„Ist er denn keine Menschenseele?“

Der Gefängnis-Imam und Religionslehrer Ramazan Demir hat mit NU über radikale muslimische Jugendliche und wie man an sie herankommen kann, die richtige Interpretation des Koran und über Judenhass gesprochen.
VON PETER MENASSE (INTERVIEW) UND MILAGROS MARTÍNEZ-FLENER (FOTOS)

NU: Wie sind Sie Imam geworden, wo kommen Sie her?

Ramazan Demir: Ich bin in Deutschland geboren, in Ludwigshafen am Rhein, in der Stadt Helmut Kohls. Vor mehr als sieben Jahren bin ich nach Wien gezogen, um hier an der Islamischen religionspädagogischen Akademie zu studieren. Das heißt heute Studiengang für Islamische Religion an Pflichtschulen. Ich habe dort meinen Bachelor gemacht.

Wer finanziert diesen Lehrgang?

Ich weiß es wirklich nicht. Da müssen Sie beim IRPA (Anm.: Hochschulstudiengang für das Lehramt für Islamische Religion an Pflichtschulen) oder bei der IGGiÖ (Anm.: Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich) nachfragen. Wir hatten Professoren von der Universität Wien, wie zum Beispiel Susanne Heine. Wir hatten zunächst einmal pädagogischen und theologischen Unterricht. Danach bin ich an die Universität Wien gegangen und habe dort zwei Jahre den Masterstudiengang Islamische Religion studiert, also wieder Religionspädagogik. Alles zusammen dauerte fünf Jahre, und nun bin ich dabei, meine Doktorarbeit zu schreiben. Ich bin seit ungefähr fünf Jahren Religionslehrer im Brigittenauer Gymnasium im 20. Bezirk, arbeite als Gefängnis-Imam in der Justizanstalt Josefstadt und fungiere nebenbei als Generalsekretär der Islamischen Gefängnisseelsorge.

Wie viele Gefängnis-Seelsorger gibt es?

Wir haben in ganz Österreich 46 islamische Gefängnisseelsorger, die alle ehrenamtlich tätig sind – mit der Problematik, dass, wenn wir Professionalität wollen, wir uns auch eine angemessene Finanzierung leisten müssten. Jeder von uns hat einen Hauptberuf, die meisten sind Religionslehrer. Wenn man dann den ganzen Tag arbeitet und noch nebenbei im Gefängnis Seelsorge leistet, wird das sehr schwierig.

Um wie viele Häftlinge kümmern Sie sich?

In ganz Österreich sitzen ungefähr 8.700 Gefangene ein, davon etwa 1.700 Muslime. Um die alle müssen wir uns kümmern, was eigentlich nicht möglich ist. Gäbe es vielleicht zehn hauptberufliche Seelsorger, dann ginge das. Aber neben einer Berufstätigkeit ist es schwierig. Wir machen trotzdem gute Arbeit, die auch zielführend ist. Das beweisen die Rückmeldungen der Kommandanten, der Anstaltsleitungen und anderer. Aber das ist zu wenig, das sind ein bis zwei Stunden in der Woche für mich, wo ich das Freitagsgebet leite, wo ich die Predigt halte und ein paar Einzel-Seelsorgen führe, also maximal zwei Einzelbetreuungen, und das reicht definitiv nicht aus.

Sind viele junge Menschen unter den muslimischen Straftätern?

Nein, die meisten sind natürlich älter, aber wir haben auch junge Leute. Wir haben zum Beispiel die Justizanstalt Gerasdorf für Jugendliche und junge Erwachsene, und da gibt es auch viele Muslime. Das ist ja die Herausforderung für uns. Wir müssen uns um diese jungen Leute kümmern, die gefährdet sind, sich später zu radikalisieren.

Die Attentäter von Paris sollen im Gefängnis radikalisiert worden sein. Ist eine solche Gefahr in Österreich groß?

Definitiv. Weil es ist immer möglich, dass ein paar hineinkommen, die radikal sind und dann die anderen mit diesem Gedankengut anstecken. Genau deswegen braucht es islamische Gefängnisseelsorger. Die Leute hören in islamischen Angelegenheiten nicht auf den Beamten oder auf den Psychologen. Da muss ein Theologe, ein Religionspädagoge, ein islamischer Fachmann her. Nur sie können Aufklärungsarbeit leisten.

