Botschaft Kiew: „Da bin ich tatsächlich raus gegangen, hab’ mich in den Haufen gestellt und gerufen: ‚Jüdische Bürger – zu mir!‘“

Doch die Vorbehalte lagen nicht nur auf deutscher Seite. So schildert eine russische Jüdin, die Deutschland seit ihren Schultagen dank sowjetischer Nachkriegspropaganda nur als Hort von Nazis und KZ-Aufsehern kannte, wie sie und ihre Familie in dem gelobten Paradies ankamen und sofort in ein von Stacheldraht umzäuntes Auffanglager mit schäbigen Wellblechbaracken gesteckt wurden. Dieses durfte nicht verlassen werden. Man kann sich kaum den Schock dieser Menschen ausmalen. Und wurden sie endlich daraus entlassen, warteten die nächste Hürden: geringe Sprachkenntnisse, Kampf mit Ämtern und Behörden, Nichtzulassung im bisherigen Beruf, beengte Wohnverhältnisse, Mangel an sozialem Umfeld, unvertraute Lebensmittel. Und aus all dem resultierend: Sehnsucht nach der alten Heimat. Punkgenau wird diese in banalen Alltagsgegenständen herausgearbeitet: russisches Satelliten-Fernsehen, jüdisch gewandete Matrjoschka-Puppen, sowjetische Militaria als Andenken, rot-blau karierte Plastiktaschen, in der alles bewegliche Hab und Gut verstaut war. Ärzte, Ingenieure oder Wissenschafter mussten sich als Putzhilfe oder Aushilfsarbeiter verdingen, einige schafften die Umstellung nicht.

Die nachwachsende Generation hingegen identifiziert sich mit der neuen Heimat, arbeitet hart am beruflichen und sozialen Aufstieg – und ist erfolgreich. Genauso überrumpelt wie damalige (Integrations-)Politiker waren jüdische Repräsentanten. Sie hatten sich in der deutschen Nachkriegsgesellschaft eingerichtet, ihre kleine, bequeme Nische belegt. So gern sie nun mit sprunghaft gestiegenen Mitgliederzahlen kokettierten, so ratlos standen sie den daraus erwachsenden Problemen gegenüber. 220.000 russische Juden sind zwischen 1989 und 2005 in die Bundesrepublik eingewandert. Wie die neuen Mitbrüder integrieren? Das Thema ist, wenn auch vielleicht aus den Medien, so doch noch lange nicht vom Tisch.

Neben dem Jüdischen Museum im Rothschild-Palais gibt es noch das Museum Judengasse am Börneplatz, wo die Fundamente ehemaliger Gebäude aus der Judengasse zu sehen sind. Die 350-jährige Geschichte dieser Straße und ihrer Bewohner ist dokumentiert. Im „Geschichtsbüro Friedberger Anlage“, in einem 1942 auf den Resten der 1938 zerstörten Synagoge errichteten Bunker, ist die Geschichte des Stadtviertels Ostend thematisiert. Dort lebte seit Ende des 19. Jahrhunderts 45 Prozent der jüdischen Bevölkerung Frankfurts, mit eigener Infrastruktur aus Schulen, Kindergärten, Spitälern, Altenheimen, Geschäften und Synagogen. Diese wurde 1933 zerstört. Als Abschluss empfiehlt sich ein meditativer Spaziergang über den Jüdischen Friedhof neben dem Hauptfriedhof, wo bekannte Persönlichkeiten wie Moritz Daniel Oppenheim (Maler), Anselm Mayer von Rothschild (Bankier) oder Leopold Sonnemann (Verleger) ruhen.

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