Erinnerungen an eine versunkene Welt

Ein neues Buch lässt jene österreichischen Juden wieder lebendig werden, die vor Hitler nach New York geflüchtet waren und sich im „Österreicherviertel“ im Norden Manhattans niederließen. Sie alle hatten den Neuanfang in der Neuen Welt geschafft – doch keinen ließ die alte Heimat los.
Von Petra Stuiber

Es muss ein ganz eigenartiges Gefühl gewesen sein, als Wiener in den 40er Jahren durch Washington Heights, den nördlichsten Teil von Manhattan, zu spazieren. Denn zwischen Columbus Circle auf der 59th Street und der 110th Street, besonders aber in der Gegend rund um die 72. Straße, konnte man zwischen den typischen New Yorker Häuserfassaden, eisernen Feuerleitern und den typischen Deli’s seltsam Vertrautes sehen und hören: Das Englisch der hier Ansässigen hatte nichts Amerikanisches, sondern diesen seltsam weichen, österreichischen Klang. Die Lokale in der Umgebung kündeten davon, dass eine vertriebene Kultur hier herübergerettet worden waren: etwa das „Café Geiger“, „Old Vienna“, aber auch die „Kleine Konditorei“ in der 86th Street, die eigentlich schon zum „Deutschenviertel“ Yorkville gehörte. 135.000 deutschsprachige Menschen, vor allem Juden und „Politische“, bekamen Zuflucht in den USA – rund 60.000 siedelten sich allein im Norden Manhattans, in der Gegend von Washington Heights, an. Während deutsche Juden „ihren“ Stadtteil in zynischer Reminiszenz an das Land, das sie nicht mehr wollte, „the Fourth Reich“ nannten, pflegten die Österreicher die feine Unterscheidung: Sie nannten die Straßenzüge, in denen sie sich angesiedelt hatten, lieber „Zweite Republik“. Das war, während die Nazis drüben in Europa gerade ihren Vernichtungsfeldzug führten, ebenso vermessen wie hellsichtig.

Rund um das „Café Vienna“ (später „Vienna Café“, 50 West, 77th Street), das bis zu 250 Personen fasste, formierte sich das (vertriebene) Zentrum der Wiener Kleinkunstszene. Jimmy Berg und der Geiger Fred Fassler schufen hier sogar ein eigenes Genre: die „Short Operetta“, die sich als „musical nonsense“ und Parodie auf die Operette verstand. Im Sommer 1941 eröffnete George Eberhardt in der 79. Straße, 323 East, das „Eberhardt’s Café Grinzing“, das mitunter wegen Überfüllung geschlossen werden musste, wenn Hermann Leopoldi mit seinen Schlagern, etwa den „Novaks aus Prag“, auftrat. Im „Wiener Fiaker“ wiederum (223 West, 80th Street) sang Fritz Spielmann am Eröffnungsabend das Lied „Es hat ein Wiener Fiaker am Broadway seinen Stand“. Darin lag alles, was den Sänger und das Publikum verband: die bittersüße Erinnerung an „daheim“ in Wien, die Verzweiflung über die Vertreibung und die Unmöglichkeit zurückzukehren – und der Mut, hier, in dieser gigantischen Stadt, in diesem gigantischen Land neu zu beginnen. Fast alle haben in den USA tatsächlich so etwas wie ein neues Zuhause gefunden. Die meisten sind geblieben – das Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes schätzt die Zahl der Remigranten aus Amerika mit 15 bis 20 Prozent ein.

