„Es geht darum, die Leute nach Wien zurückzubringen“

Seit 1989 besuchten rund 3.000 vertriebene Wiener Jüdinnen und Juden auf Einladung des Jewish Welcome Service ihre Heimatstadt. NU sprach mit der Generalsekretärin Susanne Trauneck über ihre Arbeit mit Leon Zelman, die Zukunft der Organisation und den heuer erstmals verliehenen Leon-Zelman-Preis.
Von David Rennert

„Ich habe mein Leben darauf konzentriert, der Welt zu zeigen, dass hier eine kosmopolitische Situation entstehen kann, wozu die Möglichkeit der Entfaltung einer jüdischen Gemeinde gehört“, schrieb Leon Zelman (1928–2007) in seiner 1995 erschienen Autobiographie Ein Leben nach dem Überleben (Aufgezeichnet von Armin Thurnher. Kremayr & Scheriau, Wien 1995). Mit „hier“ meinte er das Wien nach der Shoah, dessen einstmals blühende Jüdische Gemeinde nach Kriegsende gerade einmal wenige hundert Mitglieder zählte.

Zelman, geboren 1928 im polnischen Szczekociny, hatte selbst die Schrecken der Naziherrschaft erlebt – und als einziger in seiner Familie überlebt. Im Alter von zwölf Jahren wurde er mit seiner Familie in das Ghetto Łód´z deportiert, 1944 kam er zusammen mit seinem jüngeren Bruder nach Auschwitz. Nur Leon überlebte. Er wurde weiter in die KZ Groß-Rosen, Mauthausen und Ebensee deportiert, wo ihn 1945 die US-Army befreite. Nach längeren Krankenhausaufenthalten kam Zelman 1946 schließlich nach Wien – in jene Stadt, die fortan Mittelpunkt seines Lebens und Wirkens werden sollte.

Gesten der Versöhnung
Betrachtet man das Lebenswerk des Publizisten und Gründers des Jewish Welcome Service Vienna (JWSV), erscheint sein Einsatz für den Dialog zwischen Österreich und den Opfern der NS-Verfolgung wie ein roter Faden: Als Funktionär der Jüdischen Hochschülerschaft und Mitbegründer der Zeitschrift Das Jüdische Echo thematisierte er den Umgang der jungen Zweiten Republik mit Opfern und Vertriebenen der Shoah – lange bevor das offizielle Österreich zur Mitschuld an den Verbrechen Stellung nahm. Seit den 1960er-Jahren im damals staatlichen Österreichischen Verkehrsbüro mit dem Aufbau des Israel-Tourismus beschäftigt, erkannte er bald das Interesse vertriebener Wienerinnen und Wiener an ihrer einstigen Heimatstadt – und die damit verbundenen Vorbehalte, Ängste und emotionalen wie finanziellen Schwierigkeiten.

Zelmans Idee, eine Versöhnung zwischen der Stadt und den vertriebenen Jüdinnen und Juden zu fördern, führte 1980 mit Unterstützung des damaligen Wiener Bürgermeisters Leopold Gratz zur Gründung des JWSV. Seit 1989 lädt die Organisation, deren langjähriger Leiter Zelman war, Vertriebene und deren Nachkommen aus aller Welt nach Wien ein. Rund 3.000 ehemalige Wienerinnen und Wiener folgten dieser Einladung bisher.

„Verdrängen, um hier leben zu können“
„Die Arbeit hatte für Leon Zelman, glaube ich, eine Art therapeutischen Effekt“, erzählt Susanne Trauneck, Generalsekretärin des JWSV. „Er war, wie viele andere auch, immer getrieben von Schuldgefühlen, die Shoah überlebt zu haben. Es ging ihm sicher einerseits um die Begegnung mit anderen Überlebenden, aber natürlich auch darum, zu zeigen, dass man hier in dieser Stadt – in Wien – als Jude wieder leben kann, es wieder jüdisches Leben gibt. Gleichzeitig musste er aber natürlich vieles verdrängen, um tatsächlich hier leben zu können.“

Trauneck arbeitet seit 1996 beim JWSV, bis zu dessen Tod 2007 an Zelmans Seite. „Die Arbeit mit ihm war niemals fad, oft zwischen Lachen und Weinen. Er war, obwohl er immer seine Lebensgeschichte mit sich herumgetragen hat, auch ein sehr witziger, oft lustiger Mensch“, erinnert sie sich im Gespräch mit NU.

Späte Spurensuche
„Es geht mir darum, die kleinen Leute, die vielleicht gar nicht das Geld für eine Reise hatten, nach Wien zurückzubringen“, liest man in Zelmans Biographie. Die zweite und dritte Generation war dabei von Anfang an mit einbezogen. „Viele kommen mit ihren Kindern und Enkelkindern, und diese gemeinsame Erfahrung, die gemeinsame Spurensuche ist für die Familien immens wichtig“, sagt Trauneck. „Oft entscheiden sich Leute ja erst sehr spät zu so einer Reise. Und natürlich ist es so, je älter die Menschen werden, desto weniger können kommen. Heute ist gerade das Interesse sogenannter ‚Child Survivors‘ groß, aber auch jener Personen, die während der Flucht oder im Exil geboren sind.“

