Ein Symbol für Toleranz und Vielfalt

1997 eröffnete in Casablanca das erste und bisher einzige jüdische Museum in der arabischen Welt. Simon Levy und Zhor Rehihil, er marokkanischer Jude, sie eine junge Muslimin, gestalteten einen Ort, an dem kulturelle Nähe und friedliches Miteinander im Mittelpunkt stehen.
Von Sophie Wagenhofer (Text und Bilder)

Besuchern wird es nicht gerade leicht gemacht. Wer sich für das Jüdische Museum in Casablanca interessiert, muss sich auf die Suche machen. Abseits der Hektik der Wirtschaftsmetropole liegt das kleine Museum im beschaulichen Villenviertel Oasis. Nur ein Messingschild am Eingang mit dem Wort Museum in französischer und arabischer Sprache deutet auf den öffentlichen Charakter des Gebäudes hin. Das Prädikat „jüdisch“ fehlt. Auf die Frage warum, antwortete der damalige Direktor Simon Levy gerne: „Als wir 1997 eröffneten, gab es in ganz Casablanca kein anderes Museum. Eine Spezifizierung hat es daher nicht gebraucht.“

Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Es geht auch darum, nicht zu viel Aufmerksamkeit zu erregen, keine Angriffsfläche für Anfeindungen oder Anschläge zu bieten. Zwar ist im heutigen Marokko wesentlich mehr möglich, als in den meisten anderen arabischen und islamischen Staaten. Juden spielen eine aktive Rolle in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur. Dennoch ist und bleibt, vor dem Hintergrund des Nahostkonflikts, jede Auseinandersetzung mit Aspekten jüdischer Kultur, Geschichte und Religion in Marokko sensibel und schwierig. Die Leitung eines jüdischen Museums in einem arabisch- muslimisch dominierten Land verlangt eine Menge Fingerspitzengefühl. Das verstand Simon Levy, der das Museum mitbegründete und aufbaute, nur zu gut. Bis zu seinem Tod im Dezember vergangenen Jahres leitete der Linguist und politische Aktivist das Museum, dessen Linie und Profil er entscheidend prägte. In seinem Sinne soll die Arbeit nun auch weitergeführt werden. Dafür sorgt in erster Linie die Anthropologin Zhor Rehihil, die Levy Mitte der 1990er- Jahre als Kuratorin ins Boot holte.

Wer sich bis zum Jüdischen Museum durchgefragt und den kleinen Eingangsbereich passiert hat, dem eröffnet sich ein Ort der Ruhe und Stille in der sonst so lauten, hektischen Millionenstadt. Das einstöckige, weißgetünchte Haus liegt in einem üppigen Garten mit Palmen, Kakteen und ausladenden Bougainvillea, dazwischen Steinwege, die mäanderförmig um das Gebäude herumführen. Sie stehen symbolisch für die Lebenswege jüdisch-marokkanischer Familien, für die Entscheidung, auszuwandern oder zu bleiben, und sie sind Sinnbild für Trennungen und neue Begegnungen. Der Garten ist Bestanteil des architektonischen Konzepts, das der jüdisch-marokkanische Architekt Aimé Kakon im Auftrag der jüdischen Gemeinde von Casablanca entwickelte.

Für das Museum wurde kein Neubau konzipiert, sondern vielmehr ein Ort mit einer ganz eigenen Geschichte umgestaltet, das ehemalige jüdische Waisenhaus „Home d’enfant Murdoch Bengio“. 1948 von Celia Bengio eröffnet, stellte das Waisenhaus 1965 den Betrieb ein und wurde anschließend als Rabbinerschule genutzt. Mitte der 1990er-Jahre übergab Celia Bengio das Grundstück der jüdischen Gemeinde für das geplante Museum. Kakon versuchte, die Geschichte des Ortes ebenso wie die gegenwärtige Lebensrealität marokkanischer Juden in die Umgestaltung einfließen zu lassen, wobei er gänzlich auf folklorisierende Elemente verzichtete.