1988, 50 Jahre nach dem „Anschluss“, machten sich zwei Journalisten aus Wien auf den Weg nach New York, um diejenigen zu treffen, die wohl am meisten zu sagen hatten zu Fragen wie jener nach der Schuld der Österreicher, kollektivem „Vergessen“, Verdrängen und Verleugnen derer, die man vertrieben hatte. Österreich steckte noch immer mitten in der „Waldheim-Debatte“, die Wogen und die Aggressionen gingen hoch, das Land plagte sich ab mit seiner Vergangenheit. Gerhard Jelinek und Andreas Weber (damals beide „Wochenpresse“, heute ORF und „Format“), trafen zwanzig jener ehemaligen Österreicher, die damals, in den 40er Jahren, über abenteuerliche Um- und gefährliche Fluchtwege nach Washington Heights gekommen waren. Die wenigsten wohnten noch dort, das Österreicher-Viertel gibt es nicht mehr. Doch die Erinnerung lebte. Jelinek und Weber sprachen lange mit den ehemaligen Österreichern, etwa dem Sohn von Käthe Leichter, Franz – oder mit Richard Berczeller, dem Arzt und Mitglied der „Revolutionären Sozialisten“, dem Anna Freud und die Prinzessin Marie Bonaparte das Visum nach Frankreich besorgten und ihm damit das Leben retteten. Die beiden Journalisten verfassten aus den Gesprächen drei lange Artikel für die „Wochenpresse“. Zurück blieb offenbar das Gefühl, dem Erlebten dennoch nicht gerecht geworden zu sein: Gerhard Jelinek gab die damals geführten Interviews, immerhin 60 Stunden Tonmaterial, nun unter dem Titel „Nachrichten aus dem 4. Reich“ heraus (ecowin-Verlag GmbH, Salzburg, 2008, 211 Seiten).

Die „Netrebko der 30er Jahre“, Marta (Martha) Eggerth, findet sich mit ihren Erinnerungen im Buch wieder. Die gebürtige ungarische Opernsängerin war mit dem Willi-Forst-Film „Leise flehen meine Lieder“ zum Star geworden. 1936 heiratete sie den polnischen Operntenor Jan Kiepura, die beiden ließen sich in Wien nieder. Die beiden waren das Traumpaar des österreichischen Musikfilms, wenn sie in der Staatsoper gemeinsam auftraten, drängten sich Tausende, um wenigstens einen Blick auf die beiden zu erhaschen. Das Paar schaffte es via Paris ins Exil – Kiepura hatte ein Engagement an der Metropolitan Opera in New York in der Tasche, die beiden wurden von Kiepuras Sekretär Marcel Prawy begleitet. Zwischen 1944 und 1946 traten Eggerth und Kiepura bis zu acht Mal pro Woche am Broadway in der Léhar-Operette „Die lustige Witwe“ auf. Marta Eggerth erinnerte sich an Wien als „unsere künstlerische Heimat, absolut“: „Wien war immer ein Lieblingskind in meinem Herzen.“ Das Weggehen aus Wien habe ihr sehr weh getan, doch „die Liebe kann man nicht ausradieren“. Dennoch habe sie nie daran gedacht, nach Wien zurückzukommen: „Das ist wie mit Bäumen. Sie können Bäume nicht versetzen, wenn sie Wurzeln geschlagen haben. Wir haben uns hier in Amerika fest verwurzelt und ein neues Zuhause gefunden.“

Der gelernte Typograph Robert Haas wiederum meinte: „Ich muss sagen, ich habe immer Glück gehabt.“ Das ist wohl ziemlich relativ zu sehen. Zum „Glück“ zählte wohl, dass er im Wien der 20er und 30er Jahre bereits ein gefragter Grafiker und Fotograf war. Er kannte vom Bundespräsidenten Michael Hainisch abwärts alles, was in der damaligen Politik Rang und Namen hatte, war in der Künstler-Bohème zuhaus – etwa befreundet mit dem Architekten Clemens Holzmeister, und er hatte wohl gute Chancen bei den Wiener Damen. Weniger „Glück“ hatte er wohl durch die simple Tatsache, als Jude geboren worden zu sein. Deswegen zahlte ihm die Wiener Nazi- Landesregierung seinen größten Auftrag nicht: Er hatte die Namen der burgenländischen Opfer des Ersten Weltkriegs aufgelistet, das Dokument sollte im Heldentor am Wiener Burgring aufbewahrt werden. Geld sah er nie dafür. Stattdessen wurde er mehrfach denunziert, nur mühsam konnte er zu Pass und Visum kommen. Mit seinen Bildern, Porträts der „Neuen Welt“, wurde er auch in New York berühmt. Im Interview zeigte sich Haas nicht sentimental, was die „Alte Welt“ betraf. Doch in seinem Haus in Valhalla, einer schon recht ländlichbeschaulichen Siedlung im Norden Manhattans, bewahrte er bis zu seinem Tod 1997 seine „Schätze“ von damals auf: Fotos aus dem Österreich der Zwischenkriegszeit, Zeitschriften, Bildbände und Proben seiner Arbeit als Kalligraf.

Jelinek und Weber trafen auch die kleine, quirlige Steffy Browne, in Wien als Martha Stephanie Braun, geboren. Die studierte Nationalökonomin nahm ab 1925 mit zwei Dutzend anderen Studenten, Dozenten und Professoren regelmäßig am „Privatseminar“ von Ludwig Mises teil. Die Veranstaltung in der Handelskammer war legendär und gilt als Beginn der „Österreichischen Schule der Nationalökonomie“. Browne und ihr Mann gingen nach der „Kristallnacht“ weg. Sie erzählt, wie sie ihre Landsleute plötzlich erlebte: „Man muss wissen, dass die Leute einfach feig waren. Sie haben das Hakenkreuz getragen, ob sie daran glaubten oder nicht. Sie haben gehofft: ,Da kann mir nichts passieren.‘“ „Ganz ruhig“ seien sie aus Wien weggegangen, mit einer der ersten „Kapitalfluchtnummern“. Der Komponist Fritz (Fred) Spielmann, 1906 in Wien geboren, schenkte seiner Heimatstadt Kostbarkeiten wie den Schlager „Warum spielt in den Schinkenfleckerln ollaweil das Fleisch Versteckerln?“ (1936).

Gefeiert wurde er dafür, vertrieben wurde er trotzdem. Spielmann konnte sich nach Amerika retten, viele seiner Freunde und Kollegen, etwa der Musikverleger Bernhard Herzmansky oder der Textdichter Fritz Löhner-Beda, Autor von „Land des Lächelns“, kamen ins KZ. Durch Künstlerfreunde gelangte Spielmann über Frankreich und Kuba zu einem der begehrten „Affidavits“ für Amerika, der Quasi- Bürgschaft eines bereits in den USA lebenden Bürgers – unbedingte Voraussetzung für einen Neustart in der „Neuen Welt“. Durch sein handwerkliches Talent und seine Anpassungsfähigkeit an das US-Musikbusiness brachte es Spielmann zum gefragten Film- und TV-Komponisten. Als er, vom Semmering kommend, den Einmarsch Hitlers miterleben musste, konnte er es nicht fassen: „Das war, als ob einer sagt, ,Dein Vater ist gestorben‘.“ Die Bösartigkeit von Wiener Nazis habe die schlimmsten Befürchtungen übertroffen. Spielmann erinnerte sich: „Ich habe einige jüdische Bekannte gehabt, die sind nach Berlin gegangen, weil es in Wien so arg war.“

„Nachrichten aus dem 4. Reich“ lebt davon, dass die Interviewten in Ich-Form erzählen. Das lässt das Altwienerische in ihrer Sprache zur Geltung kommen, das die meisten bis ins hohe Alter immer noch nicht vergessen haben. Mit Wien, mit der alten Heimat, waren die wenigsten wirklich im Reinen. Die Stadt wurde für viele so etwas wie die untreue Geliebte, die man doch nicht vergessen kann. Was auffällt, ist, dass alle Emigranten immer vom „Weggehen“ sprachen – nicht etwa von „Flucht“ oder „Vertreibung“. Gerhard Jelinek interpretiert dieses Phänomen so: „Ich deute es so: Das Aktiv triumphiert über die Leidensform.“

Eigentlich unnötig, dass Jelinek in seinem Vorwort selbst erwähnt hat, dies sei „ein Buch der verpassten Gelegenheiten“. Wer die Erzählungen der nach New York emigrierten Österreicher liest, versteht umso weniger, warum sich so viele in Österreich so wenig darum bemüht haben, diese Menschen zurück in ihre alte Heimat zu bitten. Fritz Spielmann gestand Jelinek und Weber: „Es zieht mich immer wieder nach Wien – aber die Menschen haben nichts gelernt.“

Gerhard Jelinek, Das vierte Reich.
Mit einem Vorwort von Peter Marboe und zahlreichen farbigen Abbildungen, 216 Seiten
ecowin Verlag
EUR 22,50
ISBN 978-3-902404-64-0

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