Ich habe mich entschlossen, mein Amt in ältere Hände zu legen

Im vierten Teil seiner „Erinnerungen an ganz normale jüdische Genies“ erzählt der bekannte Schriftsteller und Zeitungskolumnist Geschichten über Ephraim Kishon, Peter Ustinov, Marcel Prawy, Ernst Haeusserman, Friedrich Torberg, Armin Berg und Karl Farkas.
Von Georg Markus

„Lieber Herr Markus“, schrieb eine treue NU-Leserin, „mit Freude verfolge ich Ihre Berichte über Begegnungen mit jüdischen Genies. Ich hätte nur eine Frage: Gibt’s denn gar keine nichtjüdischen?“
„Oh doch“, antwortete ich, „allerdings waren die Herren Mozart, Goethe und Beethoven bislang nicht bereit, mich zu empfangen“. Und somit bleibt mir auch in Folge vier nichts anderes übrig als mich auf die jüdischen zu konzentrieren.

Eines war Ephraim Kishon, den ich meist in Wien traf, da er seine Bücher im selben Verlag veröffentlichte wie ich. Darüber hinaus nützte ich jede Gelegenheit, ihn zu interviewen. Das erste Mal 1971, da trafen wir uns im Café Landtmann, in dem sich sofort nach seinem Eintritt eine alte Frau auf ihn stürzte, ihm den Mantel vom Leib riss und mit diesem in die Garderobe lief. „Ein klassischer Stoff für eine Satire“, sagte Kishon, „so etwas gibt es nur in Wien“. Tatsächlich enthielt sein nächstes Buch „Salomons Urteil – zweite Instanz“ die Satire „Die Mantelhexen von Wien“.
Wie jeder Journalist erhoffte ich mir vom erfolgreichsten Satiriker der Welt ausschließlich pointierte Antworten, er aber war – wie viele Humoristen – privat eher ernst und sprach lieber über die Probleme der Welt. So auch im August 2004, als ich ihn aus Anlass seines 80. Geburtstags traf. Kishon hatte einen Wohnsitz in Israel und einen in der Schweiz, und er sagte: „Ich fahre immer dann nach Israel, wenn dort ein Krieg droht.“
„Wäre es nicht logischer“, wandte ich ein, „in die Schweiz zu fahren, wenn in Israel ein Krieg droht?“
„Ja“, meinte er, „das wäre logischer und ich würde das auch so sehen, wenn ich nicht ein Überlebender des Holocaust wäre. Ich bin, wenn Krieg droht, in Israel, weil ich es nicht ertragen könnte, woanders zu sein. Soll ich in meinem Paradies in Appenzell leben und mir im Fernsehen anschauen, wie unsere Söhne kämpfen? Das geht nicht.“
Irgendwann im Laufe des Gesprächs drang dann doch der Satiriker in ihm durch. Als ich ihn nämlich nach seinem nächsten Buch fragte, antwortete er: „Wer sagt Ihnen, dass ich noch ein Buch schreibe? Ich habe alle Situatiebeneronen beschrieben, die man als Satiriker beschreiben kann.“ Kleine Pause. „Im Übrigen hat alles, was ich Ihnen jetzt erzähle, gar keinen Wert.“
„Warum?“
„Weil ich schon mindestens zehnmal aufgehört habe zu schreiben. Ich höre jedes Jahr zu schreiben auf. Wie ein Kettenraucher, der ständig zu rauchen aufhört.“
Kishon hatte nach dem Tod der „besten Ehefrau von allen“ die österreichische Schriftstellerin Lisa Witasek geheiratet. Er wünschte sich zum „Achtziger“ mit ihr „gesund, reich und glücklich zu sein. Mit anderen Worten: Es soll also alles so bleiben, wie es ist.“
Sein Wunsch hat sich nicht erfüllt. Es war Kishons letzter Geburtstag.

Von Begegnungen und längeren Autofahrten mit Karl Farkas, für den ich in der Spielsaison 1969/70 am „Simpl“ arbeitete, habe ich schon berichtet. Farkas erzählte mir aber auch viel von der großen Zeit des Wiener Kabaretts zwischen den beiden Kriegen. Ja sogar aus den frühen 20er-Jahren, als er ein noch unbekannter Schauspieler war, aber bereits zu den Stammgästen des Café Central zählte. „Wir Jungen, die kein Geld hatten“, erklärte Farkas, „kamen gleich nach dem Mittagessen ins Central, haben unzählige Gläser Wasser konsumiert und alle Zeitungen gelesen. Bis vier Uhr Nachmittag saßen wir dort und dann sagten wir zum Ober: ,Jean, reservieren Sie mir meinen Sessel, ich geh nur rasch nach Hause einen Kaffee trinken.‘“
Farkas erzählte auch von den düsteren Jahren der Flucht, als er mit dem berühmten Komiker Armin Berg im New Yorker Emigrantenkabarett „Old Europe“ auftrat. Der Text einer Doppelconférence aus dem Jahre 1941 lautete:

Farkas: „Armin, wie lange bist du jetzt schon in Amerika?“
Berg: „Seit drei Jahren.“
Farkas: „Na, und wie schlägt man sich so durch als armer Emigrant?“
Berg: „Wunderbar, völlig problemlos. Ich kenne sogar einen Mann, der ist hier in kürzester Zeit Millionär geworden. Er ist als bettelarmer Wiener mit demselben Schiff wie ich herüber gekommen.“
Farkas: „Großartig. Was hat er dann gemacht?“
Berg: „Im ersten Jahr war er Schuhputzer, im zweiten war er Tellerwäscher, im dritten war er Zeitungsverkäufer …“
Farkas: „Na, und?“
Berg: „Und dann ist seine Tante in der Schweiz gestorben und hat ihm zwei Millionen Franken hinterlassen!“

Der Text zeigt, wie sehr die jüdischen Kabarettisten selbst in der Nazizeit ihren Witz beibehielten und ihre Landsleute zu unterhalten versuchten. Armin Berg, der viel früher schon in Wien mit dem Chanson „Schau ich weg von dem Fleck, ist der Überzieher weg“ populär wurde, war ein großes Original. Der Kabarettist Hugo Wiener zählte zu seinen Freunden und vertraute mir zwei Episoden von ihm an. Die erste stammt aus den Tagen, als sie in der „Femina“-Bar auf der Kärntner Straße auftraten. Eine Tänzerin des Kabaretts wohnte im Parterre des eben eröffneten und als große Sensation geltenden ersten Wiener Hochhauses. Als Armin Berg und Hugo Wiener damals durch die Herrengasse schlenderten, blickte die junge Dame aus dem Fenster ihrer ebenerdig gelegenen Wohnung. Armin Berg schaute sie an und rief: „Und dazu wohnt man im Hochhaus?“
Nach dem Krieg trat Berg mit Farkas und Hugo Wiener im „Simpl“ auf, und in der Zeit handelt die zweite Episode: Aus den USA zurückgekehrt, wurde Armin Berg zur Erledigung einiger Formalitäten aufs amerikanische Konsulat gebeten. Noch ehe er hinging, empfahl man ihm – da bekannt war, dass er in der Emigration kaum ein Wort Englisch gelernt hatte – einen Dolmetscher mitzunehmen. Empört erwiderte der Komiker: „Was brauch ich an Dolmetsch, ich hab acht Jahre in Amerika gelebt, ich kann perfekt Englisch.“
Erst als man ihm entgegenhielt, es könnten juridische Spitzfindigkeiten erörtert werden, erklärte er sich bereit, einen Übersetzer beizuziehen.
Armin Berg betrat die US-Behörde in der Wiener Schmidtgasse, wo er vom amerikanischen Konsul mit den Worten begrüßt wurde: „How do you do, Mr. Berg?“
Worauf Berg sich dem Dolmetscher zuwandte und fragte: „Was sagt er?“

Wie in einer früheren Folge erwähnt, könnte ich über den Burgtheater- und Josefstadtdirektor Ernst Haeusserman und seine legendäre Schlagfertigkeit mehrere NU-Hefte füllen, wozu es, wie ich fürchte, nicht kommen wird. Aber das eine oder andere Beispiel sei hier festgehalten. Als die Schauspielerin Marianne Nentwich einmal nicht rechtzeitig zu einer Probe des Lustspiels „Das Konzert“ von Hermann Bahr erschien, stürzte der Bühnenportier aufgeregt ins Künstlerzimmer, um den Kollegen mitzuteilen: „Die Frau Nentwich hat angerufen, sie lässt sich entschuldigen. Sie kommt ein bisserl später, weil sie zu Haus die Stiegen hinuntergeflogen ist.“
„Das versteh ich nicht“, erwiderte Haeusserman, „da müsste sie doch eigentlich ein bisserl früher kommen.“ Mit dem „Konzert“ unternahm das Theater in der Josefstadt 1975 eine Tournee durch die USA, wo Haeusserman, der „frische Luft hasste“, schrecklich unter den Klimaanlagen litt, die dort in allen Theatern installiert sind. Verzweifelt saß er mit Hut und aufgestelltem Mantelkragen im Zuschauerraum und brummte: „Das einzige, was in Amerika nicht zieht – ist unser Stück!“

Die zur nächsten Hauesserman-Geschichte führende Überleitung besorgt eine Pointe von Marcel Prawy: Das Ehepaar Ellen und Peter Landesmann zählt seit Jahrzehnten zu den großzügigsten Gastgebern Wiens. Bei Landesmanns geladen zu sein, kommt einem Adelsprädikat gleich. Wer in dieser Stadt Rang und Namen hat, darf sich der gediegenen Atmosphäre und der opulenten Buffets im Hause Landesmann erfreuen. Man weiß aber auch, dass man nur so lange zu den Auserwählten zählt, als man in Amt und Würden ist. Hat man einmal Rang und Einfluss verloren, gehört man nicht mehr zur erlesenen Schar der hier Geladenen. Keiner brachte dieses unumstößliche Gesetz so treffend auf den Punkt wie Prawy. Als nämlich Lorin Maazel 1984 die Wiener Staatsoper im Unfrieden verließ, wurde dessen Vorgänger Egon Seefehlner überraschend aus der Pension geholt und neuerlich zum Direktor bestellt. Prawys Reaktion, als er von Seefehlners Rückkehr erfuhr: „Wieder eingeladen bei Landesmanns!“
Klar, dass der mächtige Ernst Haeusserman zu den Gästen bei Landesmanns zählte. Als er eines Abends deren eleganten Salon betrat und den im Überfluss vorhandenen Champagner und die riesigen, mit Lachs und Hummer gefüllten Schüsseln wahrnahm, erklärte Haeusserman trocken: „Der Landesmann nagt am Hummertuch!“
Legendär war Haeussermans Künstler- Stammtisch, an dem man sich spätabends, nach der Theatervorstellung, traf. Ich selbst durfte, obwohl damals noch sehr jung, zwei oder drei Mal dabei sein, regelmäßiger Gast war jedoch mein Freund Heinz Marecek, dem ich die folgende Geschichte verdanke: Zu den Besuchern des Stammtischs, der im Restaurant „Zur Linde“ auf der Rotenturmstraße etabliert war, zählte neben Wiens Schauspielprominenz auch der berühmte Terror- und Aggressionsforscher Friedrich Hacker, der eine Hälfte des Jahres in Wien und die andere in Los Angeles lebte. Nicht minder gern gesehen war der Schriftsteller Friedrich Torberg.
Und so ergab es sich einmal am Stammtisch, dass das Gespräch auf Shakespeares „Hamlet“ kam. Während Hacker gerade in den USA weilte, vertrat Torberg in einem Streitgespräch mit Haeusserman die Ansicht, dass der berühmte Satz „Es ist was faul im Staate Dänemark“ eine falsche Deutung des Übersetzers Wilhelm Schlegel sei. Es hätte nämlich zu dieser Zeit so etwas wie einen „Staat Dänemark“ gar nicht gegeben. Das shakespearesche „There’s something rotten in the state of Denmark“ müsste demnach anders übersetzt werden, denn „state“ hat im Englischen zwei Bedeutungen und heißt sowohl „Staat“ als auch „Zustand“ – richtig wäre also: „Es ist was faul am Zustand Dänemarks“.
Haeusserman erwiderte, dass man den berühmten Satz im Stück keinesfalls ändern könne. Aber Torberg bestand darauf: „State“ heißt „Zustand“!
In diesem Augenblick läutete das Telefon am Stammtisch. Haeusserman hob ab und sagte zu Torberg: „Das wird wahrscheinlich der Professor Hacker sein, der ruft um diese Zeit immer aus den Vereinigten Zuständen von Amerika an.“

Auch in der Stunde seiner größten Niederlage kam Haeussermans trockener Humor zum Vorschein. Als er 1968 im Alter von 52 Jahren die Direktion des Burgtheaters an den 66-jährigen Kammerschauspieler Paul Hoffmann abgeben musste, kommentierte dies Haeusserman mit den Worten: „Ich habe mich entschlossen, mein Amt in ältere Hände zu legen!“

Im Gegensatz zu den erwähnten Interviews mit Ephraim Kishon wurden solche mit Peter Ustinov immer zur Satire – egal, worüber man ihn befragte. Als er 1981 in Wien war, kamen wir auf seine vielen Begabungen zu sprechen, und ich wollte von ihm wissen, was er eigentlich von Beruf sei.
„Ich gehöre mit meinen Berufen 14 verschiedenen Gewerkschaften an“, antwortete er, „und ich weiß daher gar nicht, ob ich gerade streike oder ob ich arbeiten darf“.
Ich bat ihn um Aufzählung seiner Berufe, und er hob an: „Also, ich bin Dramatiker, Schauspieler, Regisseur, Romancier, Journalist, Showmaster, bildender Künstler, Weinbauer, Fotograf, Musiker …“
„Gibt es etwas, das Sie nicht können?“
Ustinov: „In den täglichen Dingen des Lebens bin ich ungeschickt. Ich kaufe einen Wecker, stelle ihn aufs Nachtkästchen, und er kocht Eier. Weil ich die Anleitung nicht lesen kann. Mir wird bei dieser Art von Literatur übel.“
„Wie stehen Sie zum Medium Fernsehen?“
Ustinov: „Ich bin ein begeisterter Zuseher. Sobald ich die Nachrichten aufdrehe, kündigt der Sprecher an: ,Der Papst ist auf Welttournee.‘ Dazu wird das Bild von einem Pferderennen eingeblendet, plötzlich läutet am Tisch des Moderators das Telefon, eine Stimme sagt: ,Falsch verbunden.‘ Und dann kommt ein Interview mit Lech Walesa, der mit dem Insert ‚Kurt Waldheim, österreichischer Bundeskanzler‘ vorgestellt wird.“
„Wie schaffen Sie es, gleichzeitig so viele Berufe auszuüben? Sie können doch nicht ununterbrochen streiken?“
Ustinov: „Ja, es ist sehr anstrengend. Aber interessant. Allerdings erst, seit ich die Schule verlassen habe. Bis dahin fand ich gar nichts interessant.“ „Ist das eine Kritik am britischen Schulsystem?“
Ustinov: „Ganz im Gegenteil. Die britische Schulausbildung ist die beste der Welt. Falls man sie überlebt.“
Das Interview fand, seinerseits jedenfalls, in einwandfreiem Deutsch statt. Und dieser Umstand führt mich zur letzten Pointe für heute. Als man nämlich am Burgtheater auf die Zusammenarbeit mit fremdsprachigen Regisseuren wie Jean Louis Barrault und Giorgio Strehler setzte, stellte sich heraus, dass sie sich mit den hiesigen Schauspielern kaum verständigen konnten. In dieser Situation wollte die Burgtheaterdirektion auch Ustinov als Regisseur gewinnen.
„Sorry“, lehnte er ab, „ich bin zwar Ausländer, aber ich kann ja Deutsch!“

PS: Um der Wahrheit die Ehre zu geben. Natürlich habe ich auch nichtjüdische Genies getroffen. Robert Stolz zum Beispiel oder Helmut Qualtinger. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.

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