Die Idee zu Gründung einer Stiftung und eines Museums zum Erhalt jüdischer Kultur in Marokko entstand Ende der 1980er-Jahre. Eine Reihe jüdischer Intellektueller und Aktivisten diskutierten in dieser Zeit über Fragen jüdisch-marokkanischer Identität und über konkrete Möglichkeiten, jüdische Kultur und jüdische Traditionen in Marokko zu bewahren; unter ihnen auch der Wissenschaftler, Politiker und Journalist Simon Levy. Damals, sagte Levy, war es bereits „fünf vor zwölf“. Rund 250.000 Juden hatten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Land in Richtung Frankreich, Israel und Kanada verlassen. Damit verschwand gelebte Kultur allmählich aus dem marokkanischen Alltag. Den immer kleiner werdenden Gemeinden in Marokko fehlten die finanziellen Mittel zum Erhalt der Infrastruktur. Außerdem schienen insbesondere der jungen Generation alte Traditionen überholt und „rückständig“. Interessant und erstrebenswert hingegen war „das Neue und Moderne“, erzählte Levy. Religiöse Objekte und Alltagsgegenstände, Zeugnisse einer jahrhundertlangen Präsenz jüdischer Gemeinden in Nordafrika, wurden zurückgelassen oder, meist weit unter Wert, auf Märkten verkauft. Diesen Prozess aufzuhalten, das materielle wie immaterielle Kulturerbe der jüdischen Gemeinden in den verschiedenen Teilen Marokkos zu erhalten, haben sich Levy und andere Gemeindemitglieder zum Ziel gesetzt.

1994 wurde in Casablanca die Stiftung für das jüdisch-marokkanische Erbe ins Leben gerufen, drei Jahre später eröffnete das Museum. Bereits während der Umbauarbeiten fuhren Simon Levy und Zhor Rehihil zusammen durch Marokko, um religiöse Artefakte, Bücher sowie Alltagsgegenstände zu suchen, die in der Ausstellung gezeigt beziehungsweise im Archiv konserviert werden sollten. Teils kauften sie Objekte auf Märkten, teils fanden sie diese in aufgelassenen Synagogen oder bekamen sie aus privaten Nachlässen zur Verfügung gestellt. So wurden die Vitrinen nach und nach mit religiösen Objekten, mit Schmuck, Kleidungsstücken, Handwerksutensilien und Büchern bestückt. Auch Synagogenmobiliar aus verschiedenen Teilen Marokkos sowie die Rekonstruktion einer Goldschmiedewerkstatt aus Fez sind im Museum zu sehen. Die gezeigten Objekte dokumentieren die lange Tradition jüdischer Gemeinden im heutigen Marokko und den Beitrag jüdischer Handwerker, Künstler und Wissenschaftler zum kulturellen Erbe des Landes.

Probleme scheint es nicht zu geben. So zumindest der Eindruck nach dem Besuch der Dauerausstellung. Doch was ist mit der Massenauswanderung marokkanischer Juden? Wie war die Situation der Juden unter dem profaschistischem Vichy-Regime und waren die Gemeinden von der Shoah betroffen? Wo bleiben Themen wie Antisemitismus? Das sind Fragen, die sich insbesondere „westliche“ Besucher stellen. Fragen, die jedoch im Museum in Casablanca, anders als in europäischen und amerikanischen Museen, keinen zentralen Platz einnehmen. Objekte dazu gäbe es wohl, beispielsweise die Megillat Hitler, die in der Ausstellung zu sehen ist. Dieser Text, der 1943 nach dem Vorbild der biblischen Esther-Rolle in Casablanca verfasst wurde, beschreibt die fiktive Niederlage Hitlers. Ein spannendes Dokument, das deutlich macht, wie Juden in Nordafrika die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden wahrgenommen und wie sie ihre eigene Situation empfunden haben. Im Kontext der Ausstellung in Casablanca wird diesem Dokument nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt, ebenso wenig wie dem Thema Shoah im Allgemeinen.

