Frau. Jüdin. Ungarin. Philosophin

Im Oktober 2015 hielt die große ungarisch-jüdische Philosophin Ágnes Heller einen Vortrag bei der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Obwohl dort bis spätabends im Einsatz, gab die 86-Jährige schon früh am nächsten Tag NU ein Interview zum Zustand des heutigen Europa, zu Fragen der Integration, der Eigenart des Islam und zu ihrer eigenen Identität. Das Gespräch führten Peter Menasse (Text) und Milagros Martínez-Flener (Fotos).

NU: In Ihrem Buch Die Welt der Vorurteile schreiben Sie über das kulturelle Gedächtnis von Gesellschaften. Derzeit kommen viele Menschen nach Europa, die aus einem Raum mit einem völlig anderen kulturellen Gedächtnis stammen, als wir es haben. Was heißt das, wie schätzen Sie das ein für die Entwicklung unserer Gesellschaft?

Ágnes Heller: Es gibt Gesellschaften, in denen Menschen mit ganz unterschiedlichem kulturellen Gedächtnis zusammenleben. Europa ist einmal so ein Kontinent gewesen, wo das möglich war. Mit der Entstehung der Nationalstaaten hat es allerdings diese Kapazität verloren. Nationalstaaten existieren im Wesentlichen erst seit dem Ersten Weltkrieg. Seit damals können Leute, die verschiedene kulturelle Gedächtnisse haben, nicht mehr einfach miteinander leben. Mein Vater beispielsweise ist noch im Reich der Habsburger aufgewachsen. Die Menschen dort hatten ganz unterschiedliche Erfahrungen und Erlebnisse. Ungarn, Österreicher, Slowaken, Tschechen kamen gut miteinander aus. Sie hatten ja auch gemeinsame Erlebnisse, und sie waren in der Lage, mit der Unterschiedlichkeit zurechtzukommen, so wie das heute auch in Amerika funktioniert. Das ist ein modernes Land. Am St.-Patricks-Day gehen ausschließlich die Iren auf die Straße. Die anderen Menschen kümmern sich gar nicht darum, was da los ist, ja wissen vielleicht nicht einmal, wer St. Patrick war. Jede Gruppe feiert ihre nationalen Ereignisse, die anderen stehen dabei, schauen ihnen zu, aber nehmen nicht teil.
In Europa ist das nicht der Fall, und man wird hier daher vielleicht ein Problem bekommen. Einfach deswegen, weil es Nationalstaaten gibt, weil die Europäer gewöhnt sind, dass alle Menschen, die in ihrem jeweiligen Staat leben, dasselbe kulturelle Gedächtnis haben. Das war ja auch die Anforderung an Juden. Sie konnten sich nicht einfach integrieren, sie mussten sich assimilieren, sie mussten das kulturelle Gedächtnis der Nationen, in die sie gekommen waren, übernehmen. Das war eine Absurdität, hatten sie doch ein ganz anderes kulturelles Gedächtnis. In Amerika gibt es damit kein Problem, in Europa schon. Man hat das hier auf diesem Kontinent schon einmal zum Problem gemacht und wir wissen, wie das endete.

Es gibt eine große Erzählung, die in Deutschland und Österreich halbwegs funktioniert, als moralische Erzählung – nämlich jene über die Schoa …

Nein, die Schoa ist eine europäische Erzählung, eine in jedem europäischen Land. Die Schoa gehört zum gemeinsamen europäischen Gedächtnis. So sollte es zumindest sein.

Aber diese Erzählung schützt Juden in Deutschland und Österreich. In diesen Ländern hat die überwiegende Mehrheit der Menschen die Lektion gelernt, und sie wollen keine Nazis sein. Ich bin nicht mehr sicher, wie die Moral aus der Erzählung über die Schoa bei Menschen funktioniert, die aus Syrien oder aus dem Irak kommen und in einem ganz anderen Kontext aufgewachsen sind, was die Einstellung zu Juden betrifft.

Sicher haben sie nicht dieselbe kulturelle Erinnerung. Aber ich möchte sagen, dass es überhaupt keine Nazis in Amerika oder Australien gab. Aber wenn Sie zu jemanden in den Vereinigten Staaten oder in Australien „du Nazi“ sagen, würde die Person das genauso verstehen, wie Deutsche oder Österreicher, eben als ein sehr negatives Stereotyp. Das ist dasselbe, wie wenn man zu jemand sagt „du Teufel“, und das verstehen doch alle.

Also ist die Schoa doch eine weltumspannende Erzählung?