Das JWSV organisiert die Wienreisen für jeweils eine Woche und bietet den Gästen ein strukturiertes Rahmenprogramm an. Am ersten Abend gibt es ein gemeinsames Welcome Dinner, wo oft besonders viele Erinnerungen und Emotionen hochkommen. Das Zusammentreffen mit anderen Menschen mit ähnlichen Lebensgeschichten sei für die Betroffenen sehr wichtig, erzählt Trauneck. Im Lauf der Woche stehen dann einige offizielle Termine auf dem Programm: Tradition haben mittlerweile die „Wiener Jause“ im Rathaus, ein Besuch beim Bundespräsidenten und manchmal auch im Bundeskanzleramt. Die offizielle Wahrnehmung sei auch für die Nachkommen der Vertriebenen sehr wichtig, gerade für die zweite Generation, die dem Land Österreich und dessen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit oft besonders kritisch gegenüberstehen würden, so die Generalsekretärin.

Zeitzeugengespräche
Neben einem touristischen und kulturellen Programm sind auch Informationsveranstaltungen in Zusammenarbeit mit dem psychosozialen Zentrum ESRA ein Fixpunkt. Dabei wird den Gästen Hilfe und Beratung in sozialrechtlicher Hinsicht, aber auch bezüglich der Wiedererlangung der österreichischen Staatsbürgerschaft angeboten. Letzteres sei in den vergangen Jahren auch zunehmend für die Nachkommen Überlebender ein wichtiges Thema geworden.

Viele Leute hätten über das Programm hinaus Pläne für ihren Aufenthalt. „Wir bekommen oft schon im Vorfeld Anfragen von Familien, die in Wien Spuren ihrer Vergangenheit suchen wollen. Manche Überlebenden möchten auch als Zeitzeugen in Schulen sprechen, ihre Erfahrungen als jüdische Schüler in der NS-Zeit den Kindern in Wiener Schulen mitteilen“, erzählt Trauneck.

Dass die – seit der Vertreibung oftmals erste – Reise nach Wien für Überlebende eine psychische Ausnahmesituation darstellt, ist wenig überraschend. Auch in dieser Hinsicht ist die Einbindung der ESRA für Trauneck unverzichtbar. Auch die gemeinsame Erfahrung in der Gruppe und mit der Familie sei aus psychologischer Sicht sehr wichtig. „So schmerzhaft die Reise in die Vergangenheit auch sein kann, ist sie für Betroffene oft auch eine Form von Therapie“, so Trauneck.

Neue Projekte
Auch junge jüdische Menschen entwickeln zunehmend Interesse an Reisen nach Wien. Seit einigen Jahren kooperiert der JWSV mit der jüdischen Studentenorganisation Hillel Canada und dem American Jewish Committee. In Zusammenarbeit mit diesen Organisationen werden Projekte in Form von Studienreisen organisiert, einen Teil der Kosten übernehmen die Kooperationspartner. Manche der Teilnehmer an diesen Projekten haben Wurzeln in Wien, andere einfach persönliches oder professionelles Interesse an Österreich. Auch die Arbeit der österreichischen Trägervereine für Auslandszivildienst, des Vereins Gedenkdienst und des Vereins Österreichischer Auslandsdienst, spielt für die Organisation dieser Reisen eine wichtige Rolle. Projekte dieser Art sollen in den nächsten Jahren ausgebaut werden: „Das ist sicherlich ein Teil unserer Zukunft, wir sehen, dass Interesse da ist“, sagt Trauneck.

Leon-Zelman-Preis für den Verein Gedenkdienst
Für seine Arbeit im Gedenken an die Opfer der Shoah und sein Engagement gegen Rassismus und Antisemitismus erhielt der Verein Gedenkdienst im Juni dieses Jahres übrigens den ersten Leon-Zelman-Preis. Auf Anregung des Wiener Stadtrates für Kultur und Wissenschaft, Andreas Mailath-Pokorny, soll die mit 5.000 Euro dotierte Auszeichnung im Gedenken an Leon Zelman und sein langjähriges Wirken fortan jährlich verliehen werden. „Der Preis wird an Organisationen und Institutionen vergeben, die sich aktiv für die Erinnerung an die Shoah, aber auch den Dialog zwischen Österreich und den Opfern der NS-Verfolgung und deren Nachkommen einsetzen“, erklärt Trauneck.

In ihrer Laudatio zur Preisverleihung betonte die Historikerin Heidemarie Uhl die Rolle der Gedenkdiener als Botschafter eines neuen Österreich: „Das Engagement für die Überlebenden des Holocaust, für die Bewahrung ihrer Erfahrungsgeschichte und für die Vermittlung und Weitergabe an die nächste Generation verbindet die österreichischen Gedenkdiener mit dem Lebenswerk von Leon Zelman.“

Susanne Trauneck bereitet indes die Ankunft der nächsten Gruppe vertriebener Wienerinnen und Wiener vor, die in der zweiten Oktoberwoche unter anderem aus Israel, Australien, den USA und England anreisen werden. Eine Dame, die 1939 mit dem Kindertransport nach England flüchtete, hat bereits angemeldet, Kindern ihre Geschichte erzählen zu wollen. In ein paar Jahren wird es keine Zeitzeugengespräche mit Überlebenden der Shoah mehr geben können, sagt Trauneck. „Aber es gibt noch viele, die unbedingt kommen wollen, und so lange wir finanzielle Mittel haben, werden wir sie auch einladen.“

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