Es ist mir wichtig, unter den Juden vorzukommen

Wir hatten uns viele Jahre nicht gesehen – sicher nicht, seit sie 1988 nach Deutschland gegangen war, und auch vorher sind wir einander nicht oft begegnet. Als sie im Februar 2006 bei einer jüdischen Frauenkonferenz in Berlin vor mir stand, sagte sie „Servus, Helly“ und ich „Hallo, Erica!“ und wir unterhielten uns und alles war ganz einfach, als kennten wir uns schon ewig. Was ja auch stimmt. Da war eine selbstverständliche Nähe, obwohl wir wenig voneinander wissen. Ich wusste mehr über sie als sie über mich, sie hat in ihren Büchern immer auch über sich selbst geschrieben. Jetzt wollte ich sie kennen lernen. Einen Monat später trafen wir uns in Wien.
Von Helene Maimann (Text) und Peter Rigauld (Fotos)

Dass Erica jüdisch ist, fiel mir erst auf, als ich „Aimée & Jaguar“ las, ihren Roman über eine lesbische Liebe in Berlin während des Krieges. Eine Liebe zwischen Lilly „Aimée“ Wust, Hausfrau und Mutter, „arisch“, und Felice „Jaguar“ Schragenheim, 21 Jahre, jüdisch. Sie endete 1944 mit der Verhaftung und Deportation Felices nach Groß Rosen. Das Buch kam 1994 heraus, wurde ein Bestseller und in sechzehn Sprachen übersetzt. Und es wurde verfilmt: ein Spielfilm, mehrere Dokumentarfilme. Ich wusste zwar, dass Erica jüdische Wurzeln hat, sie hat das in einem ihrer frühen Bücher erwähnt – während des Krieges in der Emigration geboren, Halbjüdin aus antizionistischer linksintellektueller Familie, so beschrieb sie es 1983 in „Jenseits der Träume“. Aber das war damals nicht ihr Thema. Ericas Fokus der siebziger und achtziger Jahre war der Feminismus. Die neunziger Jahre waren von ihrer Auseinandersetzung mit dem Judentum geprägt, mit ihrer eigenen Jüdischkeit, der Frage, wie sie zu leben wäre. Und wie Juden und Nichtjuden nach der Schoah miteinander sein können, und was geschieht, wenn sie eine Liebesgeschichte miteinander haben. Das ist ein Thema, das Erica fasziniert. „Die Liebe der Lena Goldnadel“ heißt eines ihrer Bücher. Geschichten von der Liebe im Schatten der Schoah. „Ich habe mir die Nähe zu den Juden hart erarbeitet“ sagt sie und schaut nachdenklich. „Es ist mir wichtig, unter den Juden vorzukommen, von ihnen angenommen zu werden.“ Sie hat sich verändert. Ich erinnere sie als ziemlich strenge und streitbare Feministin, vor der ich mich etwas gefürchtet habe. Sie war eine der Protagonistinnen der autonomen Frauenbewegung in Österreich, redegewandt und unerschrocken, fordernd und prinzipienfest. Sie erschien mir als der verkörperte Anspruch der Frauenbewegung, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, ohne männlichen Zugriff. Heute ist sie sanfter, weicher, ihre Haare sind nicht mehr so rappelkurz wie früher. Ihr Gesicht hat seine scharfen Kanten verloren. Wenn so was überhaupt erlaubt ist angesichts ihrer feministischen Überzeugungen, würde ich sagen: Sie ist weiblicher geworden, runder – und eben: nachdenklich, verletzlich. Das hindert sie nicht, schonungslos mit ihrer eigenen Geschichte umzugehen und mit den Menschen, von denen sie erzählt. Nichts davon ist ihr leicht gefallen. „Ich war ein extrem schüchternes einsames Mädchen. Aufgewachsen in einer Familie, in der es kaum Wärme gab und keinen Körperkontakt. Was Mutterliebe ist, habe ich nicht verstanden und auch nie erfahren. Meine Mutter hat kein frohes Leben gehabt. Sie war eine Jüdin aus Warschau, die sich komplett vom Judentum abgewendet hat. Sie ist in den zwanziger Jahren aus Warschau weggegangen, um dem Antisemitismus zu entgehen, nach Wien gekommen, hat meinen Vater kennen gelernt, und ist mit ihm nach dem „Anschluss“ nach England emigriert. England! Das war das Land, wo sie hätte vielleicht glücklich werden können. Aber mein Vater war ein überzeugter Sozialist, nicht jüdisch, er war hier in Wien daheim, und nach dem Krieg wollte er unbedingt zurück. Also ist sie mitgegangen. Aber ihr ganzes Leben hat sie sich beklagt, in Wien leben zu müssen. Die Österreicher sind Nazis, hat sie gesagt, und in England ist alles besser.