In der islamischen Bevölkerung gibt es andere Probleme, und man muss sich dessen bewusst sein, wenn man Menschen von dort in Europa aufnehmen will. Und ich halte es für richtig, dass man solche akzeptiert, die aus einem schrecklichen Krieg flüchten. Das Problem hier ist der Charakter der Religion und nicht das kollektive Bewusstsein. Es gibt christliche und jüdische Fundamentalisten, das wissen wir, aber die meisten Juden und Christen sind das nicht. Die islamische Religion hingegen ist in sich fundamentalistisch, und das wird in Europa, wo es nicht eine so pluralistische Gesellschaft gibt wie in den Vereinigten Staaten oder in Australien, wahrscheinlich noch zu Problemen führen.

Der Schriftsteller Imre Kertész, ein Landsmann von Ihnen und aus Ihrer Generation, sagte zuletzt in großer Resignation, dass das Leben ein Irrtum sei, weil der Mensch seine Existenz auf moralische Prinzipien gründe, obwohl das Funktionsprinzip und die Praxis des Lebens amoralisch seien. Wie sehen Sie diese seine Position – auch in Anbetracht der Gewalt, von der wir täglich lesen?

Imre Kertész ist nicht nur Europa- Skeptiker, sondern ein Menschen- Skeptiker. Er hat eine schlechte Meinung von der Menschheit im Allgemeinen. Deswegen hat er auch eine so schlechte Meinung über die Möglichkeiten Europas. Das hängt meiner Meinung nach damit zusammen, dass er die Seele eines Künstlers hat. Er reagiert stärker auf eine Situation als ich zum Beispiel.
Tatsächlich befindet sich Europa in einer problematischen Phase. Dazu müssen wir wissen, dass wir ein falsches Bild von Europa vor uns hertragen. Wir sprechen immer über europäische Werte, die wir verteidigen sollen. Aber wir wissen doch alle, obwohl wir es nicht offen aussprechen, dass die demokratische Tradition Europas sehr schwach entwickelt ist. In Europa wirken die Traditionen des Totalitarismus, des Bonapartismus und verschiedener diktatorischer Epochen, weil sie viel länger an der Macht waren und immer noch stärker wirken, als die kurze demokratische Tradition. In einigen Ländern des heutigen Europa bestehen die längsten liberalen Demokratien seit rund sechzig, siebzig Jahren, aber da waren auch noch Franco in Spanien, Salazar in Portugal, und in Griechenland herrschte das Militär. Wo soll da eine demokratische Tradition herkommen? Ich glaube, es wäre wichtig für Europa, die Vergangenheit, unsere Geschichte realistisch zu erzählen. Statt über das wunderbare Europa zu reden, sollten wir das wahre Gesicht des geschichtlichen Gedächtnisses öffentlich verhandeln.

Wie beurteilen Sie die Politik Viktor Orbáns und seiner Partei Fidesz? Ist er ein wirklicher Diktator oder verhindert er durch seine Positionen nur, dass die noch extremere Partei Jobbik die Macht übernimmt?

Jobbik wird die Macht wahrscheinlich nicht übernehmen, ich sehe keinen Grund dafür. Man braucht in Ungarn überhaupt keine Jobbik, denn es wird dort viel von deren Politik sowieso realisiert. Die Linken und die Liberalen sind sehr schwach geworden, sie haben keine eigene Linie, sondern nehmen nur die Themen von Fidesz und Jobbik auf und sagen „nein“ dazu. Aber auf diese Weise kann man keine politischen Alternativen entwickeln.

Sie sind einmal schon aus Ungarn weggezogen, weil sie der Unterdrückung entkommen wollten. Wie geht’s Ihnen jetzt in Ungarn?

Ja, schön. Ich bin alt und werde meine Stellung nicht verlieren, weil ich gar keine habe. Aber heute ist nicht dasselbe wie damals, als es eine totalitäre Regierung gab. Wenn man seinerzeit etwas Kritisches öffentlich sagte, kam in der Früh die Polizei und man endete im Gefängnis. Das ist heute nicht der Fall. Heute bekommt man keine Förderung, keine Auszeichnung, kein Geld vom Staat. Aber das macht mir überhaupt nichts.
Ich fürchte nicht um mein Fortkommen. Ich habe Angst um meine Kinder, die Enkel und alle anderen Menschen, die in Ungarn leben.

Sie haben einmal gesagt, Ihre Identität ist Frau, Jüdin, Ungarin, Philosophin. Was davon ist der für Sie wichtigste Teil?

