Gräber, die Geschichten erzählen

Grabsteine auf jüdischen Friedhöfen erzählen von Priestern, Gelehrten, aber auch von vielen anderen, die in der jeweiligen Gemeinde gelebt haben. Die Grabinschriften in Eisenstadt wurden kürzlich digitalisiert und geben jedem Interessierten Einblick in das Leben von Menschen, die einst die jüdische Gemeinde „Asch“ prägten.
VON BRIGITTE KRIZSANITS (TEXT) UND
MILAGROS MARTÍNEZ-FLENER (FOTO)

Verschlafen liegt der jüdische Friedhof in Eisenstadt zwischen Gebäuden des 20. und 21. Jahrhunderts

 

Verschlafen liegt der jüdische Friedhof in Eisenstadt zwischen Gebäuden des 20. und 21. Jahrhunderts. Teilweise von hohen Mauern umringt, scheinen die Grabsteine aus der Wiese zu wachsen. Kein Auto fährt hier vorbei, nur ein schmaler Fußweg, den selten jemand nimmt, zieht sich entlang des Friedhofs. Wer den Weg hierher sucht, wird Geschichte finden: ehrfürchtig machende, überraschende, traurige, ruhmvolle. Und neuerdings auch eine spannende Brücke in die Technologie des 21. Jahrhunderts.

Wurzeln bis ins 17. Jahrhundert

Der älteste heute noch erhaltene Grabstein in Eisenstadt ist mit dem Jahr 1679 datiert – vielleicht war er sogar der „Grundstein“ für den jüdischen Friedhof, der neben jenem in der Seegasse in Wien als einer der bedeutendsten in Österreich gilt. Der älteste erhaltene Stein in Eisenstadt wurde Hirz Kamen gesetzt, einem Sohn Abraham Kamens, der selbst Vorsteher in Frankfurt am Main war. Hirz Kamen wirkte in Wien als Gelehrter. Nach der Vertreibung der Juden durch Kaiser Leopold II. 1671 aus Wien emigriert, war er in Nikolsburg, dem heutigen Mikulov in Südmähren, tätig. Die Bemühungen um eine Rückkehr nach Wien blieben ergebnislos, man suchte eine neue Heimat – und fand diese in Eisenstadt, wo Hirz Kamen im Jahr 1675 gemeinsam mit anderen aus Nikolsburg Zugezogenen die jüdische Gemeinde „ASch“ (א ש ) gründete. Am 3. Juli 1679 verstarb er und wurde unweit der Gemeinde beigesetzt.

Sein Grabstein erinnert heute an einen der Gründer der Eisenstädter Judengemeinde. Er zeigt barocke Elemente jener Zeit: eine Bekrönung aus übereinander gestellten Volutenbändern. Er ist zudem aber auch der älteste jüdische Grabstein des Burgenlandes. Seine Inschrift gibt Aufschluss über den, der hier begraben liegt:

„Hier ist geborgen ein Mann der Treue. Dieser Betagte, der Weisheit erworben hat, sein guter Name duftet nach Myrrhe und Weihrauch, der Großrichter war i(n der) h(eiligen jüdischen) G(emeinde) Wien. […]
Er verstarb am Tag 2 (= Montag), 23. Tammus 439 n(ach der) k(leinen) Z(eitrechnung). S(eine Seele) m(öge eingebunden sein) i(m Bund) d(es Lebens).“

Berühmter Eisenstädter mit Namen „Eisenstadt“

Der Stein des Hirz Kamen ist der älteste auf dem Friedhof, Berühmtheit hat hingegen ein anderer erlangt: Zum Grabstein des Rabbiners Meir ben Izsak Eisenstadt pilgern heute noch zahlreiche Gläubige. Der in Poznan in Polen geborene Meir ben Izsak wurde Anfang des 18. Jahrhunderts als Rabbiner der „Sieben Gemeinden“ in das Gebiet des heutigen Burgenlandes geholt und „adoptierte“ den Namen der Stadt. 1744 verstarb er und wurde auf dem Friedhof in Eisenstadt beigesetzt:

„Hier ist geborgen der bedeutende Rabbiner MORENU Meir, Oberrabbiner der Gemeinde Eisenstadt und des Kreises. Er starb und wurde begraben am Sonntag, den 27. Siwan 504 nach der kleinen Zeitrechnung. Seine Seele sei eingebunden im Bunde des Lebens.“

Kein Lob, keine ehrenden Phrasen – im Vergleich zur Inschrift Hirz Kamens sogar vollkommen schlichte, auf das notwendigste reduzierte Worte für einen Lehrer, der schon zu seinen Lebzeiten Ruhm über die Gemeindegrenze hinaus genoss. Es wird vermutet, dass er selbst die Schlichtheit so bestimmt hatte. Bis heut wird „MaHaRaM ASCH“ verehrt, der erste Rabbiner von Eisenstadt. Die Pilger kommen von überall her, legen einen Stein auf das Grab, hinterlassen Votivzettel und tragen sein Andenken wieder hinaus in die Welt.