“ Erica Fischer, 1943 in England geboren, 1948 mit Eltern und Bruder nach Wien zurückgekehrt, findet hier nicht heim. Wie die Mutter träumt sie von England, der verlorenen Kinderheimat, fühlt sich in Österreich nicht zugehörig. „Der Schock, als mich die Kinder im Hof auf deutsch anreden, und ich kann sie nicht verstehen“, schreibt sie in „Jenseits der Träume“. „Die Einsamkeit als Jugendliche, die die Entwurzelung der Eltern widerspiegelt. Ihre alten Freunde – Künstler, Intellektuelle, Sozialisten und Kommunisten – tot, in der Emigration geblieben, einander entfremdet. Nach dem Krieg konnten die Eltern die Fäden nicht wiederaufnehmen, fanden nicht mehr in die alte Gemeinschaft zurück.“ Über Juden und die Schoah wird im Hause Fischer nicht gesprochen. Jüdische Traditionen gibt die Mutter vor nicht zu kennen. Ihre Kindheit und Jugend in Warschau scheinen spurlos gelöscht. „Das Erziehungsziel meiner Eltern war es, mir und meinem Bruder das Wissen um die Vergangenheit zu ersparen. Wir sollten nicht leiden. Stattdessen feierten wir Weihnachten wie alle Österreicher. Dennoch blieb meine Mutter in Österreich fremd und unglücklich und mit ihr ihre Kinder. Ich habe nie gewusst, wo ich hingehöre. Solange ich mich erinnern kann, habe ich Sehnsucht gehabt. Nach dem englischen Exil, nach einer Zugehörigkeit, die ich nicht näher benennen kann, nach Geborgenheit.“ Erica studiert Dolmetsch, wird Journalistin. Geschützt durch Mikrophon und Schreibblock kann sie ihre Neugier auf das Leben der anderen befriedigen, „weil mein eigenes mir so seltsam unwirklich vorkam. Der Faden der Zeit durchtrennt und ich dazwischen. Ohne Großeltern die Vergangenheit, ohne Kinder die Zukunft.“ Sie ist vom Elternhaus politisiert worden, sie ist bis heute von großer Empathie erfüllt für die Unterdrückten, die zu kurz Gekommenen, an den Rand Gedrängten, Unzugehörigen. Vor allem, wenn es sich dabei um Frauen handelt. Der Kontakt zum Feminismus der frühen siebziger Jahre macht eine Tür weit auf, hinter der sie ihr Unbehagen, ihre Einsamkeit und tragische Spaltung benennen kann: Erica entdeckt das Patriarchat. Sie wird zur überzeugten Feministin. „Erst in den Achtzigern habe ich begriffen, dass das Patriarchat schon an einigem schuld ist, dass ich mich als Frau in dieser Gesellschaft so unwohl fühle, aber dass es nicht ausschließlich dafür verantwortlich ist. Sondern dass das auch sehr viel mit der Ausgrenzung meiner Familie zu tun hat.“ Sie kann auf einmal viel bewegen: Sie wird eine Mitbegründerin der Neuen Frauenbewegung, der Buchhandlung „Frauenzimmer“, der Zeitschrift „AUF“. Sie lernt, vor großen Gruppen zu reden, auch Männergruppen, Beschimpfungen auszuhalten, ihre Stimme zu heben, ihre Argumente zu schärfen. Sie wird forsch und radikal. Sie will eine egalitäre Gesellschaft, in der die Männer weniger maskulin und die Frauen weniger auf ihre Weiblichkeit versessen sind und ökonomisch unabhängig. Sie streitet gegen das Gewaltmonopol, das Männer gegenüber Frauen haben, rechtlich, seelisch, körperlich. Sie kämpft gegen die krasse Ungleichbehandlung am Arbeitsplatz. Es ist eine Erlösung. Endlich etwas tun können gegen Diskriminierung, dagegen, dass sie sich als Frau so behindert fühlt. Die Frauenbewegung wird zu einem Ort, der Heimatgefühle erweckt und die Einsamkeit aufsaugt. Aber das hält nicht lange an, und vor allem: Es genügt nicht. Denn die Liebe und das Verlangen nach Beheimatung sind schwierig und bleiben es. Die Männer sind nicht so, wie man sie haben will, und die Seele ist keine Buchhaltung, die Geben und Nehmen, Wunsch und Realität, Dürfen und Können ausgewo-gen leben kann. Das erfahren viele Frauen, die sich von den Altlasten der Geschlechterordnung befreien wollen. Erica reibt sich auf in ihren Männerbeziehungen, und sie äußert sich darüber in einer fast