„Ein Regimewechsel in Syrien schwächt den Iran in jedem Fall“

Wohin bewegt sich Syrien? Der israelische Syrien-Experte Jonathan Spyer erklärt die Strategie des Herrschers Assads, Chancen und Probleme der syrischen Opposition, allen voran der Freien Syrischen Armee, die Konsequenzen eines möglichen Sturzes des Regimes und die Verantwortung des Westens.
Von David Rennert

Am Beginn standen Kundgebungen und Protestaufrufe gegen das autoritäre Regime Bashar al-Assads im Frühling des vergangenen Jahres. Assad reagierte mit roher Gewalt. Dennoch erfassten die Demonstrationen und Aufstände nach und nach viele Städte Syriens. Das Regime setzt für seinen Machterhalt auf brutale Eskalation. Willkürliche Verhaftungen, systematische Folterungen und die Ermordung von Zivilisten stehen an der Tagesordnung. Immer wieder greifen Armeeeinheiten ganze Städte an, die als Hochburgen der Opposition gelten. Bis Dezember 2011 starben nach Angaben der Vereinten Nationen mindestens 5400 Zivilisten durch Waffen der syrischen Sicherheitskräfte, Menschenrechtsorganisationen sprechen von über 8000 Toten bis März 2012.

Seit dem vergangenen Sommer gibt es zwei zivile Oppositionsbündnisse: den Syrischen Nationalrat und das Nationale Koordinationskomitee. Desertierte Soldaten gründeten zudem die Freie Syrische Armee, die sich als militärischer Arm der Opposition versteht. Seither kommt es vermehrt zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen der Freien Syrischen Armee und regulären Armeeeinheiten, zuletzt im Februar 2012 in der Stadt Homs. Assads Streitkräfte nahmen die Stadt wochenlang unter Dauerbeschuss, Bilder von Massakern an Frauen und Kindern gingen um die Welt. Ein Ende der Gewalt ist nicht absehbar. Der Westen hat keine Strategie, wie er mit den Umwälzungen des Arabischen Frühlings umgehen soll, China und Russland blockieren den UN-Sicherheitsrat.

NU: Herr Spyer, Sie waren Mitte März erst in Syrien. Was war Ihr Eindruck von der Situation im Land?

Jonathan Spyer: Ich bin vor wenigen Wochen in die syrischen Provinz Idleb im Nordwesten des Landes gereist. Mein Ziel war es, über die Freie Syrische Armee (FSA) zu schreiben, denn die Informationslage ist sehr schlecht. Ich reiste also nach Antakya im Süden der Türkei, wo die militärische Führung der FSA sitzt. Von dort aus überquerte ich mit Schmugglern die Berge nach Nordsyrien – ein ziemlich haarsträubendes Erlebnis. Ich verbrachte insgesamt eine Woche in Idleb. In dieser Region hat das Regime, zumindest damals, völlig aufgehört zu existieren. Straßensperren, Checkpoints vor den Städten, alles wurde von der FSA kontrolliert. An den Verwaltungsgebäuden weht die Flagge der Rebellen. Es war spannend und auch ermutigend, diese prekär befreite Region zu sehen. Mittlerweile haben die Regierungstruppen Idleb nahezu vollständig eingenommen.

Welche Entwicklung in Syrien halten Sie für wahrscheinlich? Wird sich das Regime Bashar al-Assads an der Macht halten können?

Im Augenblick sieht es so aus, als würde sich das Regime halten können, zumindest für einige Zeit. Die Situation ist ausgesprochen festgefahren: Das Regime kann zwar den Aufstand nicht vollständig unterdrücken, aber der Opposition fehlt eine klare, koordinierte Vorstellung davon, wie man das Regime stürzen soll. Solange es keine entscheidende Änderung dieser Situation gibt – vor allem durch internationale Unterstützung für die Rebellen – hat das Regime gute Chancen durchzukommen.

Wie bewerten Sie die oppositionellen Kräfte in Syrien?

