Als Einstein auf dem Kahlenberg spazieren ging

Eine Gruppe von Intellektuellen, Frauen und Männer, traf sich von 1924 bis 1936 regelmäßig unter der Leitung von Moritz Schlick in Wien und bildete den Wiener Kreis.
VON ANNA MARIA SIGMUND

Das Wetter am 14. Jänner 1921 war trüb, die Temperaturen lagen nur wenig über null Grad, abwechselnd regnete oder schneite es, dazu blies ein starker Westwind. Unter den wenigen, die dem schlechten Wetter trotzten und die Zahnradbahn nahmen, die sie von Nussdorf auf den Kahlenberg brachte, befanden sich vier Wissenschaftler jüdischer Herkunft, darunter niemand Geringerer als Albert Einstein. Sein Kollege Philipp Frank hatte ihn zu dem Ausflug überredet und auch gleich zwei Bewunderer des großen Physikers mitgebracht, den Mathematiker Hans Hahn und den Sozialwissenschaftler Otto Neurath.

Einstein hielt sich damals im Zuge einer Vortragsreise in Wien auf. Seit die Royal Society in London den experimentellen Nachweis, dass Licht durch Gravitation abgelenkt wird, anerkannt hatte, war er eine Berühmtheit. Als dann die Times die Revolution in der Wissenschaft als „Neue Theorie des Universums“ öffentlich pries, erhielt das Genie eine Flut von Einladungen aus aller Welt. Klerikale und Konservative lehnten Einstein vehement ab, wobei man bei der abfälligen Kritik an seiner Theorie auch nicht vor antisemitischen Seitenhieben auf den jüdischen Gelehrten zurückschreckte.

In sozialdemokratischen Kreisen jedoch wurde die Relativitätstheorie mit ihrer revolutionären Sprengkraft als rationale Erklärung der Welt begeistert aufgenommen. Es war daher auch das Wiener Volksbildungshaus Urania, das den „Reisenden in Sachen Relativitätstheorie“ eingeladen hatte. Für ein mageres Honorar von umgerechnet 45 US-Dollar – von der Universität Princeton verlangte er für eine Vortragsreihe 15.000 US-Dollar – erläuterte der berühmteste Physiker seiner Zeit vor 3000 Personen im Konzerthaus seine Theorie in allgemein verständlicher Form.

Wechselwirkungen zwischen Philosophie und Naturwissenschaften

Während des Spaziergangs auf dem Kahlenberg, bei eisig kaltem Wind, drehten sich die Gespräche der Wanderer um die Wechselwirkungen zwischen Philosophie und Naturwissenschaften. Hans Hahn und Otto Neurath erzählten voll Nostalgie von ihren Kaffeehausrunden vor dem Ersten Weltkrieg, in denen sie nächtelang über Wissenschaftsphilosophie diskutiert hatten. Diese Tradition wollte man wieder beleben. Am liebsten mit einem Universitätsphilosophen. Aber mit wem?

Es war der berühmte Gast, der den Norddeutschen Moritz Schlick, Physiker und Philosoph, ins Spiel brachte. Schlick hatte 1917 das Werk Raum und Zeit geschrieben und galt als „Evangelist der Relativitätstheorie“. Tatsächlich war er einer der ersten, der die philosophische Bedeutung von Einsteins Erkenntnissen verstanden und sie zu einer Zeit verteidigt hatte, als sie noch heiß umstritten waren. Einstein reagierte begeistert: „Ihre Darlegung ist von unübertrefflicher Klarheit … Sie haben den Stier bei den Hörnern gepackt … Wer Ihre Darlegung nicht versteht, ist überhaupt nicht fähig, einen derartigen Gedankengang aufzufassen.“ In der Folge verwendete sich Einstein für Schlick, der schließlich eine Berufung an die Universität Wien auf den Lehrstuhl für Philosophie erhielt.

