„Ja, wir fühlen uns hier zu Hause“

Eine neue Generation bucharischer Juden übernimmt das Ruder in ihrer sehr eng verbundenen Gemeinde. NU hat ihre Protagonisten getroffen und porträtiert.
Von Martin Engelberg (Text) und Jacqueline Godany (Fotos)

Die Eltern und Großeltern emigrierten zumeist in den 1970er-Jahren aus der damaligen Sowjetunion nach Israel. Aus den unterschiedlichsten Gründen strandete dann ein Teil von ihnen später in Wien. Deren Kinder, sie bezeichnen sich als die Zweite Generation, sind entweder schon in Österreich geboren, jedenfalls hier aufgewachsen, sind heute zwischen 30 und 50 Jahre alt und haben sich beruflich weitgehend etabliert. Jetzt übernehmen sie zunehmend auch das Ruder in ihrer sehr eng verbundenen Gemeinde, deren Mitglieder alle über drei Ecken verwandt sind, wie sie selber schmunzelnd sagen.

„Meine Familie ging von Samarkand nach Israel“, „unsere Familie stammt aus Taschkent“, „wir lebten in Chudschand, damals hieß es noch Leninabad“ – so lauten zumeist die Herkunftsbeschreibungen der bucharischen Juden. Sie stammen aus den zentralasiatischen Republiken Usbekistan, Tadschikistan, Kirgisistan und sind direkte Nachfahren jener Juden, die im babylonischen Exil (nach der Zerstörung des 1. Tempels ca. 600 v. d. Z.) verblieben und im Laufe der Jahrhunderte nach Norden und Osten weitergezogen waren. Nachdem sich die meisten von ihnen im Emirat Buchara niederließen, bürgerte sich für sie die Bezeichnung „Bucharische Juden“ ein.

Aus den unterschiedlichsten Gründen strandeten dann ein Teil der bucharischen Juden im Laufe der letzten 30 bis 40 Jahre in Wien. Manche kamen, weil sie sich schwer taten, in Israel eine Existenz zu gründen, sich an das Klima und die Mentalität zu gewöhnen, aus wirtschaftlichen oder auch gesundheitlichen Gründen. Anfänglich blieben sie von den in Wien ansässigen Juden unbemerkt oder wurden von diesen gar gemieden. Schließlich waren die ersten bucharischen Juden, die nach Wien kamen, jene, die sich aus den unterschiedlichsten Gründen in Israel nicht wohlgefühlt hatten und wieder in die Sowjetunion zurückwollten. Ein unverzeihliches Sakrileg angesichts des gewaltigen politischen und finanziellen Aufwandes, der betrieben worden war, um den Juden in der Sowjetunion zuvor die Auswanderung zu ermöglichen.

In den 1980er-Jahren begannen sie sich mit Unterstützung der Lubawitscher (chassidische Gruppierung innerhalb des orthodoxen Judentums, welche Schlichim, hebr. Gesandte, in alle Welt entsendet, um jüdische Gemeinden zu unterstützen) und später auch der Kultusgemeinde zu organisieren. Es wurde der Verein der bucharischen Juden, „Das Komitee“ genannt, sowie Bethäuser, Schulen und verschiedene Organisation gegründet. Mit ihren zirka 2000 Mitgliedern bilden sie inzwischen heute ungefähr ein Viertel der jüdischen Gemeinde.

Die bucharischen Juden der zweiten Generation sind ein Musterbeispiel einer gelungenen Integration. Sie besuchten öffentliche Schulen, manche gingen in eine der jüdischen Schulen, sie machten entweder eine Lehre, viele maturierten und einige schlossen ein Studium ab. Etliche junge Bucharen leisteten den Militärdienst ab. „Wir rüsteten beide als Gefreite ab“, berichten Babacsayv und Malaiev. Die Frage, wie es ihnen im Bundesheer erging, beantworten alle mit einem Schulterzucken: „Keine Probleme – alle haben sich unglaublich bemüht, dass nur ja nichts passiert.“

Inzwischen haben sie es auch beruflich zu etwas gebracht. Gabriel Borochov mischt mit seiner Firma „Red Bus“ seit Jahren kräftig und höchst erfolgreich im Tourismusgeschäft, mit seinen „Hop-on Hopoff“ Bussen, mit. Dazu organisiert er auch VIP-Rundfahrten für russische Touristen. „Wien hat uns gut aufgenommen“, sagt Borochov, der sogar ein Jus-Studium begonnen hatte, bevor es ihn zu sehr in die Geschäftswelt zog. Jetzt will sich Borochov auch mehr in der bucharischen und der jüdischen Gemeinde insgesamt engagieren.

