Gesucht: ein neues Gesicht für Österreichs Juden

Im November wählen die Mitglieder der Israelitischen Kultusgemeinde ihre Gemeindevertretung neu. Der Wahlkampf hat schon begonnen.
Von Barbara Tóth

Knapp 7600 Wahlberechtigte, noch gut ein halbes Jahr Zeit bis zum Urnengang, 24 zu vergebene Gemeinderatssitze: Quantitativ gesehen sind die Wahlen der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) so bedeutend, als würde Freistadt in Oberösterreich, Ferlach in Kärnten oder Zeltweg in der Steiermark seine Stadtregierung wählen. Aber weil die Wählerinnen jene Gruppe von Menschen repräsentieren, die einst aus Österreich vertrieben und ermordet wurden, und weil der Präsidenten der IKG in der Vergangenheit stets auch eine wichtige öffentliche Figur war, interessiert das Kandidatenrennen bereits jetzt die Medien – nicht nur die jüdischen.

Ein Blick auf den jüdischen Vorwahlkampf zeigt eine, um es in der Sprache der Politologen zu sagen, äußerst bewegte Parteienlandschaft mit derzeit acht antretenden Listen, davon zwei Neugründungen – Zustände, von denen Politikverdrossene bei den österreichischen Parlamentswahlen nur träumen können.

Grund für diese Volatilität ist ein möglicher Generationswechsel. Ariel Muzicant, der Mann, der Wiens Jüdinnen seit dem Jahr 1998 Gesicht und Stimme gegeben hat, tritt nicht mehr an. Sein von ihm bereits eingesetzter Nachfolger im Amt, der 48-jährige (Alvorada-Geschäftsführer) Oskar „Ossi“ Deutsch, soll die Hausmacht ihrer gemeinsamen Gruppierung „Atid“ („Zukunft“) im Kultusrat sichern (siehe Kasten). Als Herausforderer hat sich bis dato nur ein weiterer Kandidat deklariert: Martin Engelberg, 52 Jahre alt, Psychoanalytiker und Coach, Mann der Direktorin des Jüdischen Museums, Danielle Spera – und NU-Mitbegründer der ersten Stunde. Er tritt mit der Liste „Chaj – Jüdisches Leben“ an. Neu auf dem Stimmzettel ist auch die Gruppierung „Respekt“ rund um die Bankerin Patricia Kahane. Sie hat keine Person für das Präsidentenamt nominiert und konzentriert ihren Wahlkampf darauf, einen neuen Stil in der Gemeinde einzufordern.

Kontinuität oder Modernisierung, dass sind dann auch die Hauptthemen der beginnenden Kampagnen und Gegenkampagnen, die derzeit vor allem im Kleinen und mittels klassischer wie neuer Medien geführt werden. „Respekt“ etwa unterhält eine aufwendige Internetseite mit ausführlichen Artikeln zu Detailfragen, wie etwa der Zukunft des IKG-Archivs. Engelberg lädt jeden Freitagabend zum Shabbat-Essen ins koschere Restaurant „Alef-Alef“. Atid bejubelt in der hauseigenen Zeitung gleichen Namens die Ära Muzicant und porträtiert seinen Nachfolger Deutsch in sanften Tönen.

Und dann gibt es noch den eifrigen jüdischen Blogger Samuel Laster, der aus seinem Portal „Die Jüdische“ gerne eine Art IKG-Drudge-Report machen würde, dessen Beiträge aber nicht, wie das US-Original, die Politik bewegen, sondern meistens nur Nebensächlichkeiten abhandeln. Muzicants Erbe ist vor allem ein wirtschaftliches. Unter seiner Präsidentschaft hat die IKG – gemessen an der Mitgliederzahl – die stärkste Infrastruktur in Europa aufgebaut: 12 Schulen und Ausbildungsstätten, 16 Synagogen und Bethäuser, das psychosoziale Ambulatorium ESRA, das Maimonides Zentrum, den Sportclub Hakoah und inzwischen zwei periodische Publikationen gehören zum Reich der IKG. Die beiden neu antretenden Listen „Chaj“ wie „Respekt“ wollen einerseits mehr Transparenz in die Kultusangelegenheiten sowie ganz allgemein mehr jüdisches Leben in die Gemeinde bringen. „Auf eine Phase der Unsicherheit nach dem Holocaust folgte die Periode des Wiederaufbaus, repräsentiert durch Paul Grosz und, kumuliert in großen Projekten, durch Muzicant“, meint Engelberg. „Jetzt geht es darum, die Infrastruktur mit jüdischem Leben zu erfüllen.