Doch was sind die Gründe dafür, dass „unangenehme“ Themen wie Antisemitismus oder Auswanderung marginalisiert werden? Weshalb wird die Tradition eines jahrhundertlangen friedvollen Miteinanders so zentral gemachtin den Fokus gerückt, als gäbe es keine Probleme? Politischer Konformismus könnte man kritisch meinen, doch so einfach ist es nicht. Die Ausstellungsmacher sind sich der Probleme, mit denen die jüdische Gemeinde im Marokko der Gegenwart konfrontiert ist, durchaus bewusst, benennen diese im Gespräch auch sehr offen. Levy beschönigte die Situation der Juden in Marokko keineswegs, sprach ebenso freimütig und persönlich über Diskriminierungen unter dem Vichy-Regime wie über die Gefahr, welche von religiösem Fundamentalismus in der Gegenwart ausgeht. Er beschrieb auch die Entfremdung zwischen Juden und Muslimen in Marokko: „Juden werden häufig als Europäer wahrgenommen, denen man auf Französisch antwortet, selbst wenn sie einen auf Marokkanisch angesprochen haben.“ Insbesondere der Nahostkonflikt belastet das Verhältnis der muslimischen Mehrheitsgesellschaft zur jüdischen Minderheit. „Die Jugendlichen kennen Juden heute nur noch aus den Medien. Ihre Vorstellungen sind von den Bildern über den Nahostkonflikt geprägt und Vorurteile dadurch vorprogrammiert“, erklärt die Kuratorin Zhor Rehihil und spricht dabei auch ihre eigenen, ganz persönlichen Erfahrungen an. Denn auch ihre Einstellung gegenüber Juden wurde lange weitgehend von den Geschehnissen in Nahost, den Massakern von Sabra und Chatilla, bestimmt. Auf die Frage, wie aus der erklärten Palästina-Aktivistin die Kuratorin des jüdischen Museums wurde, erklärt sie: „Die Auseinandersetzung mit jüdischer Geschichte ist wichtig, um die eigene marokkanische Identität zu verstehen.“

Genau hier wollte Levy und Rehihil mit der Ausstellung ansetzen; der Kampf gegen Vorurteile und für ein gleichberechtigtes, respektvolles Miteinander von Muslimen und Juden in Marokko steht im Mittelpunkt der Museumsarbeit. Dies im Hinterkopf ist die Ausstellung keineswegs als politischer Konformismus oder als Beschönigung der Verhältnisse zu lesen, sie ist vielmehr eine Reaktion auf gegenwärtige Schwierigkeiten und Probleme der immer kleiner werdenden Gemeinde. Die Gemeinsamkeiten und Schnittpunkte zwischen Juden und Muslimen werden gezielt in den Mittelpunkt gerückt, um die Vorstellung vieler Muslime, Juden seien „irgendwie anders“ und stärker an Europa, Amerika oder Israel orientiert als an Marokko, zu entkräften. Die zentrale Botschaft der Ausstellung – Juden sind ein integraler Bestandteil der marokkanischen Gesellschaft – ist aber nicht nur für das Verhältnis zwischen Juden und Muslimen wichtig, sondern auch für das Selbstverständnis der immer kleiner werdenden jüdischen Gemeinde. Die Entscheidung in Marokko zu bleiben und nicht, wie der überwiegende Teil der Gemeinde nach Europa, Kanada oder Israel auszuwandern, ist nicht leicht. Es gilt, sich immer wieder der eigenen marokkanischen Identität zu versichern, um die Existenz in dem arabischen Land vor sich selbst wie vor anderen zu legitimieren.

