Freuds verschwundene Nachbarn

Eine Ausstellung im Sigmund Freud Museum zeigt anhand des Lebens der Bewohner des Hauses Berggasse 19 exemplarisch das Schicksal der Juden nach 1938.
Von Peter Menasse

1090Wien, Berggasse 19. Die Adresse ist Synonym für die Entstehung der Psychoanalyse, Wohnhaus und Praxis von Sigmund Freud. Heute beherbergt die Wohnung das Sigmund Freud Museum, ist Dokumentations- und Forschungsstelle des großen 1938 vertriebenen Österreichers, der im englischen Exil starb. Aber da haben damals auch noch andere gewohnt, in diesem Zinshaus, wenige Gehminuten von der „Mazzesinsel“ entfernt. Andere, die ins Exil mussten oder ermordet wurden. Ihren Spuren folgt die Ausstellung „Freuds verschwundene Nachbarn“, die derzeit im Freudmuseum zu sehen ist. Anhand der individuellen Schicksale von Freuds Nachbarn nach 1938 werden die grausigen Spielarten nationalsozialistischer Herrschaft und auch der Umgang der Republik Österreich mit den Juden nach 1945 gezeigt. Die Ausstellung ist so konzipiert, dass jeweils die Geschichte einer Familie aus dem Haus in der Berggasse ein Kapitel der gesamten Verfolgungsgeschichte veranschaulicht (Details sehen Sie im folgenden Bericht). Damit wird auch der Mythos des Hauses neu geschrieben. Der symbolisch hoch aufgeladene Gründungsort der Psychoanalyse wird als Wohnhaus von jüdischen Bürgern, als Haus wie jedes andere sichtbar. Inge Scholz-Strasser, Leiterin des Museums, führt mich durch die Ausstellung. Sie würde mir zu jedem Thema auch einen Gesprächspartner vermitteln können, sei es ein Wissenschaftler oder ein Nachfahre einer Familie aus dem Haus. Lange diskutieren wir über die Frage, warum so viele Aspekte der Geschichte erst in den letzten Jahren in die öffentliche Diskussion kamen, warum so vieles erst jetzt besprechbar ist. Die Psychoanalytiker haben dafür den Begriff „Verschwörung des Schweigens“ geprägt. Die überlebenden Juden hatten ihre Wurzeln, ihre Familie, ihre frühere Identität verloren. Sie mussten, um physisch, aber vor allem psychisch weiter existieren zu können, neue Wurzeln schlagen, Familien gründen, vergessen – nein verdrängen. Und darüber hinaus war da auch niemand, der ihre Geschichte hätte hören wollen. Erst als sie alt waren, konnten sie die Verdrängungsleistung nicht mehr erbringen. Und die Affäre Waldheim mit dem an die Oberfläche drängenden Antisemitismus, zerstörte die Hoffnung, durch Assimilierung und Zurückhaltung Frieden zu bekommen. Eva R., die ich schließlich auf Empfehlung von Scholz-Strasser treffe, spiegelt in ihrer Geschichte einiges von Verdrängung und Versuchen derAssimilation wider. Ihre Urgroßeltern, Dorothea und Emil Humburger, und deren drei Töchter waren Nachbarn von Sigmund Freud gewesen. Die Geschichte der einzelnen Mitglieder der Familie verlief sehr unterschiedlich. Die jüngste Tochter hatte 1935 den Schriftsteller Leo Perutz geheiratet und war mit ihm nach Palästina gezogen. Hedwig Stefanie flüchtete 1938 nach Athen und nur Lisbeth, die älteste blieb in Wien. Sie hatte einen Katholiken geheiratet und seinen Glauben angenommen. Ihre Tochter Gitta, die Mutter meiner Gesprächspartnerin, wurde 1929 geboren und über ihre jüdische Herkunft im Unklaren gelassen. 1938 brach das Wissen dann brutal in ihr Leben ein. Ihre Freunde wendeten sich von ihr ab, sie musste die Schule verlassen. Lisbeth überlebte in Wien, heiratete nach dem Krieg einen Deutschen, der als Soldat in Russland gedient hatte – und verdrängte ihre Herkunft und Geschichte, wie sie es von ihrer Mutter gelernt hatte. Alain Finkielkraut spricht in seinem Buch „Der eingebildete Jude“ über einen Doppeleffekt, den der Völkermord in Hinblick auf die Assimilierung der Juden hatte. Einerseits entzog er ihr jede Existenzberechtigung und andererseits beschleunigte er sie. Warum sollte man sich assimilieren, fragt der Autor, wenn man dann doch sein Leben in einem verplombten Waggon beendete. Aber andererseits, warum sollte man sich weiterhin auf eine Kultur und eine Seinsweise versteifen, die einen kenntlich macht und einem als bereitwilliges Opfer dem Hass preisgibt. Eva R. erzählt ein Stück vom Ende der Verdrängung. Als die Waldheim-Affäre ihren Höhepunkt erreichte, begannen auch die bürgerlichen Gäste im Speisezimmer ihrer Mutter Gitta ihren Antisemitismus zu bekennen. Und plötzlich konnte Gitta nicht mehr schweigen. Sie wehrt sich das erste Mal gegen die Freunde, gegen ihren Mann, gegen die Verdrängung. So wie diese kleine Geschichte werden auch jene aller anderen Bewohner des Hauses Berggasse 19 eine nachhaltige Anregung zur Auseinandersetzung mit Themen der österreichischen Geschichte bieten. Die Ausstellung läuft bis 28. September 2003.

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