Es ist die Kraft des Optimismus

Michael J. Reinprecht im Gespräch mit Uri „Buri“ Jeremias. Photo: JACK GUEZ / AFP

Uri „Buri“ Jeremias führt nicht nur das beste Fischrestaurant von Akko, sondern ist auch ein großer Humanist. Im Lokal des Spitzenkochs arbeiten wie selbstverständlich jüdische, arabische, christliche und muslimische Israelis zusammen.

Von Michael J. Reinprecht

Es ist Mitte April. Pessach steht vor der Tür, Ostern ist nicht weit. Seit ein paar Tagen begleiten Terroranschläge den Beginn des Ramadan und wecken Erinnerungen an die vorjährige Eskalation der Gewalt in den gemischt besiedelten Städten Israels, die schließlich im Gaza-Krieg gipfelte. Ich sitze im besten Fischrestaurant Israels bei Uri „Buri“ Jeremias in der alten Kreuzfahrerstadt Akko. Der Himmel ist klar, aber ein kühler Wind treibt Schaumkronen auf die Wellen, als wollten sie der angespannten Lage im Lande ein Abbild geben.

NU: Ich komme gerade von einem Spaziergang durch die Altstadt und den Hafen. Es ist sehr ruhig, wenige Leute sind unterwegs, in den Cafés sieht man kaum Touristen. Ist das noch die Nachwirkung der Pandemie?

Uri Jeremias: Das hat verschiedene Gründe, aber natürlich spielt die Pandemie noch immer eine Rolle. Wir kehren erst jetzt langsam zur Normalität zurück. Und es ist derzeit Ramadan. Da sind traditionell weniger Menschen auf der Straße.

Hatten Sie während der Pandemie das Restaurant geschlossen?

Wir hatten sechs Monate lang zu. Um mein Team nicht zu verlieren, habe ich entschieden, dass wir für fünfzig alleinstehende, arme, teils alte Leute in Akko kochen und das Essen verteilen. Die Liste der Leute hatten wir von der Stadtverwaltung, die auch die Versicherung meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bezahlt hat. Und die waren glücklich, eine Aufgabe zu haben. Als wieder aufgesperrt wurde, haben andere Restaurants und Hotels kaum Personal gefunden, aber weil mein Team geblieben war, konnten wir gleich wieder durchstarten.

Hat es staatliche Hilfe gegeben?

Sowohl für die Angestellten als auch für das Unternehmen. Für die einen zu viel, weil sie es nicht ausgeben konnten, für mich als Unternehmer zu wenig. Es hat gerade ausgereicht, um den Kopf über Wasser zu halten. Sonst hat es nichts gedeckt, gar nichts.

Wie viele Leute haben Sie hier?

Insgesamt 64. Im Restaurant und im Hotel. Alle verschiedenen Religionen arbeiten bei uns: Juden, Christen, Moslems.

Es gibt wieder Terroranschläge, etwa in Tel Aviv, wo ein Palästinenser auf Gäste eines Cafés geschossen, drei getötet und Dutzende verletzt hat. Auch rund um den Tempelberg in Jerusalem ist während des Ramadan die Spannung gestiegen. Haben Sie Angst, dass es wieder zu Ausschreitungen kommt wie im vorigen Mai, als auch auf Ihr Restaurant Brandanschläge verübt wurden?

Ich bin kein Prophet, aber ich glaube nicht, dass es hier wieder beginnt.

Sie sehen aber aus wie einer mit Ihrem langen Bart.

Ein Bart macht noch keinen Propheten. Aber im Ernst: Anstatt Angst zu haben, muss man danach trachten, dass es nicht wieder passiert. Und das erste, was man machen muss, ist zu lernen, was damals passiert ist. Die Leute erzählen Geschichten, wollen nicht der Wahrheit in die Augen schauen. Und nicht die richtigen Konsequenzen ziehen. Dann kommen sie auf Lösungen, die nichts bringen. Ich bemühe mich zu verstehen, was damals passiert ist, um zu vermeiden, dass es sich wiederholt.

Das heißt?

Wir hatten voriges Jahr, ein paar Tage vor den Unruhen, eine große Bürgerversammlung. Der Imam der großen Moschee hatte zum Iftar-Essen (Fastenbrechen) eingeladen. 400 Leute waren da, alle Honoratioren der Stadt, darunter der Rabbi, die jüdischen und christlichen Würdenträger, der Bürgermeister, der Polizeichef. Auch Bahai aus Haifa und Drusen aus dem Norden. Das harmonische Zusammenleben wurde beschworen, das wir hier haben. Genau eine Woche später, am 11. Mai, kam es zu den Unruhen. Auch mein Restaurant und das Hotel wurden angegriffen. Und dann war die Frage: „Wie ist das möglich?“ Es waren ja bei dem großen Iftar-Essen am Hauptplatz alle da, die Intelligenzija, die Würdenträger – wie konnte dies also passieren? Man sieht die einfachen Leute nicht, man versteht sie nicht, man weiß nicht, welche Probleme sie haben. Wir haben in Wahrheit keinen Einfluss auf sie.

