Es war der Anfang einer sehr

Seit dem 13. November erinnert eine Gedenktafel im Ernst-Happel-Stadion daran, dass hier im November 1939 über tausend Juden interniert und rassekundlich vermessen wurden, bevor sie ins KZ Buchenwald deportiert wurden. NU sprach mit einem, der überlebt hat.
Von Barbara Tóth

Paul Grünberg ist 81 Jahre alt, aber anzusehen ist es ihm nicht. Sein Blick ist klar, seine Stimme fest. Lange wollte er sich gar nicht an die Zeit damals erinnern, erzählt seine Frau. Mittlerweile spricht er öfters darüber. Paul Grünberg hat das KZ Buchenwald überlebt, Auschwitz und den Todesmarsch. Seine gesamte Familie wurde umgebracht. Seine Jugend war schrecklich, sagt er, aber dafür geht es ihm jetzt sehr gut. Vielleicht ist das eine Art Ausgleich für all das Leid, meint er. Die Grünbergs wohnen in einem kleinen Gemeindebau im Grünen am Rande von Wien. Obwohl Paul Grünbergs Leidensweg im Praterstadion begann, ist der Austrianer zeitlebens ein begeisterter Fußballer geblieben. Und seit sie Satellitenfernsehen haben, verfolgt Paul Grünberg auch die internationalen Spiele. Wenn seine Frau es ihm erlaubt. NU: Herr Grünberg, Sie waren am 13. November bei der Enthüllung der Gedenktafel im Ernst-Happel-Stadion als einer von zwei Überlebenden dabei. Wie war das für Sie? Grünberg: Ich war angenehm überrascht. Es hat zwar ein paar Jahrzehnte gedauert, aber es war irgendwie eine – wie soll ich sagen – es war nett. Es war eine Art Genugtuung. NU: Erinnern Sie sich an den Tag, als Sie abgeholt wurden? Grünberg: Die Erinnerungen sind natürlich sehr schlecht und ich habe sie im Laufe der Jahre Gott sei Dank verdaut. Aber vergessen kann man es nicht. Der September damals war der Anfang einer sehr schiachen Zeit. Am 11. September um 6 Uhr in der Früh hat man uns abgeholt. Sie kamen von der Wiener Schutzpolizei, drei Gestapoleute waren auch dabei. Sie steckten uns in ein Steyr-Baby, also so ein kleines Auto, und brachten uns in die Roßauer Kaserne. Dort war das Polizeigefängnis. Man hat uns einen sehr schönen Empfang gemacht. Wir mussten durch die Salzergasse laufen, links und rechts standen SSLeute und haben uns durchgeprügelt. In einem großen Saal mussten wir uns mit dem Gesicht zur Wand aufstellen, mit erhobenen Händen, wurden getreten und geschlagen. Es war furchtbar. Gut, ich kannte es schon, weil ich mit meinem Vater auch schon am 10. September verhaftet wurde. Ich war so ein lungenkrank aussehendes Kind, wirkte ein bisschen schwächlich, obwohl ich gesund war, und deshalb haben sie mich noch einen Tag nach Hause geschickt. NU: Wie alt waren Sie? Grünberg: Ich war sechzehn Jahre alt wie Fritz Kleinmann, der zweite Überlebende, der in Österreich lebt. Wir sind zusammen in die Schule gegangen, wir kennen uns seit dem Kindergarten. Ob sechzehn oder sechzig, das machte damals aber keinen Unterschied. NU: Von der Roßauer Kaserne hat man Sie dann – wie tausend andere Gefangene auch – in das Praterstadion gebracht. Dort blieben Sie knapp drei Wochen. Grünberg: An das Stadion habe ich sehr traurige Erinnerungen. Ich habe dort das letzte Mal meine Mutter und meine Großeltern gesehen. Sie wollten mir einen Wintermantel bringen, ich sah sie durch das Gitter auf und ab gehen. Den Mantel durfte ich nicht nehmen. Niemand meiner Familie hat überlebt. Sie wurden später deportiert und sind umgekommen. Mich haben sie ins KZ Buchenwald gebracht. Sie führten uns zum Westbahnhof und steckten uns in Viehwaggons. Ein Schutzpolizist, ein Wiener, sagte beim Aufladen vor dem Stadion noch zu mir: „Wennst am Westbahnhof