Moshe Matatov ist Magister der Wirtschaftswissenschaften und macht Karriere im Bankwesen. Er ist religiös und trägt immer eine Kippa, eine Kopfbedeckung. „Im Büro und auf der Straße ist das kein Problem. Manchmal, wenn ich auswärts zu Kunden gehe, nehme ich die Kippa einfach runter, da erspare ich mir fragende Blicke“, erzählt Matatov mit sehr gesundem Selbstbewusstsein. Er investiert viel Zeit und Energie in der bucharischen Gemeinde, ist Vizepräsident des Komitees und Chefredakteur der Zeitung „Sefardinews“.

Auch bei der europäischen Makkabiade, den jüdischen Olympischen Spielen, welche im vergangenen Sommer erstmals in Wien stattfanden, fiel die starke Identifizierung mit Österreich, vor allem der Sportler aus bucharischen Familien auf. Ihre Sprechchöre „Immer wieder Österreich“ waren lautstark vernehmbar und standen denen „waschechter“ Fußballfans um nichts nach. „Ja, ich bin hier zu Hause, auch wenn mich Leute – wegen meiner schwarzen Haare – immer wieder als Ausländer ansehen“, erzählt Isaak Malaiev. Chanan Babacsayvs Eltern gingen nach Israel zurück, als er etwa 20 Jahre alt war. In Israel vermisste er aber seine Freunde und die vertraute Umgebung hier in Wien so sehr, dass er wenig später alleine nach Wien zurückkam und sich hier niederließ. Inzwischen ist auch seine Familie aus Israel wieder nach Wien zurückgekehrt. „Ich kann mir nicht vorstellen woanders zu leben“, sagt auch Avner Motaev, der seit cirka zehn Jahren ein streng religiöses Leben führt und geschäftlich sehr erfolgreich im Telekommunikationsund Immobilienbereich tätig ist.

Auf die Frage, wie sie denn Politiker wie Strache und die FPÖ sehen, rutscht einem zuerst spontan raus: „Manche Leute sagen, was der sagt, ist schon richtig“. Sofort wird er von den anderen korrigiert. „Strache ist ein Populist. Man hat uns vorgeworfen, wir Bucharen hätten ein Naheverhältnis zu Strache und er hat auch tatsächlich versucht, über Jugendliche von uns Berührungspunkte zu schaffen, damit sie sagen können: ‚Nur der Muzicant ist gegen uns‘. Aber nicht mit uns!“, erzählt Chanan Babacsayv staatsmännisch und fügt hinzu: „Jemand der offensiv gegen Muslime vorgeht, kann nicht gut für Juden sein“. Nicht zufällig gilt er als eine der politischen Zukunftshoffnungen der bucharischen Gemeinde. Er ist jetzt schon der Vizepräsident des Komitees und soll auch der zukünftige Listenführer der bucharischen Fraktion in der Kultusgemeinde werden. In der Kultusgemeinde ist er bereits seit mehreren Jahren im Vorstand und in zahlreichen Kommissionen, zum Teil leitend, tätig.

Im November 2011 finden im Komitee Neuwahlen statt. Der bisherige Präsident, Uri Gilkarov, ein langjähriger politischer Weggefährte des IKG-Präsidenten Muzicant, steht unter Beschuss und muss um seine Wiederwahl fürchten. Strittig ist nämlich die Frage, ob er überhaupt nochmals antreten darf. Er wurde bereits zwei Mal gewählt und eine nochmalige Wiederwahl schließt das Statut aus. Heute zählen bereits fünf der elf Mitglieder des Komitees zur zweiten Generation. Nach der Wahl im November sollen es noch mehr sein, höchstwahrscheinlich werden sie dann die Mehrheit haben und einige wünschen sich, sehr respektvoll, aber nicht minder bestimmt, einen neuen Präsidenten. Avner Motaev und seine Gruppe überlegen überhaupt die Gründung eines eigenen Vereins, abseits des Komitees, sollte Gilkarov nochmals kandidieren.

