„Golda Meir ist nicht Marilyn Monroe“

1980 hat Andy Warhol „Zehn Juden des 20. Jahrhunderts“ porträtiert. Das Jüdische Museum Wien ist der Frage nachgegangen, wie Warhol auf diese Idee kam und wie die Auswahl der zehn Persönlichkeiten getroffen wurde.
Von Astrid Peterle, Co-Kuratorin der Ausstellung

Was tun, wenn man von Andy Warhol um eine künstlerische Idee gefragt wird? Vor dieser Frage stand der New Yorker Galerist Ronald Feldman in den späten 1970er-Jahren. Feldman war erst einige Jahre zuvor von seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt in den Kunsthandel gewechselt und vertrat zunächst vor allem Künstlerinnen, die zwar viel Aufmerksamkeit durch ihre radikalen Arbeiten erweckten, wie etwa die Performance- Künstlerin Hannah Wilke, jedoch kaum Geld einbrachten. Warhol spazierte eines Tages in Feldmans Galerie, da er einige Jahre zuvor in denselben Räumen ausgestellt hatte, und kam von da an fast jeden Samstag mit seinem Dackel Archie vorbei. Dies war der Beginn der Freundschaft zwischen dem Galeristen und dem berühmten Pop-Art-Künstler, über den zu diesem Zeitpunkt in der New Yorker Kunstwelt gesagt wurde, dass er den Höhepunkt seiner Karriere bereits überschritten hatte. Feldman nahm zunächst Warhols Bitte um eine künstlerische Idee nicht ernst, doch nachdem Warhol seine Frage immer wieder vorgebracht hatte, schlug ihm Feldman zum Wohle ihrer Freundschaft einige Projekte vor, wie etwa zehn Porträts US-amerikanischer Präsidenten, die Warhol aber ablehnte.

Feldman wurde schließlich auf Warhols Porträts der ehemaligen israelischen Premierministerin Golda Meir aufmerksam, die der Künstler im Auftrag des Israel Museum zwischen 1975 und 1977 anfertigte. Als Feldman eines Tages in der Factory, Warhols legendärem Studio, anrief und als gemeinsames Projekt eine Siebdruck-Serie von „Ten Portraits of Jews of the Twentieth Century“ vorschlug, war Warhol sofort begeistert. Der Galerist wollte Warhol damit auch zu einer völlig neuen Arbeitsweise anregen: Anstatt von einer Person das immer gleiche Porträt in verschiedenen Farben zu produzieren, wie z. B. die ikonischen Marilyn- Monroe-Bilder (1962), musste sich Warhol für diese Serie mit zehn unterschiedlichen Persönlichkeiten auseinandersetzen.

Wie aber eine Auswahl aus den unzähligen jüdischen Künstlerinnen, Wissenschafterinnen und Politikerinnen des 20. Jahrhunderts treffen? Der Auswahlprozess verlief sehr kreativ und mit einem spezifisch US-amerikanischen Fokus. Feldman schlug Warhol Namen vor und besorgte aus Archiven Porträtfotografien. Wenn Warhol vom Aussehen der Person angetan war, wie im Fall des Religionsphilosophen Martin Buber, der ihn an Moses erinnerte, war es auch nebensächlich, dass ihm dieser vor dem Projekt gar nicht bekannt war. Eine Liste der „jüdischen Genies“, wie Warhol sie häufig bezeichnete, aus dem Jahr 1979 bietet einen Einblick, welche Personen in Erwägung gezogen wurden. Einige Namen sind dem europäischen Publikum weniger bekannt, wie Jonas Salk, der Erfinder des Polioimpfstoffes oder die Duveen-Brüder, international tätige Kunsthändler zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Auch Nicht-Juden finden sich auf der Liste, wie Charlie Chaplin, über dessen Jüdisch-Sein sich Feldman und Warhol wie so viele andere nicht sicher waren. Bob Dylan, dessen Name gleich mehrmals auftaucht, wurde letztlich nicht berücksichtigt, da er sich zu einem Christen der Erweckungsbewegung entwickelt hatte.

Streitigkeiten darüber, wem schließlich ein Porträt gewidmet werden sollte, gab es laut Feldman nicht. Lediglich in einem Fall waren sich die beiden nicht einig. Warhol wollte unbedingt einen Maler in der Serie wissen und schlug Amedeo Modigliani vor, der laut Warhol das Gesicht eines Engels hatte. Feldman bestand aber auf Louis Brandeis, den ersten jüdischen Richter im Supreme Court, dem US-Höchstgericht, dessen liberale Grundsatzentscheidungen Geschichte geschrieben haben und den er mit einem Porträt verewigt wissen wollte, damit er für kommende Generationen nicht in Vergessenheit geraten würde.

