Eine dynamische Gemeinschaft

Das Londoner Institute for Jewish Policy Research hat eine Studie über die demografische und soziale Entwicklung der jüdischen Bevölkerung in Österreich veröffentlicht. Mehr Kindergärten und Seniorenheime sind gefragt.

Von Michael J. Reinprecht

Wie bei vielen Studien geht es zunächst um die Zahlen als Grundlage. Und hier gibt es bereits eine mögliche erste kleine Überraschung: Die Zahl der Jüdinnen und Juden in Österreich wächst, die Geburtenrate ist höher als der Durchschnitt – dennoch machen sie nur etwa 0,1 Prozent der österreichischen Bevölkerung aus. Sie sind, weniger überraschend, gebildet und vor allem in freien Berufen – als Ärztinnen und Psychotherapeuten, Unternehmer und im Bildungswesen – tätig.

Etwa 10.000 Jüdinnen und Juden leben in Österreich, vor allem in Wien. Während etwa ein Fünftel der Gesamtbevölkerung von Österreich in Wien zuhause ist, haben 86 Prozent der Jüdinnen und Juden in der Bundeshauptstadt ihren Lebensmittelpunkt – und da wiederum mehrheitlich in der Inneren Stadt sowie in den Bezirken Döbling und Landstraße. Fast die Hälfte aller jüdischen Wienerinnen und Wiener hat den Hauptwohnsitz auf der Mazzesinsel in der Leopoldstadt.

Die Israelitische Kultusgemeinde zählt 8000 Mitglieder; das sind nach streng rechtlicher Auslegung Menschen, deren Mutter Jüdin ist, sowie vom Rabbinat anerkannte Konvertitinnen und Konvertiten. Die Studie aber geht über diese halachische Interpretation weit hinaus. Sie umfasst auch Menschen, die in einem jüdischen Umfeld leben (also wo etwa nur der Vater Jude ist). Diesem „erweiterten Kreis“ werden etwa 14.000 Jüdinnen und Juden zugerechnet. Und dann wird auch jener Personenkreis genannt, der nach dem israelischen Einwanderungsgesetz das Recht auf Immigration hat und die israelische Staatsbürgerschaft besitzt. Da kommen die Londoner Forscher (Autoren der Studie: Daniel Staetsky und Sergio DellaPergola) auf 20.000 Personen.

Hoher orthodoxer Anteil

Dass die jüdische Bevölkerung Österreichs in der großen Mehrheit ein urbanes Leben führt, ähnelt der Situation im Vereinigten Königreich, in den USA und in Frankreich. Auch der hohe Bildungsgrad der jüdischen Bevölkerung hierzulande ist mit der Diaspora anderer westlicher Länder vergleichbar. In Österreich hat jeder vierte jüdische Mensch (25 Prozent) einen Hochschulabschluss; unter der sonstigen heimischen Bevölkerung ist es nicht einmal jeder Fünfte (18 Prozent). Je älter, desto größer wird der Unterschied.

Dass die jüdische Bevölkerung Österreichs wächst, stellt die Studie anhand der Geburtenrate fest: Jede jüdische Frau bekommt im Durchschnitt 2,5 Kinder. Mit dieser Reproduktionsrate, so die Berechnungen der Londoner Experten des Institute for Jewish Research, wird sich die Anzahl der „Juden im engeren Sinne“ im Jahr 2030 auf etwa 12.000 Menschen erhöhen. Nur Muslime – derzeit etwa acht Prozent der österreichischen Bevölkerung – haben eine noch größere Wachstumsrate. Innerhalb der (dem christlichen Kulturkreis zuzurechnenden) Mehrheitsbevölkerung ist die Bilanz negativ. Das heißt, Österreich wächst nur aufgrund der Zunahme der muslimischen, aber auch der jüdischen Bevölkerung.

Eine Erklärung dafür ist, dass in Österreich im Vergleich zur Diaspora in anderen westlichen Ländern der Anteil der Orthodoxen hoch ist: Etwa 20 Prozent ordnen die Studienautoren einer orthodoxen bis streng-orthodoxen Richtung zu. Frauen dieser Bevölkerungsgruppe haben im Durchschnitt sogar sechs bis sieben Kinder und sind für das zwar langsame, aber stetige Wachstum der österreichisch-jüdischen Gesellschaft verantwortlich. Einwanderung bzw. Emigration sind in diesen Zahlen zur Bevölkerungsentwicklung nicht berücksichtigt.

Allerdings zeigt die Altersstruktur der österreichischen Juden, ihre Bevölkerungspyramide also, eine hohe „Abhängigkeitsrate“: Viele stehen außerhalb außerhalb des Arbeits- und des Erwerbsprozesses. Dafür müsste Vorsorge getroffen werden, die Handlungsanweisung der Studienautoren lautet: Mehr jüdische Schulen, mehr Kindergärten – und mehr jüdische Seniorenheime. Folgt man den Erkenntnissen der Studie, wird die IKG mit ihrer derzeitigen Jugend- und Altersversorgung à la longue nicht das Auslangen finden.

Die Studie steht unter zur Gänze in englischer und deutscher Sprache als Download zur Verfügung.

Die mobile Version verlassen