Inside Auschwitz

Um die Opfer des Vernichtungslagers Auschwitz nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, kehrten die ehemaligen Lagerinsassen nach der Befreiung zurück – mit dem Ziel, eine Gedenkstätte aufzubauen.
VON ANNA SIGMUND

An der Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag der Befreiung der Gefangenen des KZs nahmen
auch die letzten Überlebenden des Vernichtungslager Auschwitz teil.

Ende Jänner 2015 gedachte man in Auschwitz der Befreiung des Lagers durch die Rote Armee vor 70 Jahren. An den Feiern nahmen auch die letzten Überlebenden des Vernichtungslagers teil. In ungewöhnlicher Kleidung, nämlich in ihrer einstigen blau-grau gestreiften Häftlingskluft.

Diese Tradition geht auf das Jahr 1947 zurück, als man am 14. Juni, genau sieben Jahre nach dem Eintreffen der ersten Gefangenen, das kleine „Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau“ eröffnete. Damals waren die Träger der Anstaltskleidung ehemalige Häftlinge, die sich, freiwillig aus der ganzen Welt zurückgekehrt, auf dem riesigen Gelände des ehemaligen KZ niedergelassen hatten. „Wir waren so wenige …“, erinnerte sich einer aus der Gruppe. „Und wir hatten das Ziel, an diesem blutigsten Ort des deutschen Terrors eine Gedenkstätte zu schaffen.“ Mindestens 1,1 Millionen Menschen kamen in Auschwitz-Birkenau und Auschwitz-Monowitz ums Leben. Die Opfer sollten nicht dem Vergessen anheimfallen.

Den Plan dazu hatten jüdische Lagerinsassen schon gefasst, bevor sowjetische Truppen in Auschwitz 1945 auf jene 8000 meist schwerkranken Häftlinge stießen, letzte Überlebende des riesigen KZ, die von SS-Verbänden nicht mehr auf todbringende Evakuierungsmärsche geschickt worden waren. Die Befreier, die eigenen Angaben zufolge bis dahin nichts von der Existenz des KZ ahnten, sahen nicht mehr die ganze Realität von Auschwitz, sondern ein schreckenerregendes, gespenstisches Szenario – Berge von Leichen, rauchende Trümmerlandschaft, zerstörte Baracken. Auf diesem Horror-Areal zog nach der Rückgabe des KZ-Geländes an Polen Ende 1945 neues Leben ein.

Kampf gegen „Friedhofshyänen“
Wie andere Opfer war auch Ex-Häftling Tadeusz Szymanski an die Stätte des Grauens zurückgekehrt: „Am 1. Oktober schon wieder in Auschwitz.“ Zusammen mit einer Gruppe von rund zwanzig Gleichgesinnten suchte er unter der Leitung eines anderen Ex-Insassen, des nunmehrigen „Direktors“ Tadeusz Wasowicz, die Reste des größten Vernichtungslagers der Nazis vor dem Abriss zu bewahren. Es war eine kleine, verschworene Gemeinschaft, die auf dem riesigen Areal zäh gegen Plünderer und Grabschänder, sogenannte „Friedhofshyänen“, kämpfte, die sich nicht scheuten, die menschlichen Überresten nach Verwertbarem zu durchsuchen. Man hinderte auch die lokale Bevölkerung am Abtransport von Baumaterial und stellte sich gegen die polnischen Behörden, die für den totalen Abriss aller Überreste plädierten. Parallel dazu ging man an den Aufbau eines Archivs, suchte „jedes einzelne von den Deutschen stammende Schriftstück“ zu erlangen.

Die Schwierigkeiten waren enorm, die Geldmittel gering, das Desinteresse der Weltöffentlichkeit evident. Viele der ehemaligen Häftlinge wurden von den Erinnerungen an ihre Qualen heimgesucht, manche litten unter Depressionen, die als „Stacheldrahtkrankheit“ bezeichnet wurden. Direktor Wasowicz versuchte gegenzusteuern. Er hielt Vorträge, organisierte Wettbewerbe, veranstaltete Feste und Tanzabende. Auf sein Geheiß hin lieferten sich ehemalige KZ-Häftlinge – sehr zum Befremden Außenstehender – zur körperlichen Ertüchtigung Wettläufe zwischen den Krematorien und der Villa des KZ-Kommandanten Höß.