Nachdem Warhol auf Grundlage der Porträtfotos Vorstudien mit Graphitstift angefertigt hatte, wurden im Druckprozess die verschiedenen Farbkombinationen und Flächenkompositionen entwickelt. Warhol war dieser Prozess besonders wichtig, da er dabei den einzelnen Porträts in Auseinandersetzung mit Leben und Schaffen der Persönlichkeiten ihre jeweilige Individualität gab.

Bei ihrer ersten Präsentation im Jewish Museum in New York im September 1980 rief die Serie durchaus kontroversielle Reaktionen hervor. Der Kunstkritiker Hilton Kramer von der „New York Times“ warf Warhol und Feldman die Ausbeutung der jüdischen Persönlichkeiten und reinkommerzielle Interessen vor. „Artforum“ sprach gar von „jewploitation“. Feldman leugnet nicht den kommerziellen Aspekt der Serie: „Natürlich wollten wir Geld verdienen, aber das war nicht das ausschlaggebende Motiv. Es war ein großes Projekt für die Geschichte, das empfinde ich bis heute so und ich bin überzeugt, bei Andy Warhol war das genauso.“ Ronald Feldman lässt keinen Zweifel daran offen, dass Andy Warhol als Pop- Art-Künstler nicht daran interessiert gewesen wäre, mit seiner Kunst auch Geld zu machen: „Andy wäre begeistert, wenn er feststellen könnte, was seine Bilder heute wert sind. Nicht im Traum hätte er daran gedacht, dass sie solche Summen erreichen würden. Ich bin jedenfalls glücklich, dass es uns gelungen ist, große jüdische Persönlichkeiten zu würdigen, die vielleicht bald in Vergessenheit geraten wären.“ Während Feldman im Jüdischen Museum diese Worte spricht, gerät eine Studentengruppe aus Washington D.C. beim Anblick der Warhol-Porträts in Verzückung: „Oh, we never knew that Einstein was Jewish …“ Von den jüdischen Communities in den USA wurde die Serie begeistert aufgenommen und in den Jahrzehnten seit ihrer Entstehung in zahlreichen jüdischen Institutionen und Museen gezeigt.

Im Jüdischen Museum der Stadt Wien werden nun erstmals in Wien alle zehn Porträts der Serie gezeigt: Sarah Bernhardt, Louis Brandeis, Martin Buber, Albert Einstein, Sigmund Freud, George Gershwin, Franz Kafka, die Marx Brothers, Golda Meir und Gertrude Stein. Warhols ursprünglichen Wunsch folgend werden in der Ausstellung und im begleitenden Katalog auch die Leistungen der einzelnen Persönlichkeiten beleuchtet. Ein Interview, das die Initiatorin der Ausstellung, Danielle Spera, mit Ronald Feldman im Oktober 2011 führte, bietet einen umfassenden Einblick in die Entstehungsgeschichte, Warhols Arbeitsweise und die Freundschaft zwischen dem jüdischen Galeristen und dem tiefgläubigen Katholiken Warhol. Das Interview macht auch deutlich, wie wichtig Warhol und Feldman das Thema Migration und der Fokus auf die – freiwillig oder erzwungen – wechselnden Lebensmittelpunkte der Porträtierten zwischen Europa und den USA waren: Feldman und Warhol stammten selbst aus Einwandererfamilien aus Mitteleuropa – Feldmans Familie war im 19. Jahrhundert aus Graz in die USA ausgewandert. Erweitert wird die Ausstellung um die Warhol-Porträts eines Wiener Künstlers, André Heller. Fotografien von Gabriela Brandenstein und ein Essay Hellers zeugen von dessen Begegnung mit Warhol in Wien im Jahr 1981. Die Sammlung WestLicht Wien steuerte Porträts Warhols von Franz Hubmann, Helmut Newton und Oliviero Toscani bei. Als Schlusspunkt der Ausstellung erinnert ein Bild des Wiener Künstlers Robert Lettner, das er 22. Februar 1987 am New Yorker Times Square von den Nachrichtenanzeigen aufnahm und später in eine Siebdruckserie im Stile Warhols verwandelte, an den heurigen 25-jährigen Todestag Andy Warhols.

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