Wer sind die sogenannten „einfachen“ Leute?
Oft sind es sehr junge Leute, die nicht in die Schule oder in die Arbeit gehen. Sie sind hier auf den Straßen, manche nehmen Drogen, einige sind kriminell. Aber wenn sie in meiner Küche arbeiten, dann sind das tolle Köche. Als ich jung war, gab es einen Fußballklub. Wir lernten Instrumente spielen. Heute? Hat der Heranwachsende TikTok, Smartphone und Fake News. Da braucht es nur wenig, um eine Katastrophe auszulösen – und zehntausende Idealisten sind machtlos.

Sie haben jüdische, arabische, christliche und muslimische Israelis angestellt. Wie gestaltet sich unter diesen Vorzeichen die Zusammenarbeit?

Unser Mikrokosmos funktioniert. Wir haben auch Russen, wir haben Ukrainer. Schauen Sie sich um, man hört Lachen, aber keine Schreierei, keine Musik. Ich liebe Musik, aber nicht hier in dieser Kakophonie.

Viele zivilgesellschaftliche Organisationen bemühen sich um ein friedliches Miteinander in Israel. Das sind lauter Aktivitäten im Kleinen, aber wie ist eine Lösung der Konflikte im Großen zu erreichen?

Ich bin jetzt bald 78 Jahre alt. In meinem Verständnis gibt es keinen Weg außer einem friedlichen Zusammenleben, um eine bessere Zukunft für unsere Kinder zu erreichen. Man muss den Anderen annehmen wie er ist. Ich habe schon viele kluge Menschen getroffen, aber niemand kannte eine andere Lösung als diese. Darum bleibe ich dabei.

Was gibt Ihnen die Kraft?

Es ist die Kraft des Optimismus. Der Glaube an das Gute, dass das Richtige gewinnt. Außerdem glaube ich an das Leben. Wenn Sie verstehen wollen, wie ich denke: Ich lebe immer so, als würde ich noch hundert Jahre da sein. Es geht darum weiterzugehen, der Weg ist entscheidend, nicht das Ziel. So habe ich zum Beispiel erst voriges Jahr mit Kollegen der Universität Haifa ein Start-up gegründet, ein Food-Tech-Unternehmen, das Proteine aus pflanzlichen Stoffen herstellt. Das wird die Küche von morgen revolutionieren. Außerdem betreibe ich noch Forschungen zu byzantinischem Essen, also quasi der Vorform der „mediterranen“ Küche.

Wollen Sie nicht das, was Sie im „kleinen Kosmos“ machen, in einem größeren Wirkungskreis gestalten? Warum gehen Sie nicht in die Politik?
Politik ist nicht mein Ding. Die Leute sind dann Diener einer Partei. Ich will mich nicht hinter einer Mauer verstecken, ich will meine Freiheit und Unabhängigkeit behalten.

Die Menschen sind eben nicht alle gleich …

Richtig, und das ist gut so, das ist schön. Es geht um Respekt, Achtung. Wenn eine Gruppe der anderen etwas aufzwingen möchte, ist das nicht nur politisch unkorrekt. Es ist rassistisch. Wenn ich sage, dass ich in meinem Restaurant keine Araber beschäftigen will, ist das rassistisch. Aber wenn ich sage, dass die Araber besser mit Olivenöl arbeiten, weil sie das kennen, und die Russen, die bei mir arbeiten, nichts davon verstehen, dann ist das nicht rassistisch. Genauso werde ich nicht den Araber fragen, ob er sich mit Wodka auskennt, da er als Moslem nicht Alkohol trinken darf. Das ist vielleicht politisch unkorrekt, aber nicht rassistisch.

Es geht Ihnen also um Koexistenz?

Nein, es geht um mehr. Koexistenz, würde ich sagen, funktioniert zwischen zwei Individuen. Als Gruppe brauchen wir ein gutes Zusammenleben. Und das haben wir. Es ist irgendwie ganz normal. Nicht normal ist, dass die sehr kleinen Gruppen der Radikalen auf beiden Seiten so viel Aufmerksamkeit bekommen. Das ist der Schwanz, der mit dem Hund wedelt. Fünf Prozent Radikale auf beiden Seiten beherrschen das Bild in der Öffentlichkeit. Sie bekommen die Aufmerksamkeit.

Wir haben dieses Gespräch auf Deutsch geführt. Woher kommt es, dass Sie so gut Deutsch sprechen?

Vom Reisen. Ich habe vom Leben gelernt. Und als ich ein Kind war, lebte eine Tante meiner Mutter, die das KZ überlebt hatte, ein paar Jahre bei uns. Ich erinnere mich, dass sie mir Das doppelte Lottchen vorgelesen hat.

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