„Ich sehe das noch heute vor mir…“

Der Bildjournalist, Berichterstatter, Kameramann und Regisseur Emanuel Rund hat als Fünfzehnjähriger den Eichmann-Prozess im Gericht erlebt. Katrin Diehl erzählte er seine Erinnerungen.
FOTOS: CHRISTIAN RUDNIK

Man könnte Emanuel Rund einen Dokumentaristen-On-Demand nennen. Er ist Zeitzeuge und Zeitzeuge von Zeitzeugen, hat alles festgehalten, zumindest in seinem Kopf, aber auch auf hunderten von Papieren, Fotos und Filmrollen.

Emanuel Rund ist ein Kind von Holocaustüberlebenden. 1946 in New York geboren, wuchs er unter den Jeckes (aus Deutschland stammende Juden) im Jerusalem der 1950er- Jahre auf. Als junger Mann gehört er zu den Pionieren des Israelischen Fernsehens, wird als Berichterstatter nach Amerika geschickt, ist Kameramann und Regisseur in einem, versackt für ein paar Jahre in Hollywood – denn „was soll man schon dagegen haben mit Michael Douglas am Pool zu brunchen oder von Elia Kazan ein wenig in der Schauspielerei unterwiesen zu werden?“ – bis er aufwacht und sich nach Deutschland aufmacht. Es sind die 1980er- Jahre und das Geburtsland seiner Eltern wird ihn nicht mehr loslassen. Er hat einen Auftrag zu erfüllen, dreht Filme über die Shoah. „Alle Juden raus!“ von 1990 bringt es bis zum Oscar- Wettbewerb.

Emanuel Rund trägt immer einen Fotoapparat bei sich. In irgendeiner Tasche. Seine Wohnung in München fasst kaum noch, was sich angesammelt hat. In drei Lagerräumen irgendwo in Deutschland liegen Briefe, Texte, Fotos, Filme, liegt Zeitgeschichte auf Halde. Emanuel Rund sucht dringend nach einer würdigen Behausung für seine Zeugnisse. Dass er sie nicht für die Zukunft gesichert weiß, raubt ihm den Schlaf.

Wer Emanuel Rund befragt, sollte sich auf ein Thema konzentrieren, sonst nimmt das Erzählen, das Eintauchen in versunkene wie ausgelöschte Welten kein Ende. Wir sprechen darüber, dass dieser Tage Israels Präsident Reuven Rivlin Adolf Eichmanns Gnadengesuch für die Öffentlichkeit freigegeben hat … und sind beim Gerichtsverfahren von vor 55 Jahren: Im Jerusalemer Bezirksgericht war Eichmann, ehemals SS-Obersturmbannführer, des millionenfachen Mordes an Juden angeklagt. Berichte, Fotos, Ton- und Filmaufnahmen gehen um die Welt und bringen die planmäßige Tötung der europäischen Juden über fünfzehn Jahre nach Ende des Dritten Reiches ins öffentliche Bewusstsein.

Im Gerichtssaal saßen auf den gepolsterten Stühlen Journalisten, Überlebende der Shoah, die als Zeugen auftraten, deren Familien, Interessierte und Emanuel Rund. Er war damals fünfzehn Jahre alt, ein dünner, hochaufgeschossener Junge mit schwerer, schwarzer Brille.

NU: Wie kam ein Junge im Teenie-Alter dazu, sich ins Beit Ha’am zum Gerichtsverfahren gegen Eichmann zu begeben?

