Ein Shtetl in New York

Wer bei seinem nächsten New-York-Besuch einmal etwas anderes erleben möchte, dem sei ein Besuch in Brooklyn empfohlen. Jenseits der touristischen Trampelpfade ist das Stadtviertel Williamsburg zu entdecken, das in vieler Beziehung dem untergegangenen Shtetl Osteuropas ähnelt.
VON DANIELLE SPERA

Die New Yorker U-Bahn-Station Marcy Avenue und deren unmittelbare Umgebung lassen nicht erahnen, dass nur wenige Straßenzüge weiter die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. An der Straßenecke hat ein älterer Hispanic ein elektronisches Klavier aufgestellt und singt inbrünstig in sein Mikrofon: „Jesus is my big love …“ Teilnahmslos passiert eine Gruppe von Hipsters den glücklosen Sänger, als plötzlich ein Mann um die Ecke biegt, den man in diesem Szenario nicht vermutet: Er ist der erste der Satmarer Chassidim, die wir hier zu Gesicht bekommen.

Wenige Schritte weiter ist alles anders. Man wähnt sich nicht mehr in New York. Das Straßenbild wird von geschäftig herumlaufenden Männern in schwarzen Anzügen und schwarzen Hüten beherrscht, einige Frauen unterhalten sich, umringt von Kindern und Kinderwägen. Jede Aufschrift ist in hebräischen Buchstaben verfasst und in jiddisch geschrieben. Koschere Supermärkte wechseln sich mit Geschäften ab, die Kleidung für Herren anbieten – ausschließlich schwarze Anzüge und weiße Hemden –, Hüte für Männer oder Kopfbedeckungen verschiedenster Art für Frauen. Das Wichtigste hier ist neben der strengen Einhaltung der Kaschrut, des koscheren Essens und religiösen Tagesablaufes, die Zniut – die Sittsamkeit, sowohl in der Kleidung (der Körper soll so gut wie möglich bedeckt sein) als auch im Benehmen. Dies sieht man auch an den Häusern, alles wirkt aufgeräumt, jedoch karg. Wenn man eine Werbung entdeckt, so dient sie z. B. zur Bekanntmachung einer neuen Produktion von Schtreimel, einer Kopfbedeckung aus Pelz, die verheiratete chassidische Männer zu den Feiertagen oder Festen tragen.

Besucher, die nicht zur Gemeinde gehören, fallen sofort auf. Distanziert, aber nicht unfreundlich fallen die Begegnungen aus. Plötzlich werden wir von einer Frau in jiddisch angesprochen. Sie fragt, woher wir kommen und schwenkt auf Englisch um, das hier fast als Fremdsprache gilt. „Sie werden sich wundern, weshalb hier so wenige Frauen zu sehen sind. Im Sommer fahren die Frauen mit den Kindern aufs Land, die Männer bleiben hier, um zu arbeiten. Wir sind nur hier, weil wir gerade unsere größeren Kinder abholen, die von den Sommercamps kommen“, erklärt sie, während sie auf die anderen Frauen auf der Straße zeigt. Ein Schulbus mit hebräischer Aufschrift parkt gegenüber der Synagoge und bringt große Pakete mit den Ausstattungen von den Sommercamps. Die Kinder nehmen vom Bettzeug bis zu den Handtüchern ihre eigenen Sachen dorthin mit.

Eigentlich sind wir mit Frieda Vizel verabredet, die über die Homepage Visithasidim.com Führungen durch Williamsburg anbietet. Die 29-Jährige ist nicht die Einzige, die durch das ultrareligiöse Viertel führt. Allerdings gibt es bei Frau Vizel eine Besonderheit. Sie kennt die Straßenzüge hier wie kaum jemand anderer. Frieda Vizel wurde in die Gemeinschaft der Satmarer Chassidim hineingeboren, die sich einem der modernen Gesellschaft vollkommen abgewandten Leben widmen. Von ihr erfährt man nicht nur vieles über die Geschichte der Chassidim, sondern auch über deren aktuelles Leben in Williamsburg oder in Kyrias Joel, einer chassidischen Ortschaft in Orange County. Das Ziel von Frau Vizel ist es, den vielleicht verklärten Eindruck vom Shtetl- Leben auf den Boden der Realität zu bringen.