Das kann man nicht sagen. Ich bin als Frau, als Jüdin in Ungarn geboren, ich wurde nicht als Philosophin geboren, das habe ich selbst gewählt. Aber man kann auch nicht einfach sagen, dass das meine überwiegende Identität darstellt. Wozu braucht man denn überhaupt eine Identität? Ich glaube gar nicht, dass ich so etwas brauche. Es hängt von der Situation ab, mit wem ich konfrontiert bin, welche Identität die wichtigste ist. Wenn ich mit Antisemiten zu tun habe, dann bin ich eine Jüdin, wenn ich mit Frauenhassern konfrontiert bin, dann bin ich an erster Stelle eine Frau, und ich wehre mich gegen Angriffe auf Ungarn.

Was ist Ihre jüdische Identität?

Es gab keinen Moment im Leben, wo ich mich nicht als Jüdin identifiziert und gefühlt habe. In meiner Kindheit, noch unter Miklós Horthy, waren antijüdische Ressentiments an der Tagesordnung. Nach dem Krieg haben die wenigen überlebenden ungarischen Juden ihren Kindern gar nicht gesagt, dass sie Juden sind. Es gab Kinder, die zu Hause antisemitische Bemerkungen machten, obwohl ihre Eltern Juden waren.
Ich selbst war im Jüdischen Gymnasium, habe dort meine Matura abgelegt und bin in der Kindheit daher auch oft in die Synagoge gegangen. Nach dem Krieg war ich sehr selten in einer. Ich habe auch nie Kaschrut eingehalten. Das heißt, ich bin im christlichen Sinn nicht religiös. Die Bibel war für mich immer eine der wichtigsten Traditionen und in meinen Büchern beziehe ich mich sehr oft auf die Geschichte der Bibel.

Wie halten Sie es heute mit Karl Marx, hat er noch Bedeutung für Ihr Werk?

Sie wissen, ich bin durch Georg Lukács zur Philosophie gekommen. Und er war Marxist. So bin ich als 18-Jährige, beeinflusst vom hochgeschätzten Lehrer, auch selbst Marxistin geworden. Tatsächlich habe ich erst 1953 als 24-Jährige seine Werke studieren können. Es klingt heute unvorstellbar, aber vor 1953, vor Stalins Tod, konnte man Marx nicht lesen, weil es sich um verbotene Literatur handelte. Es war nur Das Kapital und das Kommunistische Manifest zu bekommen. Man hatte Lenin und Stalin zu lesen. Erst später wurde ich wirkliche Marxistin, weil mich die vorher nicht erhältlichen Texte des jungen Marx so angesprochen haben. Das sind in gewisser Weise messianische Texte, und alle Juden sind ja für so etwas empfänglich. Bei uns Juden glaubt man an den Messias und an eine kommende, wunderbare Zeit. Bei Marx heißt es, dass die Menschen nur schlecht sind, wenn die Gesellschaft so konstruiert ist. Damit eröffnet er die gedankliche Chance auf eine anthropologische Wende. Wenn die Bedingungen sich zum Besseren verändern, wird das auch der Mensch tun. Heute sehe ich diese Ansicht als große Dummheit, aber damals glaubte ich daran. Ich glaubte an eine universelle Entwicklung, an den Fortschritt, das hat mich angesprochen. Als ich aufhörte, daran zu glauben, habe ich den Marxismus hinter mir gelassen. Aber ich bin auch keine Antimarxistin, ich definiere mich überhaupt nicht nur über eine Gegnerschaft zu etwas.

 

Ágnes Heller wurde 1929 in Budapest geboren. Gemeinsam mit ihrer Mutter entging sie nur knapp dem Holocaust. Ihr Vater und viele Verwandte wurden ermordet. Die junge Studentin der Physik und Chemie wechselte das Fach, als sie in einer Vorlesung Georg Lukács kennenlernte. Sie studierte fortan Philosophie, promovierte bei ihrem großen Lehrer und wurde dann auch seine Assistentin an der Budapester Universität. Wegen der politischen Unterdrückung emigrierte Heller im Jahr 1977 nach Australien, wo sie bis 1983 eine Professur für Soziologie in Melbourne innehatte. 1986 folgte sie Hannah Arendt auf dem Lehrstuhl für Philosophie an der New School for Social Research in New York nach. Seit ihrer Emeritierung lebt Ágnes Heller in Budapest und New York. Aus der Vielzahl an Publikationen sei hier das jüngst auf Deutsch erschienene Werk Die Welt der Vorurteile. Geschichte und Grundlagen für Menschliches und Unmenschliches, Edition Konturen, Wien/Hamburg 2014, erwähnt.

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