„Ich kann deine Fragen nicht beantworten. Sei umarmt“

Papierene Performance: „Diva“ (1999) von Shifra Kazhdan im winterlichen Park des Tsaritsino Palastes in Moskau. ©Shifra Kazhdan

VON SIMON MRAZ

Der Lauf der Geschichte scheint sich fast zu überschlagen. Vor dem Sommer noch wollte ich einige Künstlerinnen und Künstler aus jener Gruppe von jüdischen Kreativen vorstellen, die an der russischen Kunstszene, die sich in den späten 1990er Jahren entwickelte, wesentlichen Anteil hatten. Infolge des Angriffskriegs gegen die Ukraine mussten viele von ihnen auswandern, unter anderem nach Israel.
Zuerst gab es Anlass zu Optimismus und Hoffnung. Menschen arbeiteten mit Begeisterung und großen Ambitionen an einer vielfältigen eigenständigen Kunstszene. Doch in den vergangenen Jahren verschlimmerten sich die Anzeichen: Neue Kunstinstitutionen, aber auch große Museen wie die Ermitage, sogar die geistig versteinerte Tretyakov Galerie oder das Puschkin Museum wurden zunehmend Ziel einer rückwärtsgewandten Kulturpolitik. Immer öfter wurden Inhalte als kritisch abgelehnt, Kunstschaffende unter – zumindest der internationalen Wahrnehmung nach – fadenscheinigen Gründen angeklagt, erfolgreiche Projekte wie die Moskauer Biennale zeitgenössischer Kunst oder das überregionale National Center for Contemporary Art zerstört oder diskreditiert. An all diesen Projekten waren in hohem Maße Jüdinnen und Juden beteiligt.
Für die jüdischen Mitglieder dieser freien Kunstszene war die Entwicklung der letzten Jahre eine traumatische Erfahrung, auch eingedenk der vielen Verletzungen, denen jüdische Familien fast über Jahrhunderte hinweg ausgesetzt waren: Pogrome in zaristischer Zeit, Holocaust, stalinistischer Terror, Repression und Zensur in der Sowjetunion. Bis sich in Kunst und Kultur endlich ein Fenster der Freiheit öffnete, das 2022 wieder zugenagelt wurde.
Es mag folglich wenig verwundern, dass ein Großteil der russischen Kunstszene innerhalb weniger Monate nach dem Überfall auf die Ukraine auswanderte – in die ganze Welt und besonders nach Israel. Ob religiös oder nicht, für jüdische Künstlerinnen und Künstler der nicht mehr ganz jungen Generation, deren Kraft nicht mehr für endlos viele Neustarts reicht, bedeutete der Neubeginn in Israel sicher mehr als eine zeitweilige „Relocation“ in ein beliebiges anderes Land. Die Erfahrung einer Gängelung und eines Diktats des Denkens, einer Einschränkung der geistigen Freiheit – und schließlich der russische Angriffskrieg mit dem vermeintlichen Ziel einer Entnazifizierung – ließen die Kunstschaffenden eine Heimat, an deren Zukunft sie wohlgemerkt oft bis zuletzt geglaubt hatten, verlieren. Während der Westen seine Tore gegenüber russischen Menschen schloss, hieß Israel jüdische Russinnen und Russen willkommen: Israel war der existenzsichernde Hafen, altes und neues Zuhause.
Wenn ich heute an diese Freunde denke, die diese ausgestreckte Hand Israels ergriffen haben, kann ich nicht ermessen, was der Angriff der Hamas, das grausame Morden an Menschen in unmittelbarer Nähe für sie bedeutet. Wohl sind die Schicksale der russischen Intellektuellen in Israel nur ein winziger Aspekt dieses Angriffs, aber eben jener, der mir persönlich am nächsten ist.
Ich möchte im Folgenden zwei dieser Menschen vorstellen, die ich vor Jahren in Russland kennenlernte: Haim Sokol und Shifra Kazhdan. Mit beiden verbindet mich eine langjährige Freundschaft und Vertrautheit. Auf meine Anfragen habe ich nur kurze Antworten erhalten, jene von Haim Sokol in Form einer E-Mail habe ich als Titel zu diesem Artikel ausgesucht. So schlicht sie ist, so bringt die Antwort die Befindlichkeit auf den Punkt: Er hat keine Worte für mich, er braucht seine Kraft jetzt, um diese Krise zu überstehen.