Und hören die Leute tatsächlich auf Sie?

Derzeit kommen wirklich nur wenige radikale Leute ins Gefängnis, aber man muss sie ernst nehmen. Sie hören zwar am Anfang nicht auf mich, werden aber auch von den Mithäftlingen nicht angenommen. In dieser gesellschaftlichen Isolierung brauchen sie nach ein paar Monaten einen Kontakt. Und dann kommen wir zusammen, wir reden, und nach einigen Sitzungen baut man Vertrauen auf. Dann lässt sich helfen, Aufklärungsarbeit und Informationsarbeit leisten. Aber definitiv müssen wir es probieren. Wenn wir sagen, die hören sowieso nicht auf uns, haben wir verloren.

Sie könnten theoretisch sagen, der ist so verstockt und so klar dem Terrorismus verfallen, ich zeige das jetzt auch an. Würden Sie so etwas machen, etwa den Verfassungsschutz einschalten?

So etwas war bis jetzt noch nie der Fall. Warum? Die Leute, die radikal sind, die drinnen sitzen, die strahlen das ja sofort aus. Sie sprechen offen, sie verheimlichen nichts. Wichtig ist, dass wir uns um sie kümmern. Noch wichtiger aber ist, dass ich mich der Mehrheit annehme und darauf achte, dass diese Menschen nicht radikal werden.

Es gibt so viele Behauptungen, Rechtfertigungen für Taten, die immer den Islam als Grundlage nehmen. Dann gibt’s wie- „In der Leute, die sagen, der Islam ist eine friedliche Religion. Welche Interpretation des Islam ist denn die richtige?

Es gibt 1,5 Milliarden Muslime, und 99 Prozent von ihnen sind friedlich. Zeigt das nicht, dass der Islam eine friedliche Religion ist? Zum Zweiten stellt sich die Frage, warum Leute radikal sind, warum sie Attentate begehen, wie jenes in Paris. Es zeigt sich immer wieder, dass diese Attentäter einen Vers aus dem Koran herauspicken und nicht auf den Kontext achten, nicht schauen, was vorher und was nachher geschrieben steht. Die meisten Radikalen sind religiöse Analphabeten. Sie haben einen Hass auf die Welt, auf die anderen, die bösen anderen, und halten sich selbst für die Guten. Die meisten sind auch nicht gebildet, weder religiös noch schulisch. Als islamischer Religionslehrer ist es meine Aufgabe, den Muslimen zu erklären, dass einzelne Sätze ohne Zusammenhang nichts aussagen. Ich muss mit ihnen darüber reden, dass nicht alle Passagen aus der Zeit vor 1.400 Jahren ohne Erläuterung verständlich sind. Es gibt ja auch viele Prophetengeschichten im Koran. Sie lassen sich nicht einfach auf heute übertragen. Es gibt Gebote und Verbote, die im Koran stehen. Natürlich. Man muss darüber hinaus immer vorsichtig sein, wenn man ein Wort übersetzt. Nehmen wir zum Beispiel das Wort „Kafir“ her, das „Ungläubige“ heißt und manchmal falsch für Christen und Juden verwendet wird. Das ist einfach eine Fehlinterpretation. Weil Christen und Juden sind „ahlu l-kitāb“ und das heißt laut Koran, sie sind Gläubige, Besitzer der Schrift. Wie kann ich die jetzt als Ungläubige abstempeln? Mohammed hat immer seine jüdische Nachbarin besucht, hat mit Juden Friedensverträge abgeschlossen. Im Koran steht, dass wir, Muslime wie Juden, alle Kinder von Adam und Eva sind. Daher müssen wir in Frieden leben. Ich gebe Ihnen noch ein Gleichnis, ein „Hadith“. Der Prophet saß mit seinen Gefährten, und da kam ein Leichenzug vorbei. Der Prophet stand auf und alle schauten und standen auch auf. Der Prophet setzte sich wieder hin, und alle taten es ihm gleich. Da fragte einer: Warum bist du aufgestanden? Das waren doch Juden. Und der Prophet sagte: „Ist er denn keine Menschenseele?“ Alle drei Religionen, sowohl Christentum, Judentum als auch der Islam sind monotheistische Religionen, sie glauben alle an einen Gott. Das Attentat von Paris, das war eine Grausamkeit, das war ein Angriff auf die Muslime, auf den Koran, auf den Propheten. Das ist zu verurteilen, und das haben wir auch wirklich getan.