Dies könnte dann auch durchaus Auswirkungen auf die Mehrheitsverhältnisse und die Wahl des Kultusgemeinde- Präsidenten haben. Auch in der Kultusgemeinde steht ja 2012 der Abgang Muzicants und eine Neuwahl des Präsidenten an und galten die Bucharen bisher immer als fixe Koalitionäre Muzicants und des von ihm favorisierten Nachfolgers Ossi Deutsch. Gefragt nach ihren eigenen Ambitionen auf eine Präsidentschaft in der Kultusgemeinde kommt spontan die Antwort: „Da sind wir noch weit entfernt. Vielleicht in 20 Jahren.“

Israel Abramov
32 Jahre alt, in Israel geboren, besuchte die ZPC-Schule der Kultusgemeinde und arbeitete sich danach erfolgreich zum Immobilienkaufmann empor. Obwohl er Mitglied des Vorstandes des „Komitees“ (Verein bucharischer Juden) ist, möchte er sich politisch eher im Hintergrund halten und sich lediglich persönlich bei sozialen Aktivitäten und für religiöse Angelegenheiten engagieren. Er ist verheiratet und hat „bisher“ fünf Kinder, wie er sagt.

Chanan Babacsayv
1977 in Israel geboren, kam mit neun Jahren mit seinen Eltern nach Wien. Die Familie hatte wenig Kontakt mit dem Judentum, er ging in eine öffentliche Volksschule, absolvierte die Handelsakademie und das Bundesheer. Als seine Familie nach Israel zurückging, kehrte Babacsayv wenig später wieder alleine nach Wien zurück. Er hatte seine Wiener Freunde und vertraute Umgebung zu sehr vermisst. Wenig später kehrte auch seine Familie wieder nach Wien zurück. Babacsayv betätigte sich in der Handy-Branche, sattelte vor einigen Jahren um und ist jetzt Immobilienmakler. Babacsayv ist verheiratet und hat drei Kinder. Er ist Vizepräsident des Komitees und soll auch der zukünftige Listenführer der bucharischen Fraktion in der Kultusgemeinde werden.

Isaak Malaiev
34, wurde als einer der ersten bucharischen Juden in Wien geboren. Seine Familie stammt aus Samarkand (Usbekistan). Er ging in eine öffentliche Volksschule, danach in die jüdische Hauptschule Chabad Grünentorgasse und wurde dann zum Datenverarbeitungskaufmann ausgebildet, ist aber schließlich seit 2004 als Immobilienmakler tätig. Malaiev ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Gaby Borochov
ist 1968 noch in Duschanbe (Tadschikistan) geboren, seine Familie kam über Israel 1980 nach Österreich. Er besuchte eine Hauptschule und Gymnasium im 20. Bezirk, begann ein Jus-Studium, baute jedoch dann ein Busunternehmen für Touristen auf, mit dem er sich inzwischen höchst erfolgreich in Wien etablierte.

Moshe Matatov
ist 1981 in Israel geboren, seine Familie kam 1989 nach Wien. Er besuchte zuerst die jüdische Schule, maturierte dann an der Handelsakademie, studierte an der WU Wien und graduierte 2007 zum Magister der Betriebswirtschaft. Danach trat Matatov in eine Bank ein und ist obendrein Vizepräsident des Komitees und Chefredakteur der „Sefardinews“.

Avner Motaev
1972 in Duschanbe (Tadschikistan) geboren, emigrierte mit seiner Familie 1979 nach Israel. Die Eltern entschlossen sich jedoch, Israel wieder zu verlassen, da Avner an schwerem Asthma litt und die Ärzte eine Übersiedlung nach Mitteleuropa empfahlen. In Wien ging er in eine öffentliche Schule und machte danach eine Schuhmacherlehre. Vor fast zwanzig Jahren eröffnete Motaev ein Geschäft an der Mariahilfer Straße, wechselte dann in die Telekommunikationsbranche und ist jetzt auch im Immobiliengeschäft tätig. Avner Motaev ist Leiter der Bucharischen Gemeinde im 20. Bezirk mit ihrer Synagoge „Bet Aharon“, die seit 2001 in der Chabad Schule eingemietet ist. Er überlegt mit seinen Leuten die Gründung eines eigenen Vereins abseits des Komitees und eine eigene Kandidatur bei den Kultusgemeinde-Wahlen.

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