Emanuel Rund: Ich wusste, dass meine Großeltern ermordet worden sind, auch die Schwester meines Vaters. Man hat darüber nicht gesprochen, aber ich wusste es, und es verlangte in mir, noch mehr zu wissen, Genaueres. Ich bin in Jerusalem aufgewachsen überall mit Jeckes um mich herum. Das war der Kreis meiner Eltern, besonders meines Vaters. Martin Buber, Gershom Scholem, Hugo Bergman, Ernst Simon … Wir kannten diese Leute sehr gut und ich habe sie immer über Deutschland ausfragen wollen und was da passiert ist. Aber das war ein Tabu. Also habe ich meine eigenen Wege gesucht, etwas zu erfahren. Immer mittwochs bin ich in unsere Schulbibliothek und habe mir Bücher über die jüdische Geschichte, über Israel, aber auch über die Shoah besorgt. Und dann hörten wir eines Tages, dass Eichmann kommen würde. Die Zeitungen waren voll davon. Und irgendwann begann dieser Prozess. Abend für Abend sind wir vor dem Radio gesessen und haben uns die Zusammenfassung angehört, manchmal haben wir auch schon vormittags eingeschaltet, wenn sie live übertragen haben. Auch ohne Bilder war der Eindruck sehr stark, zum Beispiel als der Chefankläger Gideon Hausner sich zu Eichmann drehte und ganz langsam und deutlich formulierte, „ich klage Sie der sechs Millionen Tote an …“. Weil ich Kontakte nach Deutschland hatte, habe ich dort nach einem Transistorradio gefragt. Ich wollte so wenig wie möglich verpassen, musste aber natürlich auch noch zur Schule. Und wirklich bekam ich eine schöne rote Loewa Opta. Ich habe das Radio mit in die Schule genommen, bin zur Pause in den Schulhof gegangen und habe weitergehört.

Wie kamen Sie überhaupt in die Verhandlung hinein? Wenn man die Fotos betrachtet, macht es den Eindruck als hätten da im Saal nicht allzu viele Menschen Platz gehabt.

Das Jerusalem von damals war ja noch sehr überschaubar. Es hatte etwas von einem Dorf und alle waren Nachbarn. Einer von den Richtern, Yitzhak Raveh, vormals Franz Reuß, war mit meiner Familie verwandt. Gabriel Bach, der stellvertretende Ankläger, wohnte in unserer Nachbarschaft. Später ist er Richter am Obersten Gerichtshof in Israel geworden und ich treffe ihn heute noch, wenn ich in Jerusalem bin. Man kannte sich, und so kam ich rein, saß zwischen Überlebenden und Reportern.

Wie oft waren Sie dabei? Der Prozess hat sich ja über Monate gezogen?

Ich würde sagen, so etwa sechs Mal.

Sie erinnern sich noch gut an alles …?

Ich sehe mich noch da sitzen und dann haben zwei Polizisten Adolf Eichmann in seinen Glaskasten geführt. Das war ein Schock für mich! Ich kannte Eichmann ja von Bildern. Aber ihn live zu sehen, war etwas ganz anderes. Ich hatte ein Monster erwartet, ein Monster von einem anderen Planeten. Aber das war er nicht. Er stand da in Anzug und Krawatte, war nervös, hat immer wieder so komische Mundbewegungen gemacht und manchmal seine Blätter hin und her geordnet. Und dann hat er angefangen zu reden, und ich wurde richtig wütend. Ich habe gedacht, how dare you, wieso verwendest du die Sprache meiner Eltern, die Sprache meiner Freunde und Bekannten? Ich dachte, dass er diese kultivierte Sprache nicht sprechen dürfe, sie gehört ihm nicht, sie gehört meinen Leuten, sie gehört den Guten! An einen Zeitzeugen erinnere ich mich besonders und es fällt mir bis heute schwer, darüber zu reden. Dieser Zeitzeuge nannte sich Katzetnik (Pseudonym des Schriftstellers Yehiel De- Nur, Anm. K.D.). Als er angefangen hat zu reden, hat mein Herz begonnen, wie wild zu klopfen. Er war ein Poet und er hat sehr langsam gesprochen, „wir waren da, auf dem Planet der Asche …“. Damit hat er Auschwitz gemeint, „Wir waren da ganz alleine …“. Wow. Das war so viel Pathos. Irgendwann hat Gideon Hausner gesagt, „machen Sie eine Pause, Herr, erholen Sie sich!“ Aber er hat weiter und weiter geredet. Er hat nichts gehört, er war nur bei sich und seinen Erinnerungen. Er war wieder auf diesem Planeten. Auch die anderen Richter haben gerufen, „Herr Katzetnik hören Sie bitte auf!“. Aber er hört nicht auf. Plötzlich erhebt er sich, geht ein paar Schritte und bricht zusammen. Natürlich waren gleich Ärzte bei ihm, Sanitäter und so. Ich sehe das noch heute vor mir und mein Herz beginnt zu klopfen.

Wie sehr war dieser Prozess in Jerusalem Gespräch? War er in aller Munde?