Haim Sokol

Haim Sokol (geb. 1973) begann seine Karriere als Künstler im hohen Norden Russlands, in der alten Seestadt Archangelsk, wo er geboren wurde. Seine Studienzeit verbrachte er in Israel, wo er unter anderem Hebräisch studierte. Erst in seinen Dreißigern kehrte er nach Russland zurück. Duch den Aufenthalt in Israel entwickelte sich ein Gefühl der Distanz zur russischen Heimat, denn er schloss sich auch keiner künstlerischen Gruppierung an. Sokols Arbeiten thematisieren immer wieder schonungslos die zahlreichen schmerzhaften Momente der jüngeren russischen Geschichte, wodurch er harsche Kritik in seiner Heimat auf sich zog.
Die Einflechtung der eigenen Biografie ist ein Schlüsselelement seiner Arbeit. Seine Familie war Opfer des sowjetischen Antisemitismus, der unter Stalin seinen Ausgang nahm und bis zum Ende der Sowjetunion anhielt. Sein Vater war ein brillanter Arzt, dem aber aufgrund der Diskriminierung jüdischer Kandidaten bei der Besetzung von Spitzenpositionen eine akademische Karriere in seiner Heimatstadt Winnyzja (Ukraine) verwehrt blieb und der erst im entlegenen Archangelsk eine Arbeitsstelle als Assistenzprofessor erhielt.
In Sokols Werken spielen Buchstaben und Texte wiederholt eine zentrale Rolle, so auch in einer Arbeit, die 2014 für eine Ausstellung im Jüdischen Museum Wien entstanden ist: In Every bullet you shoot at us becomes a letter schafft Sokol eine Botschaft der Hoffnung, die im jüdischen Glauben an Worte als Grundlage der Schöpfung verwurzelt ist. Ausgangspunkt ist ein Objekt aus der Sammlung des Jüdischen Museums Wien, das 1938 aufgrund der Beschlagnahmung durch die Gestapo verloren ging: „Bei dem Objekt handelte es sich um eine Kugel, die den jüdischen Studenten Karl Heinrich Spitzer tötete, einen Protagonisten der Revolution von 1848. Ein Eintrag im Museumsinventar ist die einzig noch vorhandene Spur der Kugel“, erklärt Sokol. Aus gefundenen Bleigeschossen fertigte er eine jiddische Druckschrift an und reproduzierte damit marxistische Revolutionssprüche.

Shifra Kazhdan

Shifra Kazhdans Name wurzelt sowohl in ihrer sowjetisch-jüdischen Familiengeschichte als auch in ihrer queeren Identitätsgeschichte. „Shifra war der Name meiner Großmutter, aber Juden verwendeten in der Sowjetzeit selten ihre Geburtsnamen, so auch meine Großmutter. Sie wurde mit dem russischen Namen Sonja gerufen. Aber ich weiß, dass sie jiddisch sprach, sodass sie in ihrer Kindheit möglicherweise mit ihrem richtigen Namen gerufen wurde“, so die 1973 geborene Künstlerin. „Als ich mich 2015 offen für meine Weiblichkeit bekannte, entschied ich mich im Andenken an meine Großmutter dazu, ihren Namen zu führen.“
Ein Schlüsselerlebnis sollte die Teilnahme am „Alternative Miss World“-Wettbewerb 1998 in London werden, als sie erstmals Akzeptanz für ihre Identität erfuhr. Zurück in Moskau und inspiriert von diesem Erlebnis, begann Shifra mit kollaborativen öffentlichen Performances unter der Verwendung von Papierkostümen: „Ein in Papierkostümen herumgehender Mensch sieht auf den ersten Blick einsam und surreal aus, zugleich verkörpert er aber auch das Versprechen auf eine Welt, in der Fragilität und Andersartigkeit ihren Platz findet.“
Eine andere wichtige Arbeit ist das auf Charaktere der Golem-Legende fußende Puppenballett The Golden Introduction (1999), das über viele Jahre an verschiedenen Orten adaptiert und weiterentwickelt wurde.
Mit der zunehmend aggressiven Politik und der allgemeinen Gewaltbereitschaft gegen LGBTQIA+-Personen wurde für Shifra Kazhdan nicht nur die Arbeit, sondern auch das gewöhnliche Alltagsleben zunehmend schwierig. Bis sie sich, wie viele andere, nicht mehr auf die Straße zu gehen traute. Nach dem Einfall Russlands in die Ukraine entschied sie sich, nach Israel auszuwandern, wo sie dieses Jahr unter anderem am Tel Aviv Theater Festival teilnahm.

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