Aber wie? Durch Zuwanderung, wie es Muzicant und auch sein Nachfolger Deutsch anstreben? Als drittes Wahlkampfthema schwingt daher immer auch das des Umgangs mit der Orthodoxie mit, den die Mehrzahl der zugewanderten Juden gehört dieser an. „Respekt“ etwa setzt sich in diesem Zusammenhang für eine gezielte Anwerbung ungarischer Juden ein, im Gegensatz zu der von Muzicant verfolgten Strategie, vor allem orthodoxe Juden nach Wien zu holen. Engelberg will zuerst jene 6000 bis 8000 Juden in Wien in die Gemeinde integrieren, die noch nicht eingebunden sind. „Erst dann kann man über eine Zuwanderung aus anderen Ländern nachdenken.“

Dieser Konflikt im Judentum ist nicht neu. Er prägte das jüdische Leben um die Jahrhundertwende. Damals schon waren die Gemeinsamkeiten zwischen dem assimilierten, bürgerlichen Judentum in ihren frisch bezogenen Ringstraßenpalais und ihren Glaubensgenossen aus dem galizischen Schtetl jenseits des Donaukanals gering. Nach der Schoah gibt es eine große Grundlinie der Solidarität unter den Juden, das Wissen um das gleiche Schicksal. Selbst wer die Orthodoxen nicht verstehen kann, fühlt sich für sie mehr verantwortlich oder ihnen verbunden als anderen religiösen Gruppen. Deshalb ist es für alle wahlwerbenden Gruppierungen wichtig, dass Wiens jüdische Gemeinde eine „Einheitsgemeinde“ ist. Unterschiedliche religiöse Strömungen finden sich unter einem Dach wieder, wenn auch mit Schwierigkeiten. Wer also Mehrheiten im Kultusrat finden will, muss alle Juden ansprechen, liberale bis orthodoxe, und jetzt schon Koalitionsversprechen für die Zeit nach der Wahl machen – eine spannende Herausforderung.

Weil das Amt des IKG-Präsidenten immer auch ein öffentliches war, spielt nicht zuletzt auch die Stilfrage im Wahlkampf eine Rolle. Muzicant geht mit dem Etikett des Mahners und Haider-Bekämpfers in den Unruhestand. Er prägte Begriffe wie „Kellernazi“ und lieferte sich mit der FPÖ harte Gefechte auch vor Gericht. Deutsch kündigte in einem seiner raren Interviews an, an Deutlichkeit gegenüber der FPÖ auch weiterhin nichts vermissen zu lassen, aber gleichzeitig „die Türen zu öffnen und uns als Teil der österreichischen Gesellschaft zu präsentieren“ zu wollen. Eine Formulierung, die zuvor schon Engelberg verwendet hatte, dessen Wahlkampf stark von der Idee geprägt ist, dem jüdischen Leben ein moderneres, mitunter auch moderateres Gesicht zu geben. „Brücken zu schlagen“, nennt er das. „Respekt“ setzt eher auf innerjüdische Themen, vor allem auf Transparenz und Kontrolle. Die Liste fordert „open governance“, allen voran in der Finanzgebarung.

WER DARF WÄHLEN?
Wählerinnen müssen 18 Jahre alt, Mitglied der IKG sein und ihren Hauptwohnsitz in Wien haben – und zwar laut IKG-Statut Österreicherinnen seit 6 Monaten, EU-Bürgerinnen seit zwei Jahren, Nicht-EU-Bürgerinnen seit vier Jahren. Das gilt nicht für Personen, die schon am 13. März 1938 Mitglieder der Kultusgemeinde waren. Wer sich nicht sicher ist, ob er als IKG-Mitglied registriert ist, sollte bis 15. April im Sekretariat des IKG-Präsidenten nachfragen, dort liegt die Wählerliste auf.

WER WIRD GEWÄHLT?
Der 24-köpfige Kultusrat, der wiederum den Präsidenten mit einfacher Mehrheit für fünf Jahre wählt. Bei Stimmengleichheit entscheidet das Los.
Wer sitzt jetzt im Kultusrat?
Atid (10) – Muzicants und Deutschs Liste
Liste Sefardim-Bucharischer Juden (5)
Bund Sozialdemokratischer Juden (2)
Khal Israel (2) – vertritt orthodoxe Juden
Gesher (2) – eine junge, liberale Liste, tritt nicht mehr an
Misrachi (1) – vertritt religiöse Juden
Liste Georgischer Juden (1)
Block religiöser Juden (1)

WER TRITT NEU AN?
Chaj – Jüdisches Leben
Respekt

NU-FRAGEBOGEN
NU hat die beiden derzeit bekannten Kandidaten für das IKG-Präsidentenamt gebeten, den Fragebogen des französischen Schriftstellers Marcel Proust zu beantworten. Oskar Deutsch, amtierender Präsident, sagte „leider ab, da ich meine Zeit für die Leitung der Israelitischen Kultusgemeinde Wien verwende“. Vielleicht schafft er es fürs kommende NU, wir haben ihn erneut darum gebeten. Martin Engelbergs Antworten lesen Sie hier.