Hunderte Geschichten

Die Grabsteine von Hirz Kamen und Meir ben Izsak Eisenstadt sind jedoch nur zwei von rund 1.100 auf dem alten jüdischen Friedhof. Von manchen Toten weiß man, wie von ihnen, ein wenig mehr von ihrem Leben. Von anderen erfahren wir nur, was der Grabstein preisgibt. So heißt es bei Salomo Harchim: „Mit dem Studium der Tora beschäftigte er sich Nacht und Tag …“ ehe er „in der Mitte der Tage“ starb. Zu Moses Elia ben Jakob Gelles kamen hingegen „alle, die Hilfe und Rettung suchten, er begegnete ihnen mit Wärme und tiefem Mitgefühl“. Isak ben Aron Heß „starb in jungen Jahren … nach vielen Leiden“. Das Gefühl der Trauer klingt auf manchen Steinen bis in die heutige Zeit nach – Trauer von Eltern, die vor rund 150 Jahren ihrem Kind einen Grabstein setzen mussten – dem „teuren Sohn“, „ein liebes Kind“, verschieden „im Alter von 13 Jahren“, wie es beim Stein des Löb ben Simeon Eisenschitz heißt. Von Sarl Fürst erzählt der Grabstein, dass sie „keine Ruhe fand auf Erden, [und ihr] Gemüt das ganze Leben hindurch verbittert war“.

Es finden sich also Geschichten von Ruhm, von Trauer, von Verbitterung, von Leid auf den Grabsteinen. Den Beigesetzten wurde damit ein Denkmal errichtet, das ihr Andenken bis in die heutige Zeit bewahrt. Wer heute den Friedhof besucht, hat ganz besondere Möglichkeiten, sich mit diesen Geschichten auseinanderzusetzen.

Inschriften für die Zukunft bewahren

Vor knapp einhundert Jahren hatte bereits der jüdische Gelehrte und Leiter der Bibliothek der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Bernhard Wachstein, die Mühen auf sich genommen, die Katalogisierung und Abschrift der Grabinschriften nach bester Möglichkeit zu erfassen. Das Vorwort dazu schrieb der Eisenstädter Weinhändler und Kunstmäzen Sándor Wolf. 1.140 Personen in 1.117 Gräbern verzeichnete Wachstein in dem Werk, doch waren die Standortnummern über die Jahre verschwunden, auch viele Texte auf den Grabsteinen kaum mehr lesbar.

2015 startete das Österreichische Jüdische Museum in Eisenstadt ein Projekt, um die Arbeit Wachsteins wie auch die Grabinschriften ins digitale Zeitalter zu retten. In rund achtmonatiger, intensivier Arbeit wurde Stein für Stein durchgearbeitet, verglichen, zugeordnet. Und obwohl seit der Erfassung durch Wachstein rund 100 Jahre vergangen sind, konnten von den 1.082 vorhandenen Grabsteinen (von 1.105 Personen) 1.074 eindeutig bestimmt werden. Sämtliche Grabsteine wurden nun digital erfasst und mit Foto, Lageplan, Abschrift der Inschriften und biografischen Notizen versehen. So ist die Erforschung des Friedhofs mit Listen oder auch mit Smartphones möglich. Denn im Zuge der Aufarbeitung wurde jeder Grabstein mit einem QR-Code ausgestattet, durch den die Inschriften in hebräischer Schreibweise sowie teilweise auch in deutscher Übersetzung auf das Mobiltelefon geladen werden können.

Die Anonymität der alten Grabsteine wird dadurch aufgehoben. Die Geschichten jener leben wieder auf, die einst hier ihre Heimat hatten. Sie werden so sichtbar nicht nur für ihre Nachfahren, die den Weg nach Eisenstadt auf sich nehmen, um sich auf Spurensuche zu begeben, sondern für alle, die sich auf die Geschichte einer verschwundenen Gemeinde und ihrer Menschen einlassen möchten.

 

Information und Schlüssel zum Friedhof: Österreichisches Jüdisches Museum
Unterbergstraße 6
7000 Eisenstadt
Telefon: +43 (0)2682 65145
www.ojm.at

 

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