erschreckenden Offenheit. „Als ich mich von Richard trennte“, schreibt sie in „Jenseits der Träume“, „hielt ich es für das Ende. Zwei Jahre hatte ich gebraucht, um die Trennung zu vollziehen, zwei Jahre hatte ich mit meiner Panik gerungen: Das ist der Letzte. Dieser junge Mann war der Märchenprinz …Als es aus ist, fühle ich mich wie ein Haufen Scheiße. Ich kann niemandem in die Augen schauen, aus Angst, sie würden meine Demütigung erkennen und mich verachten. Eine verlassene Frau, eine nicht mehr junge Frau, von ihrem jugendlichen Liebhaber verlassen. Ein unerfreuliches Bild, abstoßend, peinlich. Ich bin überzeugt, dass mein Liebesleben abgeschlossen ist. Nie wieder wird mich eine Männerhand berühren. Ich bin alt und ausgehöhlt, unattraktiv sowohl körperlich wie geistig. Die Zeit vor mir erfüllt mich mit Entsetzen.“ Zu dieser Zeit war sie Siebenunddreißig! Die Angst vor dem Altwerden fängt früh an und treibt sie bis heute um. Die starken Gefühle des Ausgeliefertseins an einen Mann, dem sie vertraut und dann qualvoll verliert, beschreibt sie rückhaltlos, fast provokant. Das Wort vom „Zusammenbruch“ kommt häufig vor. Der Schmerz ist ein reißendes Tier und wird auch so benannt. „Erica, ich könnte das nie, mich so ausziehen vor aller Augen.“ „Ja, ich weiß, ich bin schamlos. Ich bin ein scheues Reh, aber ein schamloses. Ich habe keine Probleme, über mich zu reden und zu schreiben. Es hilft, meine Ängste zu zivilisieren.“ „Um zu vermitteln: Jetzt weißt du alles von mir, tu mir nicht weh?“ „Genau. Ich finde es legitim, die eigene Biographie auszubeuten. Und ich habe keine Scheu, meine Familie und die Menschen um mich herum herzuzeigen, wenn du willst: zu kompromittieren. Meine Beziehungen waren alle geprägt vom Schweigen. Das breche ich durch mein Schreiben darüber.“ „Lebst du dadurch leichter, wird der Leidensdruck geringer?“ „Ich denke nicht. Ich gehe den Weg, den ich gehen muss, und ich bin auch nicht ganz uneins mit meinem Leben. Aber ich bin alles andere als eine fröhliche Person, ich bin eine Gescheiterte. Ich empfinde mich als tragisch. Nichts, was mir im Leben lieb und wert war, habe ich halten können. Gescheiterte Beziehungen, eine Ehe, die als große Liebe begann und nach sieben Jahren vorbei war. Die Liebe ist mir wichtiger als alle meine Bücher, aber sie ist mir missglückt. Da gibt es nichts zu beschönigen.“ „Deine Texte sind sehr emotional, farbenstark und oft düster.“ „Ja. Aber im gelebten Leben, auch wenn es nicht so läuft, wie ich es mir wünsche, bin ich eher lebenslustig und sinnenfroh. Ich liebe meine Arbeit, ich bin neugierig auf die Menschen, und die Spannung, ein neues Buch anzufangen, gibt mir ein starkes Lebensgefühl. Ich freue mich über schöne Dinge und schöne Menschen und ich genieße den Luxus der Freiheit, mir meine Zeit einzuteilen, wie es mir passt.“ „Und du hast mit „Aimée & Jaguar“ einen Welterfolg gehabt, wer kann das schon von sich sagen?“ „Ja, und ich habe viel mehr erreicht, als ich mir zugetraut habe. Obwohl meine Familie und ich zu denen gehören, auf denen die Schoah wie ein Schatten lastet. Mein Vater ist früh gestorben, meine Mutter hat sich danach zurückgezogen und mit meinem Bruder ein isoliertes Leben geführt. Mein Bruder Peter, hochbegabt, sehr gescheit, war schon als Kind auffällig, hat gelogen, gestohlen, war total lebensuntüchtig und an die Mutter gekettet. Drei Wochen, nachdem sie gestorben ist, hat er sich das Leben genommen. Sie hat gewusst, dass es so kommen wird, und hat nie etwas dagegen unternommen.“ „Gibt es für dich kein Judentum jenseits der Schoah?“ „Ich denke, inzwischen schon, aber es war und ist bei mir schon sehr geprägt von der Verfolgung. Wenn meine Familie nicht verfolgt gewesen wäre, hätte ich ein anderes Leben führen können. Aber ich hätte keinen Zugang zum Judentum gefunden. Und auch keinen Zugang zu meinen Lebensthemen: Das Schicksal von Außenseitern, von Verfolgten, von Unangepassten, von Flüchtlingen. Ich wüsste nicht, worüber ich sonst schreiben sollte.