Gedanken zu den aktuellen politischen Entwicklungen in Österreich

Kommentar von Martin Engelberg

Im Abklingen der Turbulenzen rund um den Rück- bzw. Beiseitetritt von Sebastian Kurz als Bundeskanzler konnte eine höchst spannende Entwicklung beobachtet werden: Die ÖVP verlor in den Umfragen zwischen zwölf und vierzehn Prozentpunkte gegenüber dem Wahlergebnis 2019 (37%). Wer profitierte jedoch am meisten von diesem Absturz, wohin wanderten die Stimmen fürs Erste? Was bedeutet dies politisch?

Die SPÖ und die Grünen konnten davon nur ganz wenig, jedenfalls am geringsten profitieren. Die Werte der SPÖ stiegen geringfügig, um zwei bis drei Prozentpunkte gegenüber der Wahl 2019 (21%), die Grünen konnten bereits verlorene Stimmen zurückgewinnen, lagen letztlich aber wieder mehr oder weniger bei ihrem Wahlergebnis 2019. Dazugewinnen konnten die Neos. Sie stiegen in den Umfragen auf zwölf gegenüber den acht Prozent bei der Wahl 2019. Wer aber ist dann der große Gewinner?

Erraten! Die FPÖ sprang – je nach Umfragen – auf 20 Prozent und mehr, gegenüber 16 Prozent bei der Wahl 2019. Aber in den letzten Umfragen wurde auch die Impfskeptikertruppe MFG abgefragt; diese kam auf drei bis vier Prozent. Es ist wohl nicht zu gewagt vorauszusagen, dass diese Stimmen 1:1 der FPÖ zuzurechnen sind, da nicht davon auszugehen ist, dass eine Impfgegner-Partei bei einer Nationalratswahl (erfolgreich) antreten würde. Das bedeutet also, dass der Großteil der von der ÖVP verlorenen Prozentpunkte in das FPÖ-Lager abwanderte. Wie ist das zu verstehen?

Ein Besuch der östlichen Bundesländer in Deutschland vor der vergangenen Bundestagswahl und zahlreiche intensive Gespräche vor Ort können wohl auch die Antwort für Österreich sein: Die Menschen sind weiterhin höchst alarmiert über die Flüchtlingsproblematik, die Probleme bei deren Integration und die erhöhte Kriminalität. Dazu kommt das Problem der teils schlechten Sicherheitslage in den Städten, wo die Polizei mit den Phänomenen der Parallelgesellschaften, der Clan-Kriminalität usw. schlecht zurechtkommt. Das gilt zum Teil auch für Österreich. Obendrein fühlen sich die Menschen insgesamt nicht genug gehört, sie haben das Gefühl, dass man nichts übrighabe für ihre Sorgen und Anliegen – die Politiker seien abgehoben.

Damit kommen wir zu einem bekannten politischen Streitthema: Sind Politiker als Populisten zu verdammen, weil sie den Menschen „nach dem Mund reden“, oder gebührt ihnen Anerkennung dafür, dass sie für die Ängste und Bedürfnisse der Leute ein Ohr haben, so irrational diese einem manchmal auch scheinen mögen? Jedenfalls ist es Sebastian Kurz ganz offensichtlich gelungen, diese Menschen „abzuholen“ und nicht länger der FPÖ zu überlassen. Voller Bewunderung sprachen die Kandidaten und Funktionäre der CDU in Sachsen, Brandenburg und Berlin von Sebastian Kurz. Er würde bei den wichtigen Themen eine „klare Kante“ zeigen – und das sei es genau, wonach sich die Menschen sehnten.

Wie wir wissen, wird Sebastian Kurz genau diese Haltung oft zum Vorwurf gemacht. Die jüngsten Ereignisse und die darauffolgenden, massiven Wählerverschiebungen zeigen jedoch die Problematik: Verabschiedet sich Sebastian Kurz von der politischen Bühne, zumindest für einige Jahre, dann können wir fix davon ausgehen, dass ÖVP, SPÖ und FPÖ wieder ziemlich gleichauf liegen werden. Womöglich sinkt die ÖVP noch weiter, ebenso wie auch die SPÖ unter einer fortgesetzten Führung von Rendi-Wagner, sodass die FPÖ zur stimmenstärksten Partei zu werden droht. Genau eine solche Situation hatten wir ja bereits. Das war im Herbst 2016, einige Monate bevor Sebastian Kurz die Führung der ÖVP übernahm.

Erschwerend kommt hinzu, dass sich die SPÖ-Vorsitzende ganz offen eine Koalition mit der FPÖ, noch dazu unter der Führung eines Herbert Kickl, vorstellen kann. Einem Herbert Kickl, der unter anderem ein Impfgegner ist und sich antisemitischer Agitation bedient. Und auch die Grünen und die Neos waren ganz offensichtlich zu einer Koalition mit der FPÖ Kickls bereit, um Sebastian Kurz zu stürzen.

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