Wie alle Mädchen hier wurde auch sie mit 18 Jahren verheiratet. Ein Schadchen (Heiratsvermittler) brachte den ihr unbekannten, aber für die Familie passenden Bräutigam, den sie nur eine halbe Stunde lang sehen durfte – bei offener Tür, die Eltern passten im Nebenraum auf. Nach einer Pause von einigen Wochen, in denen es keinen Kontakt gab, wurden Frieda und der junge Mann verheiratet. Die chassidische Welt schien perfekt. Bald war ein Sohn geboren, doch Frieda war mit ihrem Mikrokosmos nicht mehr im Einklang. Sie begann sich mit den neuen Medien zu beschäftigen und die Lebensordnung, in der sie aufgewachsen war, zu hinterfragen. Nach mehreren gescheiterten Versuchen, ihre frühere Ordnung wiederherzustellen, trennte sie sich von ihrem Mann und verließ gemeinsam mit ihrem Sohn die Satmarer Gemeinschaft, erstaunlicherweise in Frieden und Eintracht mit ihrer Familie. Das sei ganz und gar nicht selbstverständlich, berichtet sie. Frieda zog in ein anderes Stadtviertel und schickte ihren Sohn in eine öffentliche amerikanische Schule. Sie spricht nicht jiddisch, sondern englisch mit ihm und hat auch ihr Äußeres abgelegt. Heute trägt sie keine Perücke mehr, sondern zeigt ihr lockiges brünettes Haar und trägt Jeans, als ob sie das schon ihr ganzes Leben lang getan hätte.

Respekt vor der Gemeinde
Auch wenn Frieda Vizel aus der Satmarer Gruppierung ausgestiegen ist, hat sie großen Respekt vor allen, die ihr Leben weiter nach den strengen Regeln ausrichten. Es sei ganz und gar nicht selbstverständlich, dass sie weiterhin akzeptiert werde und vor allem nicht, dass sie mit „Fremden“ durch das Viertel spaziert. Darüber ist sie sehr glücklich. Auch wenn manchmal Kritik zu hören ist, dass die Besucher, die hierher kommen, wie Schaulustige Religionsvoyeurismus betreiben würden. Ihr ist es am wichtigsten, dass die Menschen über die Tradition und die Gegenwart der Satmar-Bewegung hören.

Freitagabends und an den Feiertagen kommt Frieda Vizel offiziell zurück und verbringt diese wichtigen Stunden gemeinsam mit ihren Eltern und Geschwistern. So ganz hat sie sich also doch nicht verabschiedet. Nur wenige tauschen ihr Leben in der chassidischen Welt gegen ein modernes ein. „Noch sind es wenige“, meint Frieda, sie könne aber nicht ausschließen, dass sich das durch die vielen aktuellen Kommunikationsmöglichkeiten nicht ändert. Allerdings haben die Familien hier weder Fernsehen noch Radio. Sie weiß von manchen Familien, die sich offiziell ein Tiefkühlgerät kaufen, in dem sie einen Fernseher ins Haus schmuggeln, der dann geheim im Keller benützt werde. Da es bei der Gründung der Satmarer Bewegung diese Erfindungen noch nicht gab, sind sie auch nicht erwünscht, außerdem wird man dadurch nur vom Wesentlichen abgelenkt: vom religiösen Leben nach den Grundsätzen der Tora.

Knisches und Rogelach
Als Hotspot, wenn man das so bezeichnen darf, gilt hier Gottlieb’s Delicatessen, ein koscheres Restaurant, bei dem man jeden Gedanken an eine Diät vergessen sollte. Mazzekneidl, Tscholent, Lokschenkigl, Piroggi, Latkes und vieles andere mehr werden aufgetischt. Obwohl man dann kaum noch atmen kann, muss man noch die köstlichen Schokorogelach probieren. Launig unterhält uns der (nicht-chassidische) Restaurantchef – eine mit Edelweiß bestickte Kippa auf dem Kopf – mit Geschichten von seiner Familie aus Ungarn und deren abenteuerlicher Flucht in die USA. Bei Gottlieb’s kann man übrigens online bestellen, also hier ist man zumindest zum Teil im 21. Jahrhundert angekommen. Als der Satmarer Besitzer von Gottlieb’s Delicatessen, der uns stolz sein gesamtes Menü präsentiert, mir anbietet, unsere Gruppe zu fotografieren, bin ich kurz zurückhaltend, dann reiche ich ihm mein iPhone. Die Hülle ziert eine israelische Fahne. Obwohl die Satmarer Bewegung den Staat Israel strikt ablehnt, ergreift er es lächelnd und fotografiert uns. Zumindest bei Gottlieb’s scheint man flexibel.

Die Satmarer Gruppierung, benannt nach der rumänischen Stadt Szatmárnémeti (Satu Mare), wurde 1905 von Rabbiner Joel Teitlbaum gegründet. Nach seiner Rettung während der Shoa siedelte er sich in Williamsburg an und begann mit dem Wiederaufbau der vom Holocaust schwer gezeichneten Gemeinde. Heute streitet bereits die zweite Generation um die Nachfolge des Satmarer Rebben. Die Satmarer lehnen den Staat Israel ab; sie sind strikte Gegner des Zionismus, da die jüdische Diaspora erst mit der Ankunft des Messias ein Ende finden soll.

Chassidic Tours: www.visithasidim.com

Gottlieb’s Delicatessen: 352 Roebling St,
Brooklyn, NY 11211
www.gottliebsrestaurant.com

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