Heute

Ein Selbstgespräch in Zeiten des Krieges.
VON ANITA HAVIV-HORINER, TEL AVIV

Heute dürfte ich einen sehr schlechten Tag haben. Ich freue mich über die patriotischen Schlagzeilen des Blattes Israel Hayom, denen ich sonst wahrlich nicht zugeneigt bin. Das ist mild ausgedrückt, sehr mild. Aber es kommt noch schlimmer: Heute will ich einfach nicht die Artikel der von mir so geschätzten liberalen Tageszeitung Haaretz lesen. Heute brauche ich einfach Trost, auch wenn ich weiß, dass er trügerisch ist. Heute habe ich meine 78-jährige Mutter angerufen, um meine geplante Reise nach Wien abzusagen. Ich wollte an ihrem Geburtstag bei ihr sein. Sie war in Panik, weinte nur und weigerte sich standhaft, ihren obsessiven Nachrichtenkonsum zu reduzieren. Doch ich kann nicht ins Ausland fahren, während meine beiden Kinder in einem unter Raketenbeschuss stehenden Israel sind. Auch wenn sie erwachsen sind.

Gestern, noch vor wenigen Wochen, am 8. Juli fand die von Haaretz veranstaltete Friedenskonferenz statt. Gestern fühlte ich mich aufgehoben unter Israelis und Israelinnen, die so denken wie ich, die die nationalistisch ausgerichtete Regierungspolitik und den immerwährenden Siedlungsbau ablehnen und darin eine Gefahr für Israel sehen. Plötzlich spürte ich physisch die Kluft zwischen mir und der Mehrheit der Israelis noch stärker als sonst.

Der Schriftsteller David Grossman hielt eine inspirierende Rede, in der er forderte, „die Parteien der Verzweiflung“ durch eine „Regierung der Hoffnung“ abzulösen, denn – so der Schriftsteller: „Wir, die wir schon sehr viele Jahre um Frieden bitten, werden aber auch weiterhin hartnäckig auf Hoffnung bestehen. Auf einer realistischen, nüchternen Hoffnung, die nicht aufgibt. Der bewusst ist, dass sie für uns – Israelis wie Palästinenser – die einzige Chance ist, die Schwerkraft der Verzweiflung zu überwinden.“ Die Ikone Grossman wurde mit Standing Ovations für diesen Aufruf belohnt. Ich konnte gar nicht aufhören zu klatschen.

Krieg, Zerstörung, Hass
Aus meiner Euphorie holte mich am späten Nachmittag der Sirenenalarm in Tel Aviv. Das Ende der Veranstaltung wartete ich nicht ab, sondern fuhr geradewegs nach Hause. Ich wollte vermeiden, mich in der Dunkelheit in den Straßengraben werfen zu müssen. So hoffnungsvoll war ich nun doch wieder nicht. Seitdem ist so viel passiert, Krieg, Zerstörung, Hass …

Die israelische Autorin Zeruya Shalev, die selbst vor Jahren bei einem Terroranschlag verletzt worden ist, schreibt in der Zeit: „… schließlich hat der Konflikt lange vor der Besatzung und vor den jüdischen Siedlungen angefangen, wie könnte man dann hoffen, dass er aufhört, wenn endlich die Besatzung aufhört und die Siedlungen aufgelöst werden.“ Ihrer Frage kann, darf und will ich mich als Israelin nicht entziehen. Niemand, der sich mit dem Nahostkonflikt beschäftigt, sollte diese Tatsache jemals aus den Augen verlieren. Doch aus ihrer Schlussfolgerung höre ich wieder die Stimme der israelischen Verzweiflung, welche die Verantwortung für die eigenen Fehler verdrängt, nur die Schuld der anderen Seite thematisiert. „Solange die Palästinenser nicht bereit sind, die Anwesenheit der Juden in Eretz Israel zu akzeptieren, wird es keinen Frieden geben“, so erklärt Shalev ihr gebrochenes Herz. Ein Satz, und es öffnet sich wieder eine Kluft für mich.

Dann fallen mir die Tränen meiner Mutter wieder ein. Sie hat nicht nur geweint, weil sie ihre einzige Tochter jetzt nicht sehen kann. Sie hat Angst. Angst vor den gewalttätigen anti-israelischen Demonstrationen, vor der Stimmung in Europa. So ist das bei Holocaust-Überlebenden, die verdrängten existenziellen Ängste kommen hoch, die Vergangenheit holt die Gegenwart ein. Und mich holt der Schmerz meiner Mutter ein.

Gleich steigen in mir wieder Zweifel hoch. War es richtig, den Rechtsruck der israelischen Gesellschaft in Interviews für deutsche Medien anzuprangern? Gebe ich damit den Menschen, die meiner Mutter Angst machen, Munition? Eine Freundin sagte mir vorwurfsvoll: „Im Krieg hätte ich nicht darüber geredet – und schon gar nicht in Deutschland.“

Morgen ist heute gestern
Meine patriotische Tochter sieht mich als realitätsfremde Pazifistin an. Bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit hält sie mir eine israelische Fahne unter die Nase. Sie weiß, dass ich weder Flaggen noch Hymnen mag, nicht einmal die meines Landes. Und schon gar nicht in Zeiten wie diesen …

Doch sie irrt sich. Ich bin nicht naiv, mir ist klar, dass Israel bedrohliche Feinde hat, nämlich radikale Islamisten und ihre Organisationen. Da ist es klar und einfach. Der Vertreter einer deutschen Organisation wollte mich einmal davon überzeugen, dass es bei Hamas auch gemäßigte Strömungen gäbe. Hamas mag zwar hin und wieder pragmatisch agieren, doch gemäßigt kann eine menschenverachtende und offiziell Israels Auslöschung anstrebende Organisation in meinen Augen nie sein. Dem Luxus solch einer Verharmlosung habe ich mich nie hingegeben.

Ein aus Deutschland stammender Freund stellte – wie er meinte – gelassen fest, ich würde mit diesem Text die geläufigen „gutmenschlichen“ Meinungen in Europa bedienen. Seine Kritik nehme ich nicht auf die leichte Schulter, denn diese Befürchtung hege ich selbst.

„Hamas hin oder her, aus meiner bescheidenen Perspektive steht das Leid der zivilen Opfer auf palästinensischer Seite in keinem Verhältnis zu den Opfern Israels“, schrieb eine Deutsche auf Facebook. Tja, so einfach kann das sein. Zu ihrer Bescheidenheit kann man sie nur beglückwünschen. Nuancen mögen viele enthusiastische Israel-Kritiker gerade in Europa nicht. Warum sollten sie das auch? Von der gemütlichen Couch in Berlin aus darf man schwarzweiß sehen.

Viele Israelis ertragen Nuancen auch nicht. Denn diese gehen Hand in Hand mit Selbstkritik. Die ist schmerzlich, wenn man so viele Opfer für seinen Staat gebracht hat. Ich versuche und zwinge mich zu differenzieren, dabei verwirre ich mich selbst am meisten. In diesem kontroversen Monolog kann ich nur versuchen, mir selbst treu zu bleiben, den zwei, drei, vier Israelinnen, die in mir streiten.

Morgen ist heute gestern. Doch das Szenario wird sich nicht ändern und meine Zerrissenheit auch nicht.

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