Schlicks Vorlesungen, geprägt vom Weltbild Einsteins, wurden gestürmt: „Sie fanden in einem riesigen, dicht gefüllten Hörsaal statt. Man konnte sich glücklich schätzen, wenn man nicht mit dem Fensterbrett Genüge finden musste“, berichtete ein Zeitgenosse. Auf Wunsch der Studierenden gründete Moritz Schlick 1924 gemeinsam mit den Freunden vom Kahlenberg den „Schlick-Zirkel“. Es war dies eine Gesprächsrunde, die sich jeden zweiten Donnerstagabend in der Boltzmanngasse traf, um die Grundlagen der Wissenschaft zu diskutieren. Neben dem Mathematiker Hans Hahn war auch Otto Neurath, der die kurzlebige bayerische Räterepublik in München unterstützt und als politischer Gefangener in seine Heimatstadt Wien abgeschoben worden war, wieder mit von der Partie.

Der „Wiener Kreis“ propagierte eine rein wissenschaftliche Weltauffassung, aufgebaut auf Logik und Erfahrung, und distanzierte sich scharf von jeglicher Metaphysik – ganz im Sinne von Ernst Mach und Ludwig Boltzmann, die als Urväter des „Kreises“ galten, deren Saat jedoch erst nach ihrem Tod in der darauffolgenden Generation aufgegangen war. So hatte der weltberühmte Experimentalphysiker Mach, Erforscher der Schockwellen, gemeint: „Meine Lebensaufgabe ist es, der Philosophie von Seiten der Naturwissenschaften entgegenzukommen.“ Er wollte den Dingen auf den Grund gehen und fand, dass die Dinge keinen Grund haben: „Das Ding an sich existiert nicht.“ Und auch sein ebenfalls weltberühmter Kollege Boltzmann, Begründer der Wärmelehre, hatte einen erbitterten Kreuzzug gegen die Metaphysik geführt: „Die Metaphysik … ist wie der Brechreiz bei Migräne, der etwas auswürgen will, wo nichts ist.“

Offene Gesellschaft

Der „Kreis“ traf sich alle zwei Wochen und war eine offene Gesellschaft – Schlick lud ohne Ansehen des akademischen Grades ein. Auch Olga Neurath, die mit 22 Jahren erblindete und trotzdem als eine der ersten Frauen ein Doktorat erworben hatte, gehörte dazu. Nur den begabten jungen Philosophen Karl Popper lehnte Schlick aus persönlichen Gründen ab. Die ca. 20 Mitglieder des „Kreises“, davon mehr als die Hälfte jüdischer Herkunft, darunter Rudolf Carnap und das mathematische „Wunderkind“ Karl Menger, diskutierten und stritten. Alle grenzten sich ab gegen die Philosophie als eine Lehre von der Welt, die beansprucht, gleichberechtigt neben den einzelnen Fachwissenschaften zu stehen: „Philosophie treiben, heißt nur: Sätze der Fachwissenschaft kritisch danach prüfen, ob sie nicht Scheinsätze sind“, schrieb Hans Hahn.

Drei Jahre lang versuchten Moritz Schlick und seine Mitstreiter vergeblich, Kontakt mit Ludwig Wittgenstein aufzunehmen. Dieser, ein Sohn aus einer der reichsten jüdischen Unternehmerdynastien der Monarchie, hatte sich anfangs zum Ingenieur ausbilden lassen, sich aber bald der Philosophie zugewandt und in Cambridge Logik studiert. Als Frontoffizier der k. u. k. Armee schrieb er während des Ersten Weltkriegs im Schützengraben eine logisch- philosophische Abhandlung, den Tractatus logico-philosophicus, der zu den wichtigsten Texten des 20. Jahrhunderts zählt.

Mitte der zwanziger Jahre jedoch, als Schlick immer wieder beharrlich seine Bekanntschaft zu machen suchte, lebte Wittgenstein, der sein riesiges Erbe verschenkt hatte, zurückgezogen als völlig unbekannter Volksschullehrer in einem niederösterreichischen Dorf. Erst als er 1928 den Schuldienst quittierte, empfing er den „Wiener Kreis“, dem er selbst nie angehören sollte, auf den er jedoch, wie Albert Einstein und Bertrand Russell, enormen Einfluss ausübte – und der ihn selbst wieder zur Philosophie zurückführte.