Die jungen Leute, die in den „Dschihad“ ziehen, sind das wirklich alles Bildungsverlierer, Sozialverlierer?

In Österreich sind 170 in den von ihnen selbst so genannten Dschihad gezogen. Die meisten von ihnen sind Tschetschenen. Oder auch Leute, die familiäre Probleme und Freundeskreis- Probleme haben, schnell manipulierbar sind, bildungsferne Leute. Leute, die Anerkennung brauchen, Leute, die Abenteuer wollen.

Was ist mit den Eltern der jungen Menschen, kann man an sie herankommen?

Natürlich könnte und muss man sogar an die Eltern herankommen. Das versuchen wir, die islamische Glaubensgemeinschaft, sowieso, und es gelingt uns auch durch die Moschee-Vereine und andere Institutionen, wo wir informieren, aufklären und zweitens uns um die Menschen kümmern. Aber natürlich kommt nicht jeder in einen Moschee-Verein. Die meisten, die radikal geworden sind, waren keine Mitglieder eines Vereins. Für uns ist erst einmal wichtig, dass wir die Mehrheit informieren und sie aufklären. Aber es wird immer wieder – leider – einige wenige geben, die wir niemals kontrollieren können, auch wenn wir es stets versuchen müssen. Es geht auch darum, Projekte zu initiieren. Beispielsweise haben wir mit Unterstützung der Direktorin unserer Schule eine Podiumsdiskussion zum Thema Radikalismus angeboten. Das gab es wahrscheinlich das erste Mal in ganz Wien. Wir haben Experten geholt, die alle Schüler einer Schulstufe für eineinhalb Stunden in Form eines Pflichtseminars informiert und aufgeklärt haben. Man muss es versuchen.

Warum gibt es so viele Muslime, die keine Juden mögen?

Ich würde zunächst einmal sagen, viele Muslime können den Staat Israel nicht von den Juden trennen. So sagen sie dann: „Das waren die Juden.“ Das ist definitiv nicht richtig. Man muss aber auch sagen, dass bei den Juden der Islamhass steigt, wie bei den Muslimen leider der Judenhass. Das heißt nicht, dass es bei allen so ist, aber die Tendenz ist steigend.

Wenn bei den Juden die Abwehr gegen Muslime steigt, dann doch, weil beispielsweise bei Demonstrationen in Wien türkischstämmige Menschen antisemitische Losungen gerufen haben. Ich sehe keine Juden, die gegen Muslime demonstrieren.

Sie haben in der Hinsicht recht, wenn Sie sagen, Sie haben einige Türken gesehen, die jetzt – in Anführungszeichen – mit Fahnen demonstrieren gegangen sind, aber das sind wieder nur einige wenige. Wir Imame und Religionslehrer müssen dagegen auftreten; und glauben Sie mir, das tue ich auch. Sowohl in meiner Predigt in der Moschee als auch im Religionsunterricht stelle ich das klar. Der Angriff auf die Gaza-Hilfsflotte, bei der neun Türken umgekommen sind, war auch ein Grund. Israel hat sich zwar dafür entschuldigt, aber das hat sicher dazu beigetragen, dass manche Türken auf einmal einen Judenhass haben.

Rechtsradikale in Österreich schmieren Hakenkreuze auf Moscheen. Kann man den Muslimen nicht an diesem Beispiel zeigen, dass wir in Wirklichkeit gemeinsame Feinde haben?

Ja, Rechtsradikale sind darüber hinaus nicht nur die Feinde der Juden und Muslime, sondern auch der Christen. Aber eine Sache ist mir noch wichtig: Die Islamfeindlichkeit ist hier in Österreich im Steigen. Nicht nur die Hakenkreuze, auch die Beschimpfungen, Kopftuch herabziehen, Anspucken einer Dame mit Kopftuch gerade vorgestern. Wir haben in der Dokumentationsstelle der Glaubensgemeinschaft in einem Monat schon 50 Angriffe verzeichnet, verbale oder nonverbale Angriffe auf Musliminnen mit Kopftüchern. Das ist schrecklich.

Die mobile Version verlassen