Mit der Eröffnung einer ersten Teilausstellung in den Blöcken des „Stammlagers“ verzeichnete die kleine verschworene Gemeinschaft einen ersten Erfolg. Zwei Tonnen Haare von über 30.000 Ermordeten demonstrierten die Dimension des Völkermords. Die Installationen von leeren Dosen mit der Aufschrift „Zyklon B“ und Berge von Habseligkeiten der Opfer schockierten die ersten Besucher. Die feierliche Eröffnungsrede hielt Regierungschef Józef Cyrankiewicz, selbst ehemaliger Auschwitz-Häftling, der vom „großen Kampf um die Freiheit der Nationen“ sprach, „der aus uns, die wir im Lager waren, die symbolischsten Soldaten … des Kampfes um die Freiheit machte.“

Das hinderte Cyrankiewicz allerdings nicht daran, seinen einstigen Mithäftling Witold Pilecki, der ein sowjetisch dominiertes Polen ablehnte, 1948 in einem Schauprozess als „Faschist und Imperialist“ zu denunzieren. Pilecki wurde in dem heute als Justizmord geltenden Prozess gefoltert und zum Tode verurteilt.

Freiwillig in Auschwitz
Darin lag eine besondere Tragik, denn in Auschwitz hatte man zusammen im Lagerwiderstand gearbeitet. Der polnische Offizier Witold Pilecki war 1940 in das KZ gebracht worden, nachdem er freiwillig einer SS-Streife in die Hände gelaufen war. Im Auftrag des polnischen Widerstandes erkundete er die Verhältnisse, organisierte Widerstandszellen und schmuggelte bereits ab Herbst 1940 detaillierte Berichte aus dem Lager. In beklemmenden Einzelheiten erfuhren die Alliierten – über die polnische Exilregierung in London – vom Bau von Krematorien, den unmenschlichen Haftbedingungen und der systematischen Ermordung der Häftlinge. Von Pilecki stammt auch der erste Bericht von der Ankunft der Judentransporte aus ganz Europa. Verwundert registrierte er die bevorzugte Unterbringung und Behandlung der ersten Ankömmlinge – bis diese unter Aufsicht der SS nach Hause geschrieben hatten, dass es ihnen gut gehe und sie auf die Ansiedlung in Polen vorbereitet würden. Pileckis dramatische Schilderung von Massenvergasungen stieß bei den Alliierten auf ungläubige Ablehnung, man hielt sie für maßlos übertrieben.

Sein Drängen auf ein militärisches Eingreifen blieb ungehört, obwohl Pileckis Widerstandsgruppen 1942 bereits alle wichtigen Lagerbereiche infiltriert hatten, zum Aufstand bereit waren und nur mehr auf ein Signal von außen warteten. Doch dieses kam nicht. Auch nachdem Gerhart Riegner, ein Funktionär des Jüdischen Weltkongresses in Genf, im August 1942 die USA darüber informierte, dass „die Juden auf einen Schlag vernichtet“ werden sollten, geschah nichts. Im November überbrachte der polnische Widerstandskämpfer Jan Karski dann Schreckensnachrichten, die das Fassungsvermögen der Amerikaner überstiegen. „Glauben Sie, dass ich lüge?“ fragte er einen US-Verfassungsrichter. „Nein“, antwortete dieser, „aber ich kann es nicht glauben.“ In Auschwitz selbst verlor Witold Pilecki im Jahr 1943, nach über zwei Jahren Haft, die Geduld. Er floh aus dem Lager. In Freiheit verfasste er seinen eindringlichen „Raport W“, mit dem er eine Militärintervention, an der er selbst teilnehmen wollte, zu erreichen suchte – vergeblich.

Ein entschlossenes Handeln der Politik blieb auch dann noch aus, als ab Juli 1944 bereits die technischen Voraussetzungen für Präzisionsangriffe gegeben waren. Man diskutierte über verschiedene Strategien und setzte auf einen „raschen Sieg“. Selbst ein Bombardement der Bahnlinien zur Unterbindung der Transporte nach Auschwitz fand nicht statt.

Im September 1944 fielen – allerdings unabsichtlich – Bomben auf Auschwitz. Sie galten nur fünf Kilometer entfernten Industrieanlagen, trafen zufällig auch SS-Baracken und töteten 300 Häftlinge.

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