Jenseits der Grenzen des Rechtsstaats

Europäische Außenminister gehören derzeit zu den meistbeschäftigten Politikern. Dennoch hat Sebastian Kurz zwischen Gesprächen über IS-Terror und Telefonkonferenzen zum Ukrainekonflikt Zeit für NU gefunden.
Das Interview führten DANIELLE SPERA und PETER MENASSE.
FOTOS: MILAGROS MARTÍNEZ-FLENER

NU: Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier sagt in einem Gastkommentar in der Presse zu den deutschen Waffenlieferungen an die Kurden, es sei unmöglich, sich in einer in Unordnung geratenen Welt einfach abzuschotten und nur humanitäre Hilfe zu leisten. Wie sinnvoll ist es für Österreich, immer noch eine „neutrale“ Position einzunehmen?

Sebastian Kurz: Neutrale Position bedeutet für uns in Österreich nicht, keine Meinung zu haben, Unrecht nicht zu erkennen oder nicht aktiv zu agieren, sondern das heißt für uns, dass wir militärisch neutral sind. Das steht so in unserer Verfassung. Was Steinmeiers Aussagen betrifft, so kann ich ihm nur zu hundert Prozent beipflichten. Es ist der IS-Terror für uns in zweifacher Hinsicht eine Bedrohung. Einerseits ist er außenpolitisch eine massive Gefahr, vor der wir unsere Augen nicht verschließen dürfen, und zum anderen besteht auch ein Sicherheitsrisiko für Europa, da mehrere tausend Europäer im Kampfeinsatz sind.

Wie stehen Sie zur Aussage von Bundespräsident Fischer, Israel habe im Gaza-Konflikt „unverhältnismäßig“ reagiert?

Diesen Konflikt gibt es schon viel zu lange, und er hat auch schon viel zu viele zivile Opfer gekostet. Es braucht jetzt Verhandlungen in diesem Konflikt und keine bewaffnete Auseinandersetzung mehr. Israel hat ein berechtigtes Sicherheitsbedürfnis und die Raketenangriffe der Hamas sind auf das Schärfste zu verurteilen. Dass die Reaktionen Israels auch zivile Opfer gefordert haben, ist natürlich etwas, was auch thematisiert werden muss, und ich glaube, das wollte der Bundespräsident aufzeigen.

Es ist aber doch so, dass die Hamas ganz bewusst Zivilisten einsetzt. Israel ist freiwillig aus dem Gazastreifen abgezogen. Die Antwort der Hamas waren permanente Raketenangriffe. Wie könnte denn eine verhältnismäßige Reaktion ausschauen?

Ja, es stimmt, die Hamas verwendet Zivilisten als menschliche Schutzschilde. Die Hamas ist eine absolute Gefahr. Dieser Konflikt und die vielen Opfer, die er gekostet hat, haben uns wieder einmal gezeigt, wie notwendig es ist, schnell eine langfristige Lösung zu finden. Ich verteidige das Sicherheitsbedürfnis von Israel. Aber es spielt der Umstand der Hamas in die Hände, dass über eine Million – vor allem junge – Menschen im Gazastreifen auf engstem Raum leben, und das mit sehr wenig Perspektive. Das ist für die Hamas ein Nährboden.

Uns hat sehr erschreckt, was Ihr Friedensappell zum Nahostkonflikt auf Ihrer Facebook-Seite an Hass ausgelöst hat. Was lässt sich machen, wenn solche Aggressionen von Jugendlichen ganz offen ins Netz gestellt werden? War die Anzeige bei der Staatsanwaltschaft ein adäquates Mittel?

Die Geschichte hat uns immer wieder gelehrt, dass es sehr gefährlich ist, wegzuschauen. Insofern war für mich klar, dass wir so etwas nicht dulden und ignorieren dürfen. Es gibt in einem Rechtsstaat ganz klare Grenzen, und ich finde, dass man als Politiker die Verpflichtung hat, wenn diese Grenzen überschritten werden und wenn gepostet wird „Tod allen Juden“ oder „Hitler hat nicht genug getan“, das anzuzeigen. Inzwischen gibt es acht Personen, die mit Konsequenzen zu rechnen haben.
Überall dort, wo Prävention noch möglich ist, muss sie angewendet werden. Aber wenn jemand klar antisemitische Aussagen tätigt oder wenn jemand sich entschlossen hat, bei den IS-Terroristen mitzukämpfen, dann geht es um polizeiliche Konsequenzen und darum, diese Leute auch gerichtlich zu verfolgen.

Handelt es sich bei dieser Radikalisierung um ein Problem der Religion oder ist das nicht vielmehr ein soziales Thema?