“ 1991, als Erica bereits seit drei Jahren in Deutschland lebt, schlägt der Verlag Kiepenheuer & Witsch ihr vor, die Geschichte von Lilly Wust und Felice Schragenheim zu recherchieren und literarisch zu verarbeiten. Das Buch erscheint drei Jahre später, der Zeitpunkt konnte nicht besser sein. Die Schoah, bisher als randständiges Phänomen der NS-Geschichte wahrgenommen, rückt Mitte der neunziger Jahre in ihr Zentrum. Das Thema beherrscht die deutschen Medien und die gesamte westliche Öffentlichkeit in einer ungeahnten Intensität. Erica lässt sich entlang der Recherche zu „Aimée & Jaguar“ auf das Judentum ein, erlebt sich als angekommen. Legt großen Wert darauf, das auch nach außen zu dokumentieren. Sucht jüdische Freunde – vor allem, als sie von Köln nach Berlin zieht. Leicht fällt es ihr nicht, mit ihrer altneuen Identität unter den Deutschen zu leben, sie hat starke Fremdheitsgefühle, aber das ist sie gewohnt. „Erst in Deutschland habe ich gemerkt, wie viel Jüdisches in die Wiener Kultur eingeflossen ist: der Schmäh, die Ironie, das Wortspiel, die Sprache. Und auch, wie viel Jüdisches trotz aller Verleugnung in meiner Familie war. Wie emotional und heftig es da oft zugegangen ist, trotz aller körperlichen Distanz untereinander. Ich habe erkannt, dass das Judentum auch eine kulturelle Prägung ist und wie stark ich davon beeinflusst worden bin. Bei uns zu Hause sind immer Juden aus- und eingegangen, Freunde der Eltern aus der Emigration, später, 1968, Juden aus Polen, die damals vertrieben worden sind. Ich habe begriffen, dass das Jüdische tief in mir verwurzelt ist, und dass das auch der Grund ist, warum ich mich unter Juden wohl fühle und ihre Nähe suche.“ „Das dürfte aber auch in Berlin nicht einfach sein, einen jüdischen Freundeskreis zu finden, der deiner Herkunft und deinem Lebensgefühl entgegenkommt.“ „So ist es. Als ich Ende der Neunziger einige Zeit in New York war, entdeckte ich die Vielfalt des jüdischen Lebens dort, die ganze Bandbreite, die die drei Millionen Juden dort entwickelt haben. New York ist die Stadt, wo ich ein Leben hätte führen können, das meiner spezifischen Eigenart entspricht.“ In Wien hat Erica Fischer soeben ihr neues Buch über die Zwillingsschwestern Rosl Breuer und Liesl Hahn vorgestellt. Ein widerständiges Schwesternpaar, Jahrgang 1920, kommunistisch, zwei Nonkonformistinnen, eine Wiener Geschichte ganz nach Ericas Neigung. Sie plant jetzt, ihre eigene Familiengeschichte zu schreiben und wird ein mehrmonatiges Stipendium in Krakau dazu nützen, der polnischen, der mütterlichen Seite ihrer Familie nachzugehen. Seit zwei Jahren lernt sie Polnisch. Ein Aufbruch zu neuen Ufern. Aber jetzt steht Pessach vor der Tür, und sie wird, wie in den letzten Jahren, bei sich zu Hause einen Seder halten, der sicher nicht den Vorschriften der Halacha entspricht. Aber deswegen nicht weniger jüdisch, findet sie. Einige Bücher von Erica Fischer „Das Wichtigste ist, sich selber treu zu bleiben. Die Geschichte der Zwillingsschwestern Rosl und Liesl.“ Ueberreuter, Wien 2005 Gemeinsam mit Simone Ladwig-Winters: „Die Wertheims. Geschichte einer Familie.“ Rowohlt Berlin, Berlin 2004 „Aimée & Jaguar. Eine Liebesgeschichte, Berlin 1943.“ Kiepenheuer & Witsch, Köln 1994, 2002, 2005 „Das kurze Leben der Jüdin Felice Schragenheim. ‚Jaguar‘ Berlin 1922 – Bergen-Belsen 1945.“ dtv, München 2002 „Die Liebe der Lena Goldnadel. Jüdische Geschichten.“ Rowohlt Berlin, Berlin 2000, rororo, Reinbek 2001 Siehe auch: www.erica-fischer.de Dr. Helene Maimannist Historikerin, Autorin und Filmemacherin. Sie hat sich entlang vieler Medien (Bücher, Artikel, Radio, Fernsehen) mit österreichischer Zeitgeschichte auseinander gesetzt und arbeitet meist biographisch. Helene Maimann leitet im ORF die wöchentliche Sendung „DOKUmente“.

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