Das größte Problem der syrischen Opposition ist ihre Zersplitterung. Wir sprechen hier nicht von einer einheitlichen Gruppe, es gibt viele unterschiedliche oppositionelle Bündnisse und Organisationen, die teilweise auch sehr unterschiedliche Ziele verfolgen. Die wichtigste Gruppe ist der Syrische Nationalrat mit Sitz in Istanbul, aber selbst innerhalb dieser Organisation gibt es keine einheitliche Linie. Das zweite große Problem ist die fehlende Verbindung der sich im Ausland befindlichen zivilen Opposition zur aufständischen Bevölkerung. In den vielen Interviews und Gesprächen, die ich in Syrien mit Aufständischen führte, wurde kein einziges Mal die äußere Opposition erwähnt – sie ist zu weit weg von der Realität der Revolution. Die militärische Opposition hingegen, die Freie Syrische Armee (FSA), spielt für die Menschen eine große Rolle. Aber auch sie ist keine einheitliche, zentral gesteuerte Organisation. Im Augenblick ist die FSA vielmehr ein Konglomerat aus lokalen Milizen, die eng mit lokalen Interessen und Clans verbunden sind. Ich halte die militärische Führung der FSA für sehr fähig, aber ohne internationale Hilfe wird sie kaum eine zentrale, einheitliche Struktur etablieren können.

Welche Strategie verfolgt das syrische Regime vor diesem Hintergrund?

Die Vorgehensweise des Regimes ist einfach und effektiv: Gezielte massive Gewaltausübung. Ich glaube, was wir in Homs gesehen haben, war die Vorlage für die zukünftige Strategie des Regimes: Ein Großaufgebot der Streitkräfte wird in einer bestimmten Gegend konzentriert und soll den Aufstand durch Terror und Gewalt demoralisieren und niederschlagen. Die meisten Todesopfer in Homs waren Zivilisten, denn als sich die Kämpfer der FSA längst zurückgezogen hatten, wurde die Stadt einfach weiter bombardiert und beschossen. Der Vorteil des Regimes ist, dass der Aufstand geografisch begrenzt ist und nicht im ganzen Land das gleiche Ausmaß erreicht hat. Man hofft also, den Aufstand Schritt für Schritt punktuell niederschlagen zu können. Bis dahin versucht das Regime, Zeit zu gewinnen und internationale Schritte hinauszuzögern.

Wie könnten solche Schritte aussehen? Welche Maßnahmen seitens des Westens wären notwendig, um das Blutvergießen zu beenden und eine demokratische Entwicklung Syriens zu unterstützen?

Erstens müsste man die FSA dabei unterstützen, sich als einheitliche, effektive Streitkraft zu etablieren. Der zweite wichtige Schritt ist schon schwieriger: Man müsste eine Pufferzone im Norden des Landes errichten, eine „Safe Zone“ für Flüchtlinge, von der aus auch die FSA organisiert werden könnte – ich denke etwa an die Rolle, die Bengasi in Libyen gespielt hat.

Halten Sie es für realistisch, dass es eine solche Unterstützung geben wird?

Ich bin nicht sehr optimistisch. Der UN-Sicherheitsrat wird sicher nicht in diese Richtung aktiv werden, Russland und China würden Vetos einlegen. Hätte die Idee einer „Weltgemeinschaft“ tatsächlich eine Bedeutung, dann würde man nicht die Augen verschließen vor dem, was da in Syrien passiert. Wir sprechen hier nicht von hundert oder zweihundert toten Zivilisten, sondern von über 8000 innerhalb eines Jahres. Aber die UNO ist offenbar nicht die richtige Institution, um zu Handeln. Es müsste also durch die NATO oder auf andere Weise passieren. Die USA sind aber im Augenblick nicht gerade daran interessiert, in einen neuen Konflikt im Nahen Osten verwickelt zu werden, zumindest nicht vor den Präsidentschaftswahlen im November.

Welche Haltung nimmt die Europäische Union im Umgang mit dem syrischen Regime ein?

Es gibt keinen gemeinsamen europäischen Standpunkt und es hat sehr lange gedauert, bis überhaupt Stellungnahmen zu hören waren. Die britische Regierung hatte zum Beispiel sehr enge Beziehungen mit Bashar al-Assad, und die Wahrnehmung von Assad vom reformistischen Modernisierer hin zum brutalen Diktator änderte sich erst nach und nach. Ich glaube aber, der Perspektivenwechsel setzt sich nun auch in Europa endlich durch.

Welche Konsequenzen hätte der Sturz von Assads Regime? Was würde das einerseits für Syrien, andererseits für Israel und die gesamte Region bedeuten?

Die Auswirkungen wären in jedem Fall für die ganze Region erheblich, denn Syrien ist – anders als etwa Gaddafis Libyen – kein isoliertes Land. Syrien ist Teil einer Reihe regionaler und globaler Allianzen, das ist auch der Grund, warum Assad sich überhaupt schon so lange an der Macht halten kann. Der wichtigste Verbündete ist die Islamische Republik Iran. Die beiden Länder schlossen 1980 ein Militärbündnis, also beinahe unmittelbar nach der islamischen Revolution, als der Iran weitgehend diplomatisch isoliert war. Heute ist Syrien der Junior Partner, Irans hegemoniale Ambitionen sind wohl der wichtigste strategische Faktor im gesamten Nahen Osten. Der Iran strebt nach Hegemonie in der Region und Syrien ist der einzige wirkliche verbündete arabische Staat. Die strategische Bedeutung ist auf regionaler Ebene enorm: Die irakische Regierung nähert sich zunehmend dem Iran an, im Libanon ist die iranische Stellvertreterorganisation Hisbollah an der Macht und mit einem pro-iranischen Syrien unter Assad ist Irans Einfluss bis zum Mittelmeer gesichert. Ein Sturz des syrischen Regimes hätte schwere machtpolitische Folgen für den Iran. Denn wer auch immer den Platz Assads einnehmen würde, wäre mit größter Wahrscheinlichkeit kein Verbündeter mehr. Vermutlich wären es sunnitische Kräfte, die sich viel eher den sunnitischen Machthabern der arabischen Welt anschließen würden wie etwa Saudi-Arabien, Katar oder Ägypten. Wie es nach Assad weitergehen würde, ist für die Menschen in Syrien natürlich die alles entscheidende Frage. Es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten, eine genaue Prognose ist unmöglich. Ein Regimewechsel in Syrien würde den Iran aber in jedem Fall schwächen und wäre aus der Sicht Israels und des Westens mit Sicherheit positiv.

Welche Auswirkungen hätte ein Regimewechsel für Hamas und Hisbollah?

Hamas ist derzeit sehr bemüht, sich aus der iranisch-syrischen Allianz zu lösen. Die sunnitische Hamas (es gibt keine nennenswerte Anzahl an schiitischen Palästinensern) war zwar lange Zeit Teil dieser Allianz, aber neben dem schiitischen Iran, der schiitischen Hisbollah und dem alevitischen Assad-Regime war sie sozusagen nie ein vollwertiges Mitglied. Seit dem Arabischen Frühling im vergangenen Jahr orientiert sich die Hamas stärker an der Muslimbruderschaft, die insbesondere in Ägypten einen enormen Machtzuwachs verzeichnen konnte. Hinzu kommt, dass die Aufstände in Syrien zu einem großen Teil Aufstände von sunnitischen Muslimen gegen ein alevitisches Regime sind, das mit unglaublicher Brutalität gegen die Mehrheitsbevölkerung vorgeht. Diese Situation wurde für die Hamas zunehmend unangenehm, sie hat sich daher inzwischen weitgehend aus Damaskus zurückgezogen. Der Sturz Assads wäre für sie keine Katastrophe mehr. Für Hisbollah ist der Erhalt des syrischen Regimes ungleich wichtiger, sie ist stark von Syrien abhängig. Syrien ist wichtiger Waffenlieferant und gleichzeitig strategisches Hinterland, wie im Libanonkrieg 2006 deutlich zu sehen war. Ohne syrische Unterstützung hätte Hisbollah im Libanon ihre Macht sicher nicht so massiv ausbauen können. Auch Hisbollah würde den Sturz Assads zwar überleben, ihre Position wäre aber deutlich schwächer.

Noch einmal zurück zu Ihrer Reise: Werden sich die Rebellenhochburgen wie Idleb gegen die syrische Armee behaupten können?

In Idleb habe ich mit vielen Leuten gesprochen, mit Kämpfern der FSA und anderen Oppositionellen. Ihnen ist völlig klar, dass sie einem Frontalangriff der regulären Syrischen Armee nicht standhalten könnten, aber bis dahin haben sie das Gebiet quasi vollständig befreit – und die Selbstverwaltung scheint gut zu funktionieren. Ich finde das sehr ermutigend und denke, hier sollte die internationale Gemeinschaft ansetzen. Die Provinz Idleb wäre bestens dafür geeignet, eine Pufferzone einzurichten. Je früher, desto besser für die Menschen in Syrien.

JONATHAN SPYER
geboren in London, lebt seit Jahren in Jerusalem. Er ist Senior Research Fellow am Global Research in International Affairs (GLORIA) Center des Inter- Disciplinary Center (IDC) in Herzliya mit Schwerpunkt Nahostpolitik. Der Autor des Buches „Transforming Fire: The Rise of the Israel-Islamist Conflict“ war als Berater mehrerer israelischer Regierungsstellen im Bereich International Affairs tätig und schreibt unter anderem für die Zeitungen „Guardian“, „Haaretz“ und „Jerusalem Post“.

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