Bei den Personen, die sich hier aus Europa der IS anschließen, sind nicht nur solche dabei, die keinen Job haben oder die Schule abgebrochen haben, sondern auch Gebildete und Leute aus wohlhabendem Elternhaus. Aber die Mehrzahl sind Verlierer im System. Insofern war es richtig, in den letzten Jahren eine Reihe von Integrationsmaßnahmen zu treffen. Das aber ist ein langfristiger Prozess.
Damit komme ich zur Herausforderung für den Moment. Da ist auch im Besonderen die Islamische Glaubensgemeinschaft gefordert, denn sie ist die Vertretung aller Musliminnen und Muslime in Österreich und sie wählt viele der Imame in den Moscheen aus, ist für die Moscheen verantwortlich. Wir brauchen die Unterstützung dieser Glaubensgemeinschaft, wenn es darum geht, Radikalisierung aufzudecken. Verfassungsschutz und die Polizei leisten gute Arbeit, aber darüber hinaus ist auch die Unterstützung der Glaubensgemeinschaft notwendig.

Es geht uns aber neben den ganz Radikalen auch um die große Menge junger Leute, die in dritter Generation in Österreich leben, vermeintlich integriert sind und sich trotzdem nicht mit Österreich identifizieren. Jene, die zu Demonstrationen gehen und israelische Fahnen verbrennen.

Ich stimme zu. Das ist schockierend – und doch hatten wir in der Vergangenheit noch schlechtere Resultate. Ja, wir haben vor Jahrzehnten Menschen als Gastarbeiter geholt. Keiner hat sich darum gekümmert, dass sie Deutsch lernen. Viele sind darunter, denen man vermittelt hat, dass sie nicht willkommen, nicht heimisch hier sind. Ich sage das, ohne damit diese Reaktionen rechtfertigen zu wollen.

Der türkische Präsident Erdogan war hier und hat eine Rede für die türkische Community gehalten. Warum stellt sich nicht ein österreichischer Spitzenpolitiker einmal in der Stadthalle vor diese Community und spricht zu ihr?

Ich bin inzwischen, wie viele andere österreichische Politiker auch, in allen großen Institutionen der Muslime zu Gast gewesen. Es gab bei mir, seit ich Staatssekretär war, jedes Jahr das Fastenbrechen für die Spitzen der muslimischen Community. Der Bundeskanzler lädt zu solch einem Event ein, ebenso der Bundespräsident. Ihre Kritik ist also nicht richtig.
Wenn wir uns die 140 Personen anschauen, die von Österreich aus in den Krieg gezogen sind, dann handelt es sich dabei nicht um Türken, die bei Erdogan in der Stadthalle waren. Das sind vor allem Tschetschenen. Von denen haben wir in der Vergangenheit nicht erlebt, dass sie einem ausländischen Politiker zugejubelt hätten. Gegen sie wurde auch nicht Stimmung gemacht, wie mitunter gegen die Türken. Man soll es sich also in seinem Urteil nicht zu leicht machen.

Reden wir über die Demonstrationen, die während des Gaza-Konflikts hier stattgefunden haben, wo viele türkischstämmige Österreicher sehr radikal sowohl in ihrer Sprache als auch in ihrer Symbolik aufgetreten sind. Das ist etwas, was uns als Juden großes Unbehagen bereitet.

Ich sehe das auch. Wir haben mittlerweile eine Welt, die nicht nur globalisiert ist, sondern die durch neue Medien vernetzt ist, wo sich vor allem auch junge Menschen aufhalten. Ja, der Gaza-Konflikt führt zu einer starken Emotionalisierung von Menschen mit Migrationshintergrund in ganz Europa. Dabei gibt es teilweise eine Anti-Israel-Kampagne mit Bildern, die oftmals nur angeblich aus Gaza sind, aber gar nicht von dort stammen. Viele junge Muslime sehen diese Bilder von getöteten Kindern, von zerbombten Schulen in Facebook und Twitter, verbreiten das weiter, erleben das als tiefes Unrecht.

Diese Bilder gibt es etwa zu Syrien auch und viel mehr. Aber da kommt es zu keiner Emotionalisierung. Das wird weggewischt, dass die IS-Terroristen ihre eigenen Landsleute massakrieren. Warum wühlt das junge Moslems in Österreich nicht auf?

Da darf man auch nicht zu pauschal urteilen. Es gibt 500.000 Muslime in Österreich. Die meisten von ihnen sind gut integriert, leisten einen wichtigen Beitrag für unsere Gesellschaft. Sie sehen die IS genauso als Terroristen, wie wir hier an diesem Tisch. Es gibt eine kleine Gruppe, die mit dem Terror sympathisiert und 140, die nach Syrien oder in den Irak aufgebrochen sind, um für die IS zu kämpfen. Jeder einzelne ist einer zu viel und jeder einzelne ist auch ein Sicherheitsrisiko für uns. Aber man muss die Zahlen in einem richtigen Verhältnis sehen. Es geht nicht an, dass jetzt jeder Moslem auf der Straße schief angeschaut wird. Fremdenhass und Vorurteile sind in jeglicher Hinsicht immer und stets abzulehnen.

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