Wo möchten Sie leben?
In Wien, Israel und den USA.

 

Was ist für Sie das vollkommene irdische Glück?
Friede, Freiheit und ein erfülltes Leben.

Welche Fehler entschuldigen Sie am ehesten?
Solche, die passieren, obwohl man sich bemüht hat, es richtig zu machen.

Was ist für Sie das größte Unglück?
Krankheit.

Ihre liebsten Romanhelden?
Ari Ben Kanaan.

Ihre Lieblingsgestalt in der Geschichte?
Itzhak Rabin.

Ihre Lieblingsheldinnen/ -helden in der Wirklichkeit?
Menschen, die unter Einsatz ihres Lebens anderen helfen.

Ihr Lieblingsmaler?
Herbert Brandl, Hermann Nitsch, Jackson Pollock.

Ihr Lieblingsautor?
Amos Oz, Leon de Winter.

Ihr Lieblingskomponist?
Wolfgang Amadeus Mozart, Gustav Mahler.

Welche Eigenschaften schätzen Sie bei einer Frau am meisten?
Die Fähigkeit zu lieben.

Welche Eigenschaften schätzen Sie bei einem Mann am meisten?
Charakterstärke.

Ihre Lieblingstugend?
Mut.

Ihre Lieblingsbeschäftigung?
Was ich gerade tue.

 

Wer oder was hätten Sie gern sein mögen?
Präsident der USA.

Ihr Hauptcharakterzug?
Stärke.

Was schätzen Sie bei Ihren Freunden am meisten?
Ehrlichkeit, Beständigkeit, Zugewandtheit.

Ihr größter Fehler?
Manchmal zu schnell zu sein.

Ihr Traum vom Glück?
Gesundheit, eine glückliche Beziehung zu meiner Frau und meinen Kindern, einen erfüllenden Beruf, viele gute Freunde und interessante Begegnungen zu haben.

Was wäre für Sie das größte Unglück?
Der Verlust von Menschen, die mir nahestehen.

Was möchten Sie sein?
Das, was ich bin.

Ihre Lieblingsfarbe?
Blau.

Ihre Lieblingsblume?
Rose.

Ihr Lieblingsvogel?
Adler.

Ihr Lieblingsschriftsteller?
Arthur Schnitzler, Friedrich Torberg.

Ihr Lieblingslyriker?
Heinrich Heine.

Ihre Helden der Wirklichkeit?
Die israelischen Soldaten bei der Befreiungsaktion in Entebbe.

Ihre Heldinnen in der Geschichte?
Geschwister Scholl.

Ihre Lieblingsnamen?
Danielle, Samuel, Rachel, Deborah.

Was verabscheuen Sie am meisten?
Verrat.

Welche geschichtlichen Gestalten verabscheuen Sie am meisten?
Alle Diktatoren.

Welche Reform bewundern Sie am meisten?
Die Reformen des Sozial- und Gesundheitswesens.

Welche natürliche Gabe möchten Sie besitzen?
In die Zukunft blicken zu können.

Wie möchten Sie gern sterben?
Im Schlaf.

Ihre gegenwärtige Geistesverfassung?
Sehr gut.

Ihr Motto?
Mache etwas aus deinem Leben.

Er ist der Fragebogen, den Journalisten zur Hand nehmen, wenn sie ihren Gesprächspartner kennenlernen wollen: Vom Schriftsteller Marcel Proust ursprünglich als Gesellschaftsspiel für die Pariser Salons entwickelt, gehören die 36 Fragen inzwischen zum Standardrepertoire. Das amerikanische Magazin „Vanity Fair“ bittet seit Jahren, Prominente auf der letzten Seite, diese Fragen zu beantworten. Das Magazin der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ ebenfalls. Prousts Fragebogen ist so beliebt wie bewährt, weil er den Fragesteller subtil herausfordert. Die Fragen entlocken nicht nur viel Persönliches, sondern zeigen auch auf, in welchem intellektuellen Umfeld sich der Antwortende bewegt. Er kann Geist und Witz, die Kardinaltugenden der französischen Salons, beweisen – oder sich als Langeweiler entpuppen. Unterhaltsam sind Prousts Fragen immer, allein schon, weil man sich unweigerlich fragt: Was würde ich antworten?

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