Eine Gegend, in der Menschen und Bücher lebten …

Die 1918 geborene Schriftstellerin und Physiotherapeutin Hedwig Brenner hat in ihrem neuen Buch Erinnerungen an ihre Heimatstadt Czernowitz gesammelt.
Von Thomas Schmiedinger

Die heute mit über 92 Jahren in Haifa lebende Autorin ist eine der letzten noch lebenden Zeitzeuginnen des multiethnischen von der Habsburgermonarchie geprägten Czernowitz. Es war auch nach dem Zusammenbruch dieser Monarchie als „Klein-Wien“ bekannt und erlebte bis zum deutschen Überfall auf die Sowjetunion und der Shoah eine von der deutschen Sprache geprägte multiethnische und multireligiöse Regionalkultur. Hedwig Brenner wuchs in dieser von der jüdischen Religion wie der deutschen Sprache geprägten bürgerlichen Kultur auf. Wien bildete für diesen Teil des Czernowitzer Bürgertums weiterhin das kulturelle und wissenschaftliche Zentrum und so ging die junge Frau auch zum Studium nach Wien, das sie 1938 nach dem „Anschluss“ jäh unterbrechen musste. Wieder in Rumänien, heiratete sie 1939 ihren Mann Gottfried, den sie durch ihr mutiges Einschreiten vor der Deportation bewahren konnte. Beide überleben im Ghetto und übersiedeln 1945, nachdem Czernowitz Teil der Sowjetunion wurde, nach Rumänien. Erst 1982 gelingt ihnen von dort die Auswanderung nach Israel.

Diese Lebensgeschichte, die sie schon in ihrem 2006 erschienenen Buch „Mein 20. Jahrhundert“ ausführlicher beschrieben hatte, steht zwar nicht im Mittelpunkt ihres neuen Buches, taucht aber immer wieder auf. Brenners Erinnerungen an Czernowitz sind keine historische Abhandlung, sondern lebendige Erinnerungen einer Czernowitzerin, die bis heute mit ihrer Stadt in Verbindung geblieben ist und ihre Entwicklung in der Sowjetunion und nach der Unabhängigkeit der Ukraine weiter verfolgt hat. Eingeleitet mit einem Essay über das bildungsbürgerliche Czernowitz von Marie-Elisabeth Rehn berichtet Brenner von ihrem ganz persönlichen Czernowitz, von den Geschäften ihrer Kindheit, Märkten, Kaffehäusern, Theatern, Konzerten oder Wanderungen in die nähere Umgebung. Vor allem aber beschreibt sie das gebildete Czernowitz der Schriftsteller, Theatermacher und Buchhändler. Schließlich arbeitete sie selbst in der Bibliothek der Stadt. So breitet sich ein lebendiges Bild des Alltagslebens einer Familie aus dem jüdischen Bildungsbürgertum dieser Stadt vor den Augen des Lesers aus. Die Ähnlichkeiten mit Wien werden dabei zum Greifen nahe. Selbst ein „Gänsehäufl“ gab es im Czernowitz: „Dort badeten meine Freunde und Freundinnen und folglich auch ich. Sobald die Ferien anfingen, waren wir fast täglich Gäste in diesem Bad. Man fuhr mit der Tramway bis zur Endstation und gelangte nach einem kleinen Fußmarsch zum Bad. Das Eintrittsgeld war gering, aber das ‚Gänsehäufl‘ galt als elegantes Bad. Es bot eine Ankleide-Garderobe mit abschließbaren Kabinen, auch Duschen und einige Kioske, die kalte Getränke verkauften.“

Nicht nur das „Gänsehäufl“, sondern auch viele andere beschriebene Orte in Czernowitz und Umgebung werden mit reichlichem Bildmaterial ergänzt. In kurzen persönlichen Porträts stellt die Autorin die Czernowitzer Autoren Johanna Brucker, Alfred Kittner, Immanuel Weißglas und ihren Mann Gottfried Brenner vor. Ein dritter Teil widmet sich dem Antisemitismus und der nationalsozialistischen Verfolgung der jüdischen Bevölkerung der Stadt, aber auch den Erfahrungen mit den sowjetischen Befreiern, deren Herrschaft für Brenner keineswegs nur als befreiend wahrgenommen wurde. Ein Kapitel widmet sich den antifaschistischen Spanienkämpfern der Stadt, ein anderes den Kämpfern der „Tschechischen Brigade“. Schließlich können die Leser den Eindrücken einer in den 1970er-Jahren erfolgten Touristenreise nach Czernowitz folgen und erhalten Einblick in die Entwicklung während der sowjetischen Herrschaft über die Stadt.

Brenners Buch ist ein Reiseführer in eine längst versunkene Welt, der unweigerliche eine tiefe Traurigkeit über die Vernichtung dieser Welt hervorrufen muss. Jene „Gegend, in der Menschen und Bücher lebten“, wie es der zwei Jahre nach Hedwig Brenner ebenfalls in Czernowitz geborene Paul Celan formuliert hatte.

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