Flucht einst und jetzt

VON ROBERTO KALMAR (TEXT UND FOTOS)

Fritz Kalmars Reisepass

Safa und Khadra aus Somalia

1938

Mein Onkel Fritz Kalmar wurde 1911 in Wien geboren. Nach der Matura 1930 im „Wasa-Gymnasium“ entschloss er sich, Rechtswissenschaften zu studieren und promovierte 1935. Nach 13 Monaten der vorgeschriebenen Gerichtspraxis als Schriftführer bekam er eine Anstellung als Rechtsanwaltsanwärter. Die Machtergreifung durch die Nazis im März 1938 setzte seiner juristischen Laufbahn ein jähes Ende. Er war gezwungen, in der Hausverwaltung seines Onkels auszuhelfen. Dort erschien kurz nach dem Novemberpogrom ein norwegischer Reeder, um nach seinen Häusern zu schauen. Er war über die Ereignisse entsetzt und fragte, ob er irgendwie helfen könne. So kam der angehende Rechtsanwalt auf einen norwegischen Frachter.

Der Schwiegervater seines Bruders Ernst, der die Wiener Niederlassung von Warner Brothers leitete, besorgte Visa für Peru. Diese waren aber gefälscht. Es gelang Ernst und seiner Familie dennoch, nach Bolivien weiterzureisen. Dort regierte der deutschstämmige Oberstleutnant Germán Busch Becerra, und der hatte fünf Monate vor dem Novemberpogrom im „Decreto de Libre Inmigración del 9 de junio de 1938“ erklärt, dass Bolivien „offen für alle, die gesund im Körper und im Geiste sind“, sei und betont, „dass alle von diesem Recht Gebrauch machen können, denn in Bolivien dürfen wir nicht Komplizen des Hasses und der Verfolgungen der semitischen Elemente in europäischen Ländern werden.“ Nach und nach kamen Fritz, der jüngste Bruder Heinz – nach einem Jahr auf See – und Mutter Ottilie in La Paz an.

In Bolivien machte 1932 die agrarische und mehrheitlich indigene Bevölkerung der Aymara und Quechua 54,5% der Gesellschaft aus, während 14,6% zur weißen Bevölkerung und 30,9% zu den Mestizen gerechnet wurden. Die erste Zeit war für die Österreicher sehr hart. Sie beherrschten die Sprache nicht und mussten Hilfsarbeiten verrichten, um etwas Geld zu verdienen. Ernst versuchte es in einer Lampenschirmfabrik, Fritz arbeitete als Zimmermaler.

Mit der Zeit fand sich eine österreichische Gemeinde zusammen: Die Kalmars bauten eine Pfadfindergruppe („El cóndor“) auf, Georg (von Eisler) Terramare eine Theatergruppe, und alles zusammen gründeten sie die „Vereinigung der freien Österreicher“, deren Ziel es war, den Österreichern ein Heimatgefühl zu vermitteln und den Bolivianern klarzumachen, dass der (damals nicht existente) Staat Österreich kein Teil Deutschlands ist. Mit dem Geld, das die Theatergruppe einnahm, unterstützte man das Rote Kreuz, und gleich nach dem Krieg schickte man Care-Pakete nach Wien. Nach dem Krieg verließen fast alle Bolivien, wo man sich weder integriert hatte noch Kontakte hatte knüpfen können (wollen?).

2015

Diese Geschichte hat im September begonnen, als in Nickelsdorf die erste große Flüchtlingsgruppe die Grenze erreicht und überquert hat. Übers Wochenende wurde meiner Frau und mir klar, dass der Zeitpunkt gekommen war, etwas zu unternehmen. Die Hotline des Innenministeriums war keine Hilfe, Erfolg hatte ich erst bei der Diakonie, der ich zwei Zimmer bei uns im Haus anbieten konnte.

Nach sechs Tagen kam ein Anruf: Ob wir uns vorstellen könnten, zwei Frauen aus Somalia bei uns aufzunehmen, von denen eine hochschwanger sei. Drei Stunden später habe ich unsere neuen Mitbewohnerinnen in Traiskirchen abgeholt und in unser Dorf in der Nähe Wiens gebracht.

Mir ist es wichtig zu betonen, dass alle Behörden schnell und effektiv gearbeitet haben. Das Landesklinikum Tulln war sofort bereit, die Schwangere zu untersuchen, und die Betreuung der Entbindung war äußerst liebevoll.

Am 21. Oktober wurde ein kleines somalisches Mädchen geboren, und nicht nur unsere Familie freut sich über die drei Gäste. In der Gemeinde erfahren wir viel Unterstützung, Nachbarn und Arbeitskollegen bieten immer wieder ihre Hilfe an oder bringen kleine Geschenke vorbei und wollen am Laufenden gehalten werden.

Wir wissen, wie es ist, wenn man Hilfe braucht und in unserem katholisch- jüdischen und nun auch muslimischen Haushalt können wir dafür sorgen, dass sich alle geborgen fühlen und voneinander lernen. Die Zukunft wird spannend!

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