Es gab da eine große Scheu. Wenn man darüber gesprochen hat, dann nur unter vorgehaltener Hand. So habe ich das erlebt. In unserer Synagoge, das war die sogenannte Jeckes-Synagoge von den deutschen Juden, hat man sich nur im Flüsterton darüber unterhalten. Aber auch zuhause, auch bei uns, nein, man hat eigentlich nicht darüber geredet. Es war ein Schock für die Überlebenden, dass plötzlich ihre Traumata so offen und vor großem Publikum ausgesprochen worden sind. Und was man da hörte, war wirklich schwer zu ertragen. Es war so schrecklich, wenn Zeugen erzählt haben, „ich war da mit meinen Eltern, meiner Frau, den Kindern Chaja und dem kleinen Josel …“, sie zählten die ganze Verwandtschaft auf, und nach einem Tag waren sie alle weg.

Mit dem Eichmann-Prozess ist bis heute der Name Hannah Arendt verbunden. Als Prozessbeobachterin hat Arendt für den New Yorker berichtet, woraus später ihr ebenso bekanntes wie umstrittenes Buch Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht über die Banalität des Bösen geworden ist. Erinnern Sie sich an sie? Haben Sie sie gesehen?

Natürlich erinnere ich mich an sie. Ich habe sie persönlich kennengelernt. In der Lobby unten habe ich mich gerne mit Rolf Kneller unterhalten, der war aus unserer Nachbarschaft und beim Prozess als einer der wenigen Kameramänner beschäftigt, hat also für Leo Hurwitz, Aufnahmeleiter für die Fernsehübertragung, gearbeitet. Ich rede also ein bisschen mit Rolf, Leo Hurwitz stellt sich dazu, erzählt von sich, dass er aus New York kommt und so, zeigt mir einiges. Eine Frau mit relativ kurzen schwarz-grauen Haaren bleibt bei uns hängen, beteiligt sich am Gespräch, und auf einmal sagt Leo Hurwitz, „Hannah, darf ich vorstellen? Das ist Emanuel“. Sie hat mich dann ein bisschen ausgefragt, wer ich sei, wer meine Eltern seien. Ich habe erzählt, „mein Vater stammt aus Berlin, meine Mutter aus Ostfriesland, mein Urgroßvater Muzikant aus Österreich“. Dann hat sie mich gefragt: „Do you know the Jeckes here?“ Worauf ich ihr den Vorschlag gemacht habe, sie mit meiner Mutter bekannt zu machen. Sie vereinbarten ein Treffen und so saßen wir ein paar Tage später zu dritt im Café Atara in der Ben-Jehuda-Straße und meine Mutter erzählte und erzählte. Ich saß dabei und sah mir Hannah Arendt an. Sie rauchte Zigarette nach Zigarette und sie war mir sympathisch. Für mich gehörte sie zu den Jeckes. Ihr Gesicht hatte diese Züge. Als Margarethe von Trotta ihren Film über Hannah Arendt gemacht hat, habe ich mich ein paar Mal mit ihr in München getroffen. Sie war an meinen Erinnerungen an den Eichmann-Prozess interessiert. Ich glaube, dass man mich sogar einmal kurz sieht in den Filmsequenzen, die sie in den Film reingeschnitten hat. Ein Junge mit fünfzehn Jahren, dünn und mit großer Brille.

 

Emanuel Rund wurde 1946 in New York als Sohn von Arno Rund aus Berlin und Ruth Rund (geb. Wolff) aus Leer (Ostfriesland) geboren. In den 1950er-Jahren wuchs er im Jeckes-Viertel von Jerusalem auf. Für das Israelische Fernsehen, das er mit aufgebaut hatte, ging er in die USA, wo er als Bildjournalist, Berichterstatter (auch für den ORF), Kameramann und Regisseur tätig war. Später lehrte er in New York und machte Filme in Los Angeles, Nashville und Jerusalem. In den 1980er-Jahren zog es ihn nach Deutschland, wo er Dokumentarfilme drehte, die mit dem Schicksal seiner Familie eng verknüpft waren. Zwei Filme entstanden in der Zusammenarbeit mit Elie Wiesel. Heute lebt Emanuel Rund in München, arbeitet zeitweilig als Kantor, informiert als Zeitzeuge, übernimmt Rollen in Filmproduktionen, schreibt über seine Familie und ist auf der dringlichen Suche nach Räumen für sein Archiv.

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