1929 – Österreich steckte tief in der Wirtschaftskrise – publizierte der „Wiener Kreis“ sein Manifest, in dem er lauthals verkündete, „den theologischen und metaphysischen Schutt der Jahrtausende“ aus dem Weg zu räumen. Dies trug nichts zum Renommee des Zirkels im reaktionär-klerikalen Österreich bei. Galt er doch als „links“, als „jüdisch“, als „judenfreundlich“. Die Mehrheit der Hochschülerschaft war nationalsozialistisch, obwohl die Partei verboten war. Auch in der Professorenschaft gab es geheime Netzwerke, die alles „Ungerade“, vor allem „Jüdische“ verhinderten. Viele aus dem „Kreis“ nahmen an den erbitterten politischen Auseinandersetzungen teil.

Das stillste Mitglied und die größte Umwälzung

Doch es war ausgerechnet das stillste und jüngste Mitglied des Kreises, das die größte Umwälzung auslöste: der junge Logiker Kurt Gödel. Er war in Brünn geboren, stammte aus wohlhabendem Haus und studierte Mathematik in Wien. Später lehrte er an der Universität Wien als Privatdozent, wofür er im Halbjahr zwei Schilling neunzig bekam – ein Arbeitsloser erhielt damals vierzig Schilling pro Woche. Gödels Unvollständigkeitssatz wurde zur bedeutsamsten mathematischen Erkenntnis des 20. Jahrhunderts. Er zeigte, dass nicht bewiesen werden kann, dass die Mathematik widerspruchsfrei ist: Die Mathematik ist unausschöpflich, sie kann auch durch Computerprogramme nicht ausgeschöpft werden. Dies war ein entscheidender Schritt in der jahrtausendealten Geschichte der Logik. Zur Zeit Gödels gab es noch keine Computer, diese entstanden erst rund fünfzehn Jahre später. Aber von seinen logischen Untersuchungen führt eine direkte Linie zu den Computerprogrammen, die heute unser Leben beherrschen. Gödel gilt daher als der größte Logiker seit Aristoteles. Das Magazin Time reihte ihn daher unter die wichtigsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts.

1933 wurde Gödel als Gastforscher an die renommierte amerikanische Universität Princeton berufen, wo er Seite an Seite mit Einstein wirkte. Als er 1934 nach Wien zurückkehrte, kam er in ein vom Bürgerkrieg zerrissenes Land. Auch der „Wiener Kreis“ bekam die politischen Verhältnisse voll zu spüren. Als der Druck aus NSDeutschland auf Österreich immer größer wurde, ging mit Moritz Schlick eine Veränderung vor sich. Ein Zeitgenosse schrieb: „Es war traurig, wie Schlicks ruhige Heiterkeit verschwand. Er sagte, dass nach seiner Meinung Hitler den Untergang … bedeute.“ Als Schlick im Juni 1936 auf der Philosophenstiege der Wiener Universität von seinem ehemaligen Studenten Hans Nelböck erschossen wurde, schrieben die Zeitungen: „Auf christliche Lehrstühle gehören christliche Philosophen!“ Schlick, dieser „Liebling der Juden“, sei selbst schuld an seinem Schicksal. Er habe keine absoluten Werte anerkannt, Dr. Nelböck, zu recht empört, hätte keinen anderen Weg gesehen, als ihn zu töten.

Mit Schlicks Tod endeten die Zusammenkünfte. Mit Ausnahme von Victor Kraft verließen alle Mitglieder, Sympathisanten und Mentoren das Land, viele noch vor dem Einmarsch Hitlers. Einstein lebte bereits in Princeton, Wittgenstein wurde Professor in Cambridge. Neurath emigrierte, wie Carnap, Feigl, Zilsel, Rose Rand und die Mehrzahl der Mitglieder, in die USA. Karl Popper ging nach Neuseeland. Als letzter verließ Gödel Österreich und reiste in einer wahren Odyssee um die Welt, um sich schließlich in Princeton niederzulassen.

Der Wiener Kreis hatte sich aufgelöst; er sollte auch nach dem Krieg nicht mehr neu entstehen. Doch er wirkte international weiter und ist aus der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts nicht wegzudenken. Und über allen thronte in absentia Albert Einstein, das verehrte Vorbild.

 

Im Zusammenhang mit den Feiern zum 650-Jahr-Jubiläum der Universität Wien wird im Hauptgebäude bis Ende Oktober die Ausstellung „Der Wiener Kreis. Exaktes Denken am Rande des Untergangs“ präsentiert.

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