bist, dann rennst halt.” Ich habe nicht gewusst, was er meinte, aber als ich am Bahnhof ankam, sah ich, dass sie pro Waggon sechzig Leute hineinprügelten. Er hatte mir offenbar einen Tipp geben wollen. NU: Noch bevor Sie ins KZ deportiert wurden, wurden Sie im Stadion anthropologisch vermessen. Grünberg: Ja, ich habe die Protokolle heute bei mir zu Hause liegen. Ich hätte auch meine Gesichtsmaske zurückbekommen können, aber das wollte ich nicht. Es wurden Gipsabdrücke gemacht, sie haben das Gesicht vermessen, meine Augen, meine Nase, Mund, Ohren. Die haben uns behandelt wie Gegenstände. Wir konnten uns nicht rasieren, wir haben uns nur in diesen kleinen Toiletten waschen können, die heute noch im Stadion sind. Wir haben also alle fürchterlich ausgeschaut. Aber das war alles nicht das ärgste Übel, das Schlimmste kam danach. NU: Sie landeten im KZ Buchenwald und blieben dort bis zum Jahr 1942. Grünberg: Am 3. Oktober 1939 kamen wir nach Buchenwald, ins berüchtigte „kleine Lager”. Das war ein Lager im Lager. Wir hausten in Baracken, bekamen praktisch nichts zu essen. Ich hatte zu dieser Zeit nur mehr 39 Kilo. Die Ruhr brach aus, dann Typhus. Wir siechten dahin, jeden Tag trugen sie die Toten raus. Im großen Lager gab es einen gewissen Doktor Herzog, er war Blockältester und kam aus Wien. Er setzte sich für die Wiener Kinder ein und hat dreißig von uns ins große Lager geholt. Ich war dabei, Fritz Kleinmann und mein Vater. Dort wurden wir aufgepäppelt und in die normale Lagermaschinerie eingegliedert. Das war meine Rettung. Mein Vater ist dann im Juni verstorben – das heißt, verstorben worden. NU: Sie waren somit ganz alleine? Grünberg: Deshalb bin ich im Jahr 1942 mit nach Auschwitz gegangen. Meine Freunde sind für Auschwitz bestimmt worden. Wir wussten zwar, dass dort das Ende ist, aber haben uns gesagt, lieber freiwillig mitgehen als alleine bleiben. Dort blieben wir aber nur einige Tage und sind dann nach Monowitz verlegt worden, dort war eine IGFarben- Fabrik. Da gab es gar nichts, nur Baracken und Stroh. Vor Kriegsende wurde ich dann in ein Kohlenlager versetzt, und dort erlebte ich dann das absolute Ende: den Todesmarsch. Vom 15. Jänner bis Mai im Jahr 1945. Da sind wir gegangen, nur gegangen. Wir haben von Schweinestallfressen gelebt. Wer nicht mehr konnte, wurde erschossen. Täglich wurden wir weniger. Ich hatte das Glück durchzukommen. Fritz Kleinmann war aber nicht mehr dabei, der hatte sich, glaube ich, als SS-Mann verkleidet und ist mit seinem Vater geflohen. NU: Und als die Befreiung kam, waren Sie in … Grünberg: … in der Tschechoslowakei, in Reichenberg. Wir wohnten bei einem ehemaligen 22 Blutordensträger, also einem besonders „verdienstvollen” SS-Schergen. Der benutzte uns als Schutzschild. Wir wussten das zuerst nicht, haben dann aber ein Foto von diesem Mann mit diesem Orden entdeckt. Ich blieb aber nicht lange, mich zog es nach Wien zurück. Mit Lastzügen brachten sie uns dann zurück. Dort habe ich niemand gefunden. Meine ganze Familie war weg. Niemand war mehr da. Ich bin der einzige Überlebende. NU: Waren Sie je wieder im Ernst-Happel- Stadion? Grünberg: Ja sicher, bei Fußballspielen. Ich bin ein leidenschaftlicher Austrianer. Ich hatte seinerzeit nicht einmal ein seltsames Gefühl, wenn ich ins Stadion ging. Ich hatte das ganz verdrängt. Seltsamerweise erinnere ich mich jetzt wieder öfter als früher. Aber wenn ich davon erzähle, glaube ich es selber nicht. Ich kann es irgendwie gar nicht glauben, dass ich das alles erlebt habe.

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