Ein ganz gewöhnlicher Jude sein

Ihnen wird teils mit Feindseligkeit, dann wieder mit übertriebener Freundlichkeit begegnet, und doch wollen sie selbst oft nur eines sein: Bürger wie alle anderen auch. Der Schweizer Autor Charles Lewinsky zeichnet in „Ein ganz gewöhnlicher Jude“ einen beklemmend zutreffenden Befund der Befindlichkeit eines Juden in Deutschland. Unter der Regie von Oliver Hirschbiegel wurde der Stoff nun mit Ben Becker in der Hauptrolle verfilmt.
Von Alexia Weiss

Die Ausgangssituation ist eine sehr reale: ein Lehrer will seinen Schülern das Judentum näher bringen. Er wendet sich per Brief an die Hamburger Kultusgemeinde, um “einen jüdischen Mitbürger” einzuladen, an einer Unterrichtsstunde teilzunehmen. Die Gemeinde bittet den nach 1945 geborenen Emanuel Goldfarb, dieser Einladung nachzukommen. Doch der ist alles andere als begeistert. Goldfarb, in der Verfilmung eindrucksvoll dargestellt von Ben Becker, beginnt in einer fiktiven Antwort an den Pädagogen Gebhardt all jene Phänomene aufzurollen, denen Juden in Deutschland tagtäglich begegnen. “Sehen Sie, Herr Gebhardt, nur schon deshalb möchte ich Ihre freundliche Einladung nicht annehmen. Weil mich diese vorsichtigen Formulierungen immer gleich so aggressiv machen. „Mitglied Ihrer Religionsgemeinschaft“. „Jüdischer Mitbürger“. „Jude“ heißt das! Ganz einfach. Jude. Sie wollen mit Ihren Schülern drüber reden, und ihre Finger weigern sich, das Wort in den Computer zu tippen.” Immer wieder versucht Goldfarb, der Schreibmaschine eine negative Antwort an Gebhardt abzuringen, doch er kommt über die Anrede nicht hinaus. Der Versuch, das Niederzuschreibende zuvor verbal auszuformulieren, gerät zum rund eineinhalbstündigen Monolog, in den Lewinsky alle Facetten des ganz und gar nicht normalen Umgangs mit Juden, aber auch das Thema jüdische Identitätsfindung bravourös und ohne jegliche Längen eingearbeitet hat. Die packende Bilanz Goldfarbs über sein Leben als jüdischer Deutscher steht dabei stellvertretend für tausende andere, ähnlich verlaufene Schicksale. Wer nun glaubt, hier gehe es nur um Antisemitismus, irrt. Auch plakativ zur Schau gestellte Toleranz und erdrückender Philosemitismus entsprechen nicht dem, was sich der Autor respektive sein Protagonist Goldfarb von der Gesellschaft erwarten. Und Lewinsky zeigt auch auf: Die Geschichte ist nicht leicht zu überwinden. Juden und Nichtjuden haben einfach nicht die gleichen Geschichten. “Es ist nun mal so, dass die Leute auf meinen Familienfotos auf ganz andere Weise tot sind als die Leute auf Ihren”, erklärt Goldfarb dem (nicht anwesenden) Lehrer. “Umgebracht ist nun mal nicht dasselbe wie gestorben. Vergasung ist nicht dasselbe wie Lungenentzündung. Ich kann’s nicht ändern.” Juden werden bei diesem Film von einem Aha-Erlebnis zum nächsten gleiten, Nichtjuden die Empfindungen heute in Deutschland (oder Österreich) lebender Juden vielleicht etwas besser verstehen. Beispiel Risches. In der Erinnerung an seine Mutter – sie hat das KZ überlebt – fällt Emanuel Goldfarb vor allem dieser Begriff ein. “Das bisschen Lebenskraft, das ihr noch geblieben war, hatte sie alles für mich verbraucht. Eine Glucke mit nur einem Küken hat verdammt viel Zeit, sich darum Sorgen zu machen. Ich war nicht nur ihr einziger Sohn, ihr einziges Kind – ich war für sie der einzige Mensch auf der Welt. Der einzige jüdische Mensch. Der Stellvertreter für alle anderen. Was ich tat, hatten alle getan, und was man mir vorwerfen konnte, warf man uns allen vor. Wenn ich im Hof herumbolzte, trat das ganze jüdische Volk gegen den Fußball, und wenn der in einer Fensterscheibe landete, drohte immer gleich ein Pogrom. „Das macht Risches“, das war ihre Allzweckwaffe, ihr moralisches Flächenbombardement, der pädagogische Würgegriff, aus dem man sich nicht herauswinden konnte. „Das macht Risches“ Emanuel!” “Sie wissen nicht, was Risches ist?”, fragt Goldfarb den Pädagogen in seinem Monolog. “Doch, doch, Herr Gebhardt, Sie wissen es sehr gut. Man kann nicht in Deutschland leben und es nicht wissen. Sie kennen bloß das Wort nicht. Ein jüdisches Wort. Hakenkreuze auf Grabsteine geschmiert, das ist Risches. Eine eingeschlagene Scheibe im koscheren Restaurant, das ist Risches. Aber es geht auch kleiner. Herr Rosenfeld wird nicht in den Golfclub aufgenommen? Risches. Der Lehrer gibt mir eine schlechte Note? Risches. Meine Mutter erklärte die ganze Welt mit diesem Wort.” In dieser Passage geht es um Judenfeindlichkeit, meinen Sie? Vielleicht, am Rande. Was im Zentrum steht, ist allerdings der von vielen Juden im Nachkriegs-Deutschland so stark verspürte Druck, mit Perfektion all dem gegenüberzutreten, was zu einer neuerlichen Hölle führen könnte. “So dachte meine Mutter”, sinniert Goldfarb in dem Film also weiter. “Verfolgungswahn? Natürlich. Aber nach so viel Verfolgung ist ein bisschen Wahn doch nur verständlich. Das war ja auch nicht das Schlimme für mich. Alle Mütter haben Macken, und jüdische Mütter sind berühmt dafür. Nein, das Schlimme war … Ich war schuld. Ich, der Schuljunge Emanuel Goldfarb. Alles, was ein kleines bisschen weniger als perfekt an mir war, „machte Risches“, gab den anderen eine Handhabe. Und die anderen waren überall.” Wird Goldfarb schließlich der Bitte des Lehrers doch nachkommen? Lewinsky macht es bis zum Schluss spannend. Grimme-Preis-Träger Hirschbiegel wiederum – er sorgte zuletzt mit seinem Film “Der Untergang”, einer Darstellung der letzten Tage im Führer-Bunker, für Kontroversen – hat in seiner Regiearbeit in wohltuender Weise auf das Zeichnen gängiger Klischees verzichtet, was sich schon allein in der Besetzung des Juden Goldfarb mit dem hellhäutigen und -haarigen Ben Becker zeigt. Ja, nicht alle Juden haben dunkle Haare und lange Nasen. Und Becker verkörpert die Rolle authentisch – von der ersten bis zur letzten Minute. “Ein ganz gewöhnlicher Jude” wird öffentlich erstmals am 25. September beim Filmfest Hamburg gezeigt. In die Kinos soll der von ARD und NDR in Auftrag gegebene und von der Multimedia Film & Fernsehproduktion GmBH produzierte Film Anfang 2006 kommen. Wer schon vorher hineinschnuppern möchte: Das Buch zum Film ist bereits seit Ende August im Handel erhältlich, das Hörbuch erscheint erst Mitte Jänner 2006. Zur Person: Charles Lewinsky wurde 1946 in Zürich geboren. Er studierte Germanistik und Theaterwissenschaft und arbeitete an diversen Bühnen als Dramaturg und Regisseur, bevor er für einige Jahre als Redakteur zum Fernsehen wechselte. Seit 1980 ist er freier Autor. Neben zahlreichen Fernsehsendungen und Serien schrieb er eine ganze Reihe von Büchern, darunter “Hitler auf dem Rütli”, die fiktionale Geschichte des Anschlusses der Schweiz an das Dritte Reich, und die beiden Fernseh-Satiren “Mattscheibe” und “Talkshow”. Sein letzter Roman “Johannistag” wurde mit dem Preis der Schiller­stiftung ausgezeichnet. Lewinsky ist auch Autor einer Reihe von Theaterstücken (u.a. “Der gute Doktor Guillotin”). Mit der österreichischen Erstaufführung von “Freunde, das Leben ist lebenswert” wurde vergangenen April das neue stadtTheater in Wien eröffnet. Das Stück zeigt den erniedrigenden und schließlich vernichtenden Umgang des NS-Regimes mit jüdischen Künstlern.

Protagonisten sind Hermann Leopoldi, Fritz Löhner-Beda und Fritz Grünbaum.

Charles Lewinsky: “Ein ganz gewöhnlicher Jude”, Hamburg August 2005, Rotbuch Taschenbuch, 100 Seiten, Preis: 9 Euro, ISBN 3-434-54524-7

Hörbuch “Ein ganz gewöhnlicher Jude”, Autor: Charles Lewinsky, Sprecher: Ben Becker, Inhalt: CD (79 Minuten) und 8-seitiges Booklet, Hamburg Jänner 2006, Hoffmann und Campe Verlag, Preis: 15,50 Euro, ISBN 3-455-30424-9

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