Erfolgreich im Gedenkbusiness

Seit Jahren veranstaltet die Initiative „A Letter to the Stars“ publikumswirksame Veranstaltungen zu Themen der NS-Zeit. Sichtbares Gedenken oder Spektakel?
Von Lukas Wieselberg (Text) und Verena Melgarejo (Fotos)

Anfang Mai in Wien, es ist frühsommerlich warm. Ein heftiger Wind weht auf der Wiener Ringstraße, rüttelt an den Fahnen, die zwischen Heldenplatz und Burgtheater aufgespannt sind. Aus der Allee, in der wie immer Radfahrer flitzen und Touristen staunen, wurde für eine Woche die “Allee der Gerechten“. Auf den zwischen den Bäumen aufgehängten Fahnen wird der 88 Österreicherinnen und Österreicher gedacht (es waren überwiegend Frauen), die sich unter den „Nazis aktiv für Juden eingesetzt haben“.

Weiß auf orange lese ich zum Beispiel von der Innsbruckerin Antonia Viehböck, die „gemeinsam mit ihrem Mann den ihnen völlig unbekannten David Ballhorn mehr als zwei Jahre im Schutzraum ihres Hauses versteckt und ihre mehr als spärlichen Nahrungsmittel geteilt hat“. Die Shoah-Gedenkstätte Yad Vashem hat sie dafür später mit dem Titel „Gerechte unter den Völkern“ geehrt.

Ein älterer Herr spricht mich an. Er sagt, er kann wegen einer Netzhautkrankheit nicht gut sehen, fragt mich, ob ich ihm den Text der Fahne zu Gottfried von Einem vorlesen könne. Ich mache es gerne und danach entspinnt sich ein kurzer, herzlicher Dialog. Der Herr war in der Kapellmeisterklasse von Einems. „Man muss große Hochachtung haben vor Menschen, die so wie er ihr Leben riskiert haben“, meint er. „Eine sehr gute Idee, mit dieser Allee der Gerechten diese Menschen wieder in Erinnerung zu bringen. Schade, dass die Fahnen bald wieder abgehängt werden“, sagt er und wir verabschieden uns. Offenbar war mein eigenes Vorurteil falsch. Bevor ich auf die Ringstraße aufgebrochen war, dachte ich mir: Schon wieder so eine Aktion von „A Letter to the Stars“, die mehr PR macht für sich selbst als für die Sache des Gedenkens. Wen soll das interessieren am Ring außer den Touristen? Ich habe mich geirrt. Zwar versuchen in der Tat auch Touristen, die deutsche Sprache zu entziffern. Aber es sind nicht wenige Wiener, die so wie der Von-Einem-Schüler verweilen und sich die Texte durchlesen. Offenbar funktioniert das Konzept.

„Am wichtigsten ist uns immer die Sichtbarmachung“, sagt Markus Priller, der Historiker der Letter to the Stars. „Es gibt viele andere Organisationen, die tolle und wichtige Gedenkprojekte machen, sehr häufig auf einer intellektuellen Ebene. Für uns ist zentral, diese Inhalte einer sehr breiten Bevölkerung und insbesondere den Schülern zugänglich zu machen.“ Dieser Hang zum Visuellen – wie die Kritiker sagen: zum Spektakel – zieht sich durch die Geschichte der Organisation und hat ihr auch den Namen gegeben. Anfang 2002 hat der damalige „News“-Redakteur Andreas Kuba eine Geschichte über die Opfer des Nationalsozialismus in Österreich geschrieben, basierend auf der Opferdatenbank, die das Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands (DöW) zu diesem Zeitpunkt gerade fertiggestellt hatte. „Als mir der Andi die Datenbank gezeigt hat, waren wir total fasziniert. Wir haben sofort gedacht: Damit müssen wir etwas machen“, erinnert sich Josef Neumayr, damals Chefredakteur des „Extradienstes“ und heute Vorsitzender des Vereins „Lernen aus Zeitgeschichte“, der hinter „Letter to the Stars“ steht. Erste Aktion und Namensgeber waren die berühmten Briefe, die tausende Schüler aus ganz Österreich geschrieben haben und am 5. Mai 2003 an Luftballonen angebracht gen Himmel fliegen ließen. Alles was danach kam, folgte diesem Beispiel öffentlicher Sichtbarmachung: die 80.000 weißen Rosen, die 2006 von Schülern und Schülerinnen an Wiener Adressen angebracht wurden und an die NS-Ermordeten erinnern sollten; die ebenso vielen Kerzen, die im März 2008 in der „Nacht des Schweigens“ auf dem Heldenplatz angezündet wurden; die riesige Bühne, vor der sich im Mai des gleichen Jahres 200 eingeladene Überlebende einfanden und mit Interessierten trafen; die tausenden weißen, vor der Präsidentschaftskanzlei niedergelegten Blätter mit Opfernamen, die dem Gedächtnis der Präsidentschaftskandidatin Rosenkranz im Vorjahr auf die Sprünge helfen sollten; zuletzt auch die Allee der Gerechten.

„Es ist auf jeden Fall anzuerkennen, dass A Letter to the Stars für ein Thema Öffentlichkeit bekommt, das sonst nicht beachtet wird. Die Frage ist nur: Wie hoch ist der Preis dafür?“, sagt Brigitte Bailer, die wissenschaftliche Leiterin des DöW. Und fasst damit eine Stimmung zusammen, die in weiten Teilen der NS-Gedenkszene in Österreich vorherrscht. A Letter to the Stars (LttS) wurde von Beginn an kritisch beäugt, zum Teil wurde kooperiert, dann gestritten, heute bestenfalls ignoriert. Die Kritik an den LttS-Machern hat sich bis heute nicht geändert. Die Zeithistorikerin Heidemarie Uhl von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften fasst sie zusammen: „Hier werden beträchtliche Ressourcen für ein Projekt vergeben, das das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus als Event inszeniert, auf vordergründige Emotionalisierung und oberflächliche Personalisierung setzt und praktisch ohne Nachhaltigkeit ist.“ Stieß sich die Historikergilde 2003 noch am Luftballonspektakel, zu dem auch die damals beliebten Teilnehmer der ORF-Castingshow Starmania gehörten, so erreichte die Kritik vor dem runden Gedenkjahr 2008 ihren bisherigen Höhepunkt. Sowohl das Jewish Welcome Service als auch das psychosoziale Zentrum Esra kritisierten öffentlich die Pläne, rund 200 Überlebende auf einmal nach Wien zu holen. Zu groß sei die Gefahr einer Retraumatisierung der Beteiligten, so die NS-Traumaspezialisten. „Wir haben das Argument von Esra sehr ernst genommen und reagiert“, erzählt Josef Neumayr. „Weil Esra leider nicht mit uns kooperieren wollte, haben wir 37 andere Traumaexperten in ganz Österreich gefunden, die uns zur Verfügung standen. Das hat leider niemand zur Kenntnis genommen.“ Zum Höhepunkt der Auseinandersetzung lud die IKG zu einer Art Friedensgespräch ein, unter Vermittlung und Moderation von Peter Huemer trafen sich rund 25 Kritiker, Interessierte sowie Kuba, Neumayr und Priller. „Das war keine Auseinandersetzung auf Augenhöhe, sondern ein zweieinhalbstündiges Abwatschen“, erinnert sich Neumayr. „Wir sind so gut wie gar nicht zu Wort gekommen. Peter Huemer meinte vermutlich zu Recht, dass die anderen einmal Dampf ablassen sollen“, sekundiert Priller. „Am Ende hat Ariel Muzikant versucht zu schlichten. Als klassisch österreichische Lösung wurden Arbeitskreise eingerichtet, bei denen es aber auch zu keiner Annäherung gekommen ist.“ Josef Neumayr: „Auf das Argument der eingeladenen Überlebenden – sie wüssten schon selbst, was für sie gut oder nicht gut ist – wurde nie eingegangen. Auch ist es zu den von unseren Gästen gewünschten Auseinandersetzungen mit den Kritikern nie gekommen.“

Die Überlebenden-Aktion wurde aus Sicht von „A Letter to the Stars“ ein Erfolg, aus Sicht ihrer Kritiker ein weiteres Beispiel dafür, wie deren Macher eine an und für sich gute Sache zur Selbstvermarktung benutzen. In der Tat ist es auffällig, dass die Logos des Vereins auf den Plakaten am Heldenplatz damals genauso groß waren wie die an die Überlebenden gerichteten Lettern „Willkommen in Österreich!“ Dass dies nichts mit einer Geringschätzung ihrer Botschaft zu tun hat, sondern vielmehr mit ihrer langjährigen Schulung in Public Relations, versichern die LttS-Macher glaubwürdig. Und vermutlich liegt genau darin die Wurzel des Konflikts, der sie mit der arrivierten NS-Gedenkszene verbindet. Hier die – mittlerweile auch nicht mehr ganz – taufrischen Newcomer aus der Journalistenzunft, die über mehr Haltung als Wissen verfügen; dort die akademisch geprüften, über Jahre an einem Thema arbeitenden Platzhirsche, für die Genauigkeit und Seriosität Trumpf ist. Hier die Macher, die Überlebende und Schüler zum Basteln temporärer Denkmäler animieren („Wir beziehen die kreativen Potenziale der Schüler mit ein“, sagt Markus Priller); dort die Denker, die wissenschaftliche und pädagogische Knochenarbeit verrichten. Prallen diese Zugänge und Arbeitsweisen aufeinander, gibt es Ärger. So wie bei den Schülerprojekten zur Opferrecherche. „Ich fand das pädagogisch sehr fragwürdig“, erzählt Brigitte Bailer vom DöW. „Lehrer der Projekte haben bei uns angerufen und gesagt: ‚Ich habe 30 Schüler, bitte liefern sie mir die Daten von 30 ermordeten Kindern.‘ Nicht die Schüler, sondern ausschließlich wir hätten recherchieren sollen!“ Zwar helfe das DöW Schülern und Lehrern gerne, aber nachhaltige Schulprojekte bräuchten mehr Zeit als jene von LttS: eine längere Vorlaufzeit, Betreuung und ein längerfristiges pädagogisches Konzept – wie es etwa das Projekt „erinnern.at“ habe. Das vom Unterrichtsministerium betreute Vermittlungsprojekt für Schullehrer findet auch die Historikerin Heidemarie Uhl vorbildlich. „Dass Schüler zu Akteuren werden, ist keine Erfindung von LttS, sondern ein Grundsatz innovativer pädagogischer Konzepte – man braucht sich nur die Projekte von erinnern.at anzusehen. Aber bei LttS geht es darum, auch außerhalb der Schule im öffentlichen Raum wirksam und wahrgenommen zu werden.“

Genau darin sieht Uhl das Problem. Denn „im Gegensatz zu anderen Ländern wie den Niederlanden oder Deutschland gibt es am Gedenktag 5. Mai kaum Projekte und Aktivitäten, die aus der Zivilgesellschaft kommen.“ Genau in diese Lücke stößt „A Letter to the Stars“ seit nunmehr acht Jahren. Mit den öffentlich erzeugten Bildern ihrer Großevents hat sich das Projekt unter den Zeithistorikern und Gedenkinstitutionen nur wenig Freunde gemacht. Ob es nicht viel sinnvoller wäre, wenn alle gemeinsam für die gute Sache arbeiten würden? Wenn sich jeder auf das konzentriert, was er am besten kann – Öffentlichkeitsarbeit und Eintreiben von Sponsorengeldern auf der einen Seite, pädagogische Expertise und wissenschaftliche Genauigkeit auf der anderen? „Natürlich. Wir wollen das sehr und haben das auch sehr lange probiert“, sagt Josef Neumayr. Nach den jahrelangen Auseinandersetzungen ist die Lust auf Kooperation aber mittlerweile deutlich gesunken. Und darin besteht endlich eine Gemeinsamkeit mit einem großen Teil der übrigen Gedenkszene.

Die Hauptvorwürfe an „A Letter to the Stars“ und die Reaktionen darauf:

Zu viel Spektakel, zu wenig pädagogisches Konzept
Neumayr:
„Neben unserer intensiven Projektarbeit mit Schülern arbeiten wir auch mit Bildern, die wir erzeugen, das stimmt. Wenn 80.000 Luftballons am Heldenplatz aufsteigen, ist das ein Bild, das die Beteiligten nie vergessen. Nach neun Jahren Erfahrung wissen wir, wie wichtig das den Kids ist, damit ihnen etwas in Erinnerung bleibt.“

Die Großevents kosten zu viel Geld
Neumayr:
„Unsere Jahresbudgets liegen zwischen 200.000 und einer Millionen Euro, wobei wir Letztere nur 2008 erreicht haben, als wir 200 Überlebende mit je einer Begleitperson etc. nach Österreich gebracht haben. Üblich ist der erste Wert, bei einem Team von derzeit sechs Personen, inklusive Ausstellungskosten. Wir sind eine ganz normale NGO mit entsprechender Bezahlung.“ Zum Vergleich: Das DöW hat nach Eigenangaben ein Jahresbudget von 750.000 Euro (17 hauptamtliche Mitarbeiter).

Nicht explizit gegen Antisemitismus
Neumayr:
„Lächerlich, das wurde immer falsch verstanden. Weil wir mit Schülern arbeiten, haben wir uns von Anfang entschieden, nicht „gegen“ etwas zu sein, sondern „für“ etwas. Wir sind für Menschenfreundlichkeit und Zivilcourage. Und selbstverständlich gegen Antisemitismus, wollten das aber nicht groß auf unsere Aktion draufschreiben.“

Nicht sattelfest mit Zahlen
Priller:
„Als das Projekt begann, lag der von der Wissenschaft vertretene Stand bei 80.000 österreichischen NS-Opfern. Das haben wir auch kommuniziert. Erst später wurde das auf über 100.000 korrigiert. Wir haben die Zahl dann, zugegeben etwas verspätet, übernommen.“

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