Die kulturelle Nähe zwischen Juden und Muslimen wird in der Ausstejülung vor allem anhand gemeinsamer Traditionen in den Bereichen Kleidung, Schmuck und Handwerk dokumentiert. Alltagskultur eigne sich am besten, um die Gemeinsamkeiten zwischen Muslimen und Juden in Marokko zu zeigen, so die Kuratorin. Auch Sprache spielt in diesem Kontext eine Rolle. Verschiedene Schriftzeugnisse in der Ausstellung verdeutlichen, dass sich Judeo-Marokkanisch kaum von der Alltagssprache marokkanischer Muslime unterscheidet, dass Juden und Muslime im Wortsinne eine „gemeinsame Sprache sprechen“. Ein Beispiel ist hier eine judeo-marokkanische Hinweistafel aus der Synagoge Sla l-Khadra aus Meknes. Die Gemeinde wird darauf hingewiesen, während des Gottesdienstes nicht auf den Boden zu spucken und den Kantor nicht mit allzu lauter Stimme zu begleiten. Was zunächst fremd scheint, nämlich die hebräische Schrift, wird laut gelesen auch für nicht-jüdische Marokkaner zu etwas Vertrautem, nämlich zu einer Form des marokkanischen Dialekts. Umgekehrt stellen hebräischsprachige Besucher fest, dass sie den Text aus der Synagoge zwar lesen, aber dessen Inhalt nicht verstehen können.

Während die Dauerausstellung vor allem von jüdischen wie nicht-jüdischen Touristen aus Europa und Amerika besucht wird, bieten Veranstaltungen wie Filmabende, Lesungen, Konzerte, politische Diskussionen oder Vernissagen zu Sonderausstellungen die Chance, ein überwiegend lokales Publikum anzusprechen. Journalisten marokkanischer und internationaler Medien nehmen an solchen Veranstaltungen teil, ebenso wie Gäste, die sich für spezifische Themen interessieren, offizielle Vertreter der Gemeinde oder der Stadt, aber auch Freunde, Kollegen und Familienangehörige der Künstler. Diese zusätzlichen Aktivitäten helfen, das Museum als Veranstaltungsort innerhalb der Kulturszene Casablancas zu positionieren. Veranstaltungen und Sonderausstellungen bieten Raum für Themen, die in der Dauerausstellung nicht oder nur sehr verkürzt dargestellt werden, und haben darüber hinaus eine hohe Medienwirksamkeit.

Diese Medienpräsenz ist wichtig. Nur so hat das kleine, etwas abseits gelegene Museum auch über die eher geringen Besucherzahlen hinaus die Möglichkeit, auf zentrale Themen und Probleme aufmerksam zu machen und sich als Institution in soziale und politische Debatten einzumischen. Der Kampf gegen Vorurteile und um Anerkennung ist kein einfacher. Doch trotz Drohanrufen und Schmierereien lässt sich das kleine Team des Museums nicht entmutigen. Die Unterstützung von offizieller Seite ist ihm jedenfalls sicher. Die Regierung fördert die private Initiative durch die Finanzierung der Kuratorenstelle. Zudem wurden Stiftung und Museum 2001 vom Kulturministerium zur gemeinnützigen Einrichtung erklärt und die Arbeit damit symbolisch aufgewertet. Der marokkanische König Mohammed VI. hat das Museum, ebenso wenig wie sein Vater Hassan II., allerdings noch nicht besucht. Das ist auch der Grund, weshalb das Haus zwar seit 1997 Besuchern offen steht, aber noch nicht offiziell eröffnet wurde. Bis zuletzt hat Simon Levy auf die Zusage des Königs gewartet, die offiziellen Feierlichkeiten durch seine Anwesenheit „zu krönen“. Dass es dazu je kommen wird ist zu bezweifeln; aufklären, informieren und für ein respektvolles Miteinander kämpfen, kann das Team des Museums allerdings auch ohne allerhöchsten Segen.

Musée du Judaïsme Marocain
81, rue Chasseur Jules Gros
Casablanca, Oasis
Leitung: Zhor Rehihil
Mo.–Fr. 10.00–17.30 Uhr
Einfacher Eintritt: 25 Dirham (2,20 €)
Führung: 40 Dirham (3,60 €)
museedujudaismemarocain@hotmail.com
Tel: +212 (0) 522 99 49 40

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