„Irgendwann wird keiner von uns mehr da sein“

Otto Deutsch kam als Zehnjähriger mit einem Kindertransport nach England und blieb dort. Für NU erinnert er sich an seine im Holocaust verlorene Familie und an das Wien der späten dreißiger Jahre.
VON AXEL REISERER, LONDON

Otto Deutsch hat die Vergangenheit nie vergessen. „Es ist seltsam. Ich kann mich nicht erinnern, was vor zwei Wochen geschehen ist. Aber die Ereignisse von 1938 sind mir vollkommen lebendig und in allen Einzelheiten präsent“, sagt der geborene Wiener, der im Alter von zehn Jahren mit einem Kindertransport nach Großbritannien kam und bis heute in Southend-on-Sea lebt, einem etwa 60 Kilometer von London entfernten Ort an der Themsemündung.

Die Jahre, die sich in Ottos Gedächtnis eingebrannt haben, sind die späten 1930er. Damals wurde die Welt der Familie Deutsch ebenso rasch wie grausam zerstört. „Wir waren arm, aber ich war glücklich“, erinnert sich der im Juli 1928 geborene Otto. „Zimmer, Küche, Kabinett, Klo und Wasser auf dem Gang. Mich hat das nicht gestört. Was braucht ein Zehnjähriger mehr als die Liebe seiner Familie?“

Die Juden des 10. Bezirks

Vater Viktor Deutsch war in der Weltwirtschaftskrise der Zwischenkriegszeit meist arbeitslos, „aber er war geschickt mit seinen Händen“ und bemühte sich, die Familie mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser zu halten. Otto hat eine sieben Jahre alte Schwester, Adele, die davon träumt, Sängerin zu werden. „,Jetzt schreit sie schon wieder‘, sagte ich, wenn sie zu singen anfing“, erinnert sich Otto. „So ein gemeiner Bruder war ich.“

Die Familie Deutsch gehörte zu den wenigen Juden im 10. Wiener Gemeindebezirk Favoriten, wo Otto im Haus Buchengasse 84, Tür 15, aufwuchs. Die Familie verstand sich als jüdisch, ohne dass die Religion und ihre Gesetze eine besondere Rolle spielten. „Unsere Nachbarn waren katholisch, wir waren jüdisch, wen kümmerte das schon? Im Gegenteil, wir hatten das Beste aus beiden Welten: Der Nachbarsjunge Kurt kam zu uns zur Chanukka- Feier, und ich war eingeladen, wenn bei ihnen die Christbaumkerzen angezündet wurden.“

Während ihm die Schule eine lästige Pflicht war („Ich war kein besonders guter Schüler“), spielte Otto jeden Nachmittag im benachbarten Arthaberpark mit Leidenschaft Fußball: „Ich war ein sehr guter Torhüter und sogar Kapitän unserer Mannschaft.“ Auf einmal aber gingen seine Kameraden auf Distanz: „Ich wurde nicht mehr eingeladen, und niemand wollte mehr zu mir nach Hause kommen.“

Otto war es ein Rätsel, was geschehen war. Dann hörte er die Jungen tuscheln, dass der eine Vater und dann der nächste und dann wieder einer „der Partei“ beigetreten sei. „Die Partei“ bedeutet damals nur eines – die offiziell zu diesem Zeitpunkt in Österreich noch verbotene Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, die seit Jänner 1933 in Deutschland an der Macht war und eine rassistische Diktatur durchgesetzt hatte. „Und dann hörte ich natürlich das Unvermeidliche – das Wort Jude.“

Vom Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland und der dramatischen letzten Ansprache von Bundeskanzler Kurt Schuschnigg am 11. März 1938 („Gott schütze Österreich“) erfährt das Haus in der Buchengasse, auch die Nazis unter den Bewohnern, ausgerechnet in der Wohnung des Juden Viktor Deutsch. „Mein Vater hatte einen Empfänger mit Lautsprecher gebastelt, und da dröhnte nun ernste Musik, und alle Augenblicke kündigte ein Sprecher ,eine sehr wichtige Mitteilung‘ an.“ Nachdem Schuschnigg gesprochen hatte, ertönte zum letzten Mal die österreichische Hymne. „Dann gab es einen Stromausfall, und als das Radio wieder auf Sendung ging, war aus Radio Wien mit einem Schlag der Reichssender Wien geworden.“ Von der Straße ertönten Jubel und Musik.

„Juda verrecke!“

Der nächste Tag war ein Samstag und die Juden des 10. Bezirks versammelten sich zum Sabbat-Gebet. Zehn männliche Juden müssen dafür zusammenkommen. „Mein Vater sagte, ich solle mitkommen. Meine Mutter war dagegen. Ich ging“, erinnert sich Otto. Doch die bisherigen Mitbürger hatten sich vollkommen verändert: Es begann mit feindseligen Blicken, dann wurde laut „Jude, Jude“ gerufen und als schließlich der Ruf „Juda verrecke!“ ertönte, befahl Vater Deutsch seinem Sohn, sofort nach Hause zurückzukehren.

Von da an wurden die Juden in Österreich, wie zuvor in Deutschland, systematisch ihrer Rechte und danach ihres Eigentums beraubt, ehe noch Schlimmeres folgen sollte. „Am Parkeingang stand nun ,Kein Zutritt für Juden‘“, nach der sogenannten „Reichskristallnacht“ sah der damals Zehnjährige, wie der Wiener Mob unter lautem Jubel Juden zum Straßenwaschen zwang, doch noch größer war der Schock bei der Heimkehr: Sein Vater war von einem Kommando der Hitlerjugend festgenommen worden, und angeführt hatte die Truppe der Nachbar. Die beiden Männer waren einst im Schützengraben des Ersten Weltkriegs nebeneinander gelegen, und Otto erinnert sich: „Ich nannte ihn Onkel Kurt.“

Otto sollte seinen Vater nie wieder sehen. Dass er selbst überlebte, hat er seiner Mutter zu verdanken, denn sie schaffte es, ihn im Juni 1939 mit einem Kindertransport nach Großbritannien in Sicherheit zu bringen. Mit dabei war sein Cousin Alfred, der wie Otto im Fluchtland geblieben ist. „Der Abschied am alten Westbahnhof hat sich mir für immer eingegraben. Wir durften nicht weinen, also drehte sich meine Mutter weg. Ich hoffte damals, meine Familie würde nachkommen.“

Doch dazu kam es nicht. Schwester Adele war für den Kindertransport bereits zu alt. Ihre Spur verliert sich gemeinsam mit den Eltern im Lager Maly Trostinec südlich von Minsk, wo die Nazis zwischen 1942 und 1943 nach Berechnungen des Historikers Christian Gerlach 60.000 Juden ermordeten. Einer der ersten Transporte nach Maly Trostinec kam aus Wien. Wie Otto heute weiß, waren seine Eltern und seine Schwester in diesem Transport.

Otto hat das Geschehene nie verwunden. „Warum meine wunderschöne Schwester, warum nicht ich?“, quälen ihn Fragen, auf die es keine Antworten gibt. „Ich kann nur hoffen, dass sie nicht allzu lange leiden mussten“, sagt er über seine Eltern. Otto bereiste vor wenigen Jahren dank des österreichischen Gedenkdienstes die Erinnerungsstätte in Weißrussland. Frieden hat er dennoch nicht gefunden. „Ich bete weiter jeden Abend für ihren Seelenfrieden.“

Unermüdlich erinnert Otto in Schulen und öffentlichen Auftritten an den Holocaust, in Großbritannien und auch in Österreich. Jemand hat ihm einmal vorgehalten, er habe den Holocaust zu seinem Lebensinhalt gemacht. Das war gemein gemeint, aber Otto hat es nicht so verstanden. Sein Leben ist heute tatsächlich dem Gedenken gewidmet. Dank seiner leben die Opfer weiter. Doch die Zeit steht nicht still: „Irgendwann wird keiner von uns mehr da sein.“

Elternhaus in der Buchengasse

In Österreich war Otto auch in der Aktion „Letters to the Stars“ engagiert und wurde in der Wiener Hofburg von Bundespräsident Heinz Fischer („ein sehr netter Mann“) empfangen. Er war eng mit der im Vorjahr verstorbenen, aus Wien stammenden Anthropologin Scarlett Epstein befreundet, die er damals kennenlernte. Selbst ihr spröder Charakter war ihm nicht gewachsen. In Wien besuchte Otto auch sein Elternhaus in der Buchengasse. Eine Familie aus dem ehemaligen Jugoslawien wohnte in der alten Wohnung der Deutschs. „Sie haben es sicher auch nicht leicht gehabt, da wollte ich nicht stören und habe mich davongestohlen.“

Otto hat nie erwogen, nach Österreich zurückzukehren. Wie er als Zehnjähriger in einem fremden Land mit einer fremden Sprache unter fremden Menschen zurechtkam, das kann er heute selbst nicht beantworten. Vielleicht war es – bei ihm und tausenden anderen ebenso – der reine Überlebensinstinkt des Kindes. Einen wesentlichen Anteil hatte aber mit Sicherheit seine Gastfamilie, die Fergusons, bei denen er aufwuchs und die ihn behandelten, „als wäre ich ihr eigenes Kind“.

Otto machte keine große Karriere in Großbritannien. Er nahm Gelegenheitsarbeiten an, und wenn manchmal das Geld knapp war, dann hatte er kein Dach zum Übernachten. Was er aber immer im Übermaß hatte, war Charme. Er war kein Wissenschaftler, kein Unternehmer und kein Künstler. Otto war und ist ein „Mensch“ im jiddischen Sinne.

In späteren Jahren organisierte er Bustouren, mit denen er ausgelaugte Briten in das wieder aufblühende Europa führte. Österreich stand da – trotz alledem – ganz oben auf der Liste. „Ein Stück meines Herzens ist für immer in Wien geblieben.“ Otto ist kein Mensch, der hassen kann. Aber er ist auch keiner, der vergessen kann. „Die Zeit heilt keine Wunden“, sagt Otto, während er in Southend-on-Sea auf einer Parkbank sitzt, auf die Enten im Teich blickt und die ersten Sonnenstrahlen des Frühlings genießt. 88 Jahre wird er im Juli, und in den letzten Jahren hat ihm das Alter merkbar zugesetzt. Auch die Gesundheit lässt immer mehr zu wünschen übrig. Erst das Herz, dann die Beine, zuletzt die Augen. Er hört nicht mehr sehr gut, und die Aufmerksamkeit lässt schnell nach. Kleine Freuden hellen den Alltag auf. Immer noch funkeln seine Augen, und weiter sitzt ihm der Schalk im Nacken. Der ist eben auch schon ein bisschen alt geworden. Seit Jahren spricht er davon, dass es nun Zeit für ein Altersheim sei. Er wird den Schritt niemals machen. Eine eigene Familie hat der Mann, dem Familie so wichtig ist, nie gegründet.

Solange er noch kann, geht er jeden Samstag in die Synagoge, betet und gedenkt der Seinen. Denn solange er ihr Andenken bewahren kann, solange leben sie fort. Danach sitzt man beisammen in der Gemeinde, die längst sein Zuhause geworden ist, und gerne gestattet er sich da ein Bacon Sandwich, auch wenn das gegen alle religiösen Speisegebote ist. „Wenn ich mir einen Traum erfüllen könnte, dann wäre das koscherer Leberkäse.“

Otto war einmal ein fröhlicher Lausbub. Heute ist ein alter weiser Jude, der mit seinem Gott seine eigenen Vereinbarungen getroffen hat. Selbst der Allmächtige muss